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3.2 Ein Mann von Taten
ОглавлениеSieben Tage waren vergangen, seitdem Bajo den Wald verlassen hatte. Er blieb an dem Ort, wo er angekommen war, um sich ein wenig zu erholen. Seine Wunde am Kopf war recht schnell verheilt und damit verschwanden die Kopfschmerzen ebenfalls. Auch die Kraft- und Wukoübungen hatte er wieder aufgenommen, und er fühlte, dass seine ursprüngliche Lebenskraft zurückkehrte. Wenn Schiffe vorbeifuhren, verbarg Bajo sich, denn bevor er sich nicht komplett erneuert fühlte, wollte er niemandem begegnen. Am Morgen des achten Tages war es dann soweit. Ein warmer Frühsommertag kündigte sich an und Bajo spürte, dass es Zeit war, aufzubrechen. Er hatte sich in der Zwischenzeit ein kleines Floß gebaut, auf das er nun alle seine Sachen lud. Splitternackt ging es jetzt schwimmend durch den Fluss, an einem Lederriemen das Floß ziehend. Drüben angekommen zog er sich wieder an und machte sich auf zu dem Weg, der nach Schichtstadt führte. Bajo musste nicht weit gehen und schon fand er sich auf einer breiten befestigten Straße wieder. Fuhrwerke mit Handelsgütern, zweirädrige Karren mit hochgestapelten Waren, einzelne Wanderer oder auch ganze Gruppen kamen ihm entgegen oder überholten ihn und wenn es angebracht war, grüßte er immer freundlich. Die vielen Menschen waren nach der langen Zeit im Wald ungewohnt für ihn, aber Bajo fing an, es zu genießen. Er studierte alles und jeden ganz ausführlich und genau, denn im Hinterkopf hatte er immer seine Aufgabe, Gefährten zu finden und das konnte er ja nur, wenn er auf Zeichen seiner Umgebung achtete. In der Ferne erkannte er jetzt die Stadt. Sie klebte wie ein riesiges Rechteck am Berg und Bajo brannte darauf, sie für sich zu entdecken. Als er sie fast erreicht hatte, setzte er sich erst einmal auf ein paar Felsen abseits der Straße, um sich ein Bild von all dem Treiben zu machen.
Die Straße, auf der er gekommen war, wurde immer breiter und endete vor dem großen Stadttor mit zwei mächtigen Türen, von denen eine offen stand. Davor hatte sich eine lange Schlange mit Leuten gebildet, die offenbar hineinwollten. Links, in einigem Abstand, an der großen Straße, stand ein Gasthaus mit einer Taverne und einigen Ställen dahinter. Anscheinend konnten hier Handelsreisende und Fuhrmänner mit ihren Rössern eine Erfrischung oder ein Nachtlager finden. Noch weiter dahinter, ganz weit links, direkt vor der Wehrmauer der Stadt, lag der Hafen. Er war natürlich längst nicht so groß wie der in Kontoria, aber für den Personenverkehr und einige Waren reichte er wohl. Der Lärm, den man hörte, kam vom bunten Treiben eines gewaltigen Marktplatzes außerhalb vor der Mauer rechts von der großen Straße. Er zog sich, mit endlosen Reihen von Ständen, im Grunde auf die ganze Breite der Stadt hin. Noch ein ganzes Stück weiter rechts konnte Bajo unzählige Barracken und Bretterbuden ausmachen, die in den Hügeln verstreut waren. Oberhalb davon schienen etliche Mineneingänge zu sein, vor denen eine Menge Soldaten standen. „Das sind mit Sicherheit Gold- oder Edelsteinminen“, überlegte Bajo, „sonst wären die nicht so stark bewacht“. Die Stadt selbst machte ihrem Namen alle Ehre, es sah tatsächlich so aus, als hätte man die Häuserreihen aufeinandergestapelt. In der höchsten Schicht lagen die Palastanlagen, welche auch von weitem einen wunderschönen Eindruck machten. Links der Stadt schließlich sah man große Wasserfälle, aus denen auch der Fluss hervorging.
„Na, dann auf ins Getümmel“, rief Bajo und kehrte zur großen Straße zurück. Am Ende der Menschenschlange angekommen, fragte er den letzten, der ihm nicht aus Likien zu stammen schien, ob er seine Sprache sprechen würde. Es war tatsächlich jemand aus Kornburg und Bajo fragte ihn, warum die Leute hier warten mussten. Dieser antwortete: „Na, du warst wohl noch nie in Schichtstadt, was? Hier kommt man nur mit Papieren rein!“ „Ah, und wo bekommt man Papiere?“, wollte Bajo wissen. „Das kommt auf dein Anliegen an. Ob du zu Besuch bist oder Arbeit verrichten willst. Ich habe eine Einladung meines Vetters, der, Gott sei es gedankt, ein Vermögen gemacht hat und nun in der Stadt residieren darf. Benötigt jemand deine Dienste, lässt er dir Arbeitspapiere zukommen. Nichts geht hier ohne Einlassdokumente!“
Bajo bedankte sich und drehte enttäuscht wieder um. Jetzt stand er da, das volle Leben um sich herum und er hatte keinen Plan. Seit langer Zeit war Bajo mal wieder richtig niedergeschlagen: Wie sollte er seine Aufgabe angehen, wo waren die Zeichen?
Sein Magen knurrte und er entschloss sich, über den Markt zu gehen und etwas Leckeres zu essen zu kaufen. Er hatte ja seit Tagen nur gegrillten Fisch und ein paar Pilze gegessen und hatte jetzt richtigen Kohldampf auf Fleisch, Brot und Gemüse. Schon gleich am ersten Essensstand, wo ein Spanferkel gegrillt und dazu Mais mit gerösteten Kartoffelscheiben gereicht wurde, schlug er zu. An dem Stand gab es eine lange Holzbank mit einem ausgestreckten Tisch davor, wo man die Speisen verzehren konnte. Bajo hatte die große Portion geordert und genoss sein Mahl in vollen Zügen. In einem kurzen Anflug der Gier erwog er, einen Krug Met zu bestellen, doch er wusste, dass die eintretende Glückseligkeit nur von kurzer Dauer sein und eine lange, elendige Phase mit Selbstvorwürfen folgen würde. So gönnte er sich einen kalten Früchtetee und beobachtete dabei die Leute, die an ihm vorbeibummelten. Es war ein sehr gemischtes Völkchen, das sich da herumtrieb; aus aller Herren Länder und ganz offensichtlich mit unterschiedlichsten Anliegen unterwegs. So einige trugen Körbe mit Speisen wie Obst, Gemüse, Fleisch, Honig und Kräutern sowie Krüge mit Met, Wein und Säften. Bajo tippte darauf, dass es, auch vom Aussehen her, Bedienstete aus der Stadt sein mussten, die für ihre Herrschaften einkauften. Andere sahen so aus, als würden sie sich nur die Zeit vertreiben, bis sie der nächste Transport nach sonst wohin rief. Auch einige hagere und heruntergekommene Minenarbeiter waren unter ihnen, die unverhohlen und gierig auf das Essen der anderen starrten. Aber es gab auch gut gekleidete Leute, die wohl auf der Suche nach exklusiven, neuen oder kuriosen Dingen durch die Gänge streiften. Bajo sah Frauen und Männer verschiedener Rassen, groß und klein, hübsch und hässlich, arm und reich, freundlich und mürrisch. Und so interessant es auch war, sie zu beobachten - ein Zeichen, das konnte er nicht erkennen.
Noch eine Weile zog Bajo über den Markt, bestaunte die Waren und Speisen, die angeboten wurden, oder erheiterte sich an den Gauklern, Narren und Dompteuren. Nach dem üppigen Mahl überkam ihn der Heißhunger auf etwas Süßes und er kostete an einem Stand von Pfannkuchenstückchen mit Brombeermarmelade. Nachdem Bajo auch davon eine riesige Portion verschlungen und seit Ewigkeiten mal wieder einen Muggefugg getrunken hatte, was wirklich eine Wohltat war, machte ihn das Sättigungsgefühl, trotz des Kaffees, schlagartig müde. Auch die vielen Eindrücke nach der langen Abgeschiedenheit hatten ihn geschafft und so begab er sich zum großen Gasthaus an der Straße.
„Was kann ich für den Herrn denn Schönes tun?“, fragte der Wirt am Tresen in gebrochenem Mittenländisch, denn man konnte Bajo wohl ansehen, woher er stammte. „Einen schönen Krug Met oder ein Chili-Huhn nach likischer Art von der Tageskarte vielleicht?“, bot der Mann weiter an. „Nein danke, sehr freundlich, aber ich wollte ein paar Tage übernachten, was kostet das denn so?“ „Die Nacht im Gruppenraum ein Kupferstück, fünf Nächte für vier und sieben für fünf Kupferstücke. Wenn der Herr es etwas angenehmer wünscht, habe ich auch ein einfaches Einzelzimmer, drei Nächte für einen Silberling oder sieben Nächte für zwei. Ein großes Zimmer mit Kanapee gibt es nur ab sieben Nächte für ein Goldstück. Ein gutes Frühstück und ein reichhaltiges Abendbrot sind darin inbegriffen“, erklärte der Wirt und lächelte Bajo erwartungsvoll an. Dieser geriet ins Grübeln, eigentlich wollte er so schnell wie möglich in die Stadt kommen, aber so ein großes Zimmer für sieben Tage war schon verlockend. Auf der anderen Seite konnte er morgens ohnehin nicht viel essen und wenn er, mit dem Marktplatz, schon so ein tolles Angebot der verschiedensten Speisen vor der Tür hatte, warum sollte er dann immer in dem Gasthaus essen?
„Ich nehme ein einfaches Zimmer für drei Tage für einen Silberling und wenn es geht, mit der Option auf sieben Tage für zwei“, entschied er sich am Ende. „Eine gute Wahl, mein Herr. Und wenn Ihr noch länger bleiben müsst, werden wir uns schon über einen guten Preis einigen“, versicherte der Wirt hocherfreut, ließ sich den Silberling geben und zeigte Bajo verschiedene Zimmer. Eines mit Blick auf die Straße und den Markt, abseits der Ställe, war genau das richtige. Die Räumlichkeiten schienen sauber und das Bett war angenehm.
Mit der vorrübergehenden Bleibe wich auch eine gewisse Unruhe und Unsicherheit von Bajo, er fühlte sich geradezu im neuen Abenteuer angekommen und legte sich zufrieden auf sein Nachtlager, um ein Mittagsschläfchen zu halten. Als er nachmittags aufwachte, war er noch etwas aufgewühlt, denn in seinen Träumen waren Malvor und ein paar andere Personen vorgekommen und obwohl es wieder sehr real gewesen war, hatte Bajo bereits nach kurzer Zeit alles wieder vergessen. Es war an der Zeit, den Schnatterwürmern ihre Lieblingsspeise anzubieten und so begrüßte Bajo kurz darauf Nela und Neli. Er erzählte ihnen, was in der Zwischenzeit passiert war und klagte ihnen ein wenig sein Leid, dass er nicht wusste, wie er den ersten Gefährten finden sollte. „Mach dich nicht verrückt, mein Lieber“, tröstete Nela ihn. „Habe einfach Geduld und mache alles, was du tust, sehr sorgfältig. Und wenn du aufmerksam bist, wirst du schon wissen, wenn es soweit ist.“ Bajo seufzte: „Da hast du wohl recht, Nela, aber ich bin eben einfach ein ungeduldiger Mensch. Wenn es euch nichts ausmacht, dann werde ich euch eine Weile in meinem Ohr lassen, wenn ich rausgehe, vielleicht schnappe ich ja etwas auf, was mir weiterhelfen kann.“ „Ist gut, wir melden uns schon, wenn wir heim wollen, aber so lange haben wir ja eine Beschäftigung, hihi“, kiekste Neli schmatzend. So machte Bajo sich frisch und ging hinaus, um die Gegend zu inspizieren, denn für das Abendbrot war es noch viel zu früh. Auf seinen Erkundungsrundgang nahm er nur sein Kristallmesser und die Lederhülle mitsamt dem Wuko mit, welche er sich mit dem Riemen quer über seine Schultern hängte. Zunächst schaute sich Bajo die Herberge und die Stallungen genauer an. Es war ein Kommen und Gehen der Handelsreisenden und Fuhrmänner, die Pferde wurden versorgt, gefüttert und beschlagen sowie Kutschen und Karren beim angeschlossenen Schmied repariert und gewartet.
Anschließend machte Bajo einen großen Bogen um den Marktplatz, um über einen Feldweg zu den Holzhütten der Bergleute zu gelangen. Die Barracken waren ziemlich heruntergekommen, hier und da hing Wäsche zum Trocknen. Aber es hielt sich kein Mensch dort auf, die Arbeiter mussten alle in den Minen sein. In der Absicht, einen besseren Blick auf die Stollen zu erhaschen, lief Bajo ein Stück einen Hügel hinauf. Es waren einige Eingänge zu sehen und ein kleines Abfertigungsgebäude, alles von Soldaten bewacht. Vor dem Gebäude wurde gerade ein Handkarren beladen, welcher dann mit einer Eskorte den Weg zum Stadttor einschlug. Nun kam eine Reihe von Männern aus einem der Stollen heraus, die sich sogleich auf den Weg zu den Holzhütten machten. Am Eingang der kleinen Siedlung stand ein riesiger Trog mit Wasser, in dem sich die Bergleute erst einmal frisch machten. Anschließend verstreuten sie sich in Richtung der einzelnen Baracken und einer von ihnen kam geradewegs zu einem Verschlag in Bajos Nähe. „Na, was lungerst du denn hier rum? Suchst du etwa Arbeit? Dann musst du zum Hauptmann, oben an der Hütte. Frischfleisch können die immer gebrauchen! Hahahaha…“, sagte der Mann und lachte aus vollem Hals. Zum einen über seine Worte, zum anderen aber wohl auch, weil er sich freute, endlich Feierabend zu haben und mal ein anderes Gesicht zu sehen. Obwohl Bajo dank der Schnatterwürmer in seinem Ohr ja wusste, was der Bergarbeiter da gerade gesagt hatte, tat er so, als hätte er nichts verstanden, zuckte mit den Schultern und lächelte freundlich. Der Mann hatte nur noch wenige Zähne, seine Haut war runzelig, die Haare fettig und seine Statur hager und drahtig. Offenbar musste er wohl schon seit Jahren dort oben schuften, und das nur, damit andere reich wurden. Bajo hatte von Malvor gelernt, niemanden zu bemitleiden: „Wenn du jemanden bemitleidest, dann stellst du dich über ihn. Aber mit welchem Recht? Du kannst nicht wissen, ob derjenige nicht vielleicht glücklicher ist als du selbst!“ hatte dieser ihm eingeschärft. Und Bajo beherzigte auch das, was der Zauberer ihm beigebracht hatte, aber so ein Leben hätte er keinen Tag aushalten können. Noch ein freundlicher Gruß und schnell machte sich Bajo lieber auf in Richtung Markt.
Auf welche Personen oder Tiere er sich auch konzentrierte, er konnte sie alle genau verstehen. Wie das vonstattenging, war für ihn unvorstellbar, es war eben ein Wunder und er genoss es. Zwei Maliken, die an einem Stand Schalen mit Reis und dazu verschiedene Fleischsoßen verkauften, sprachen Bajo auf sehr gebrochenem Mittenländisch an: „Hey, gute Mann, woolen nicht kosten lekere Reistopf? Sehr gutt, sehr gühnstig!“ Da Bajo noch keinen Hunger hatte, winkte er dankend ab. „Na, dann geh und friss deine Kartoffeln, du Ungläubiger!“, meckerte der andere auf Likisch und grinste gespielt freundlich. Bajo wollte schon darauf reagieren, doch das verkniff er sich im letzten Moment und so grinste er genauso gekünstelt zurück. Das war ihm eine Warnung. Er durfte nicht durch sein Verhalten verraten, dass er andere Sprachen verstand, denn wie hätte er erklären sollen, dass er die Sprache zwar verstehen, sie aber nicht sprechen konnte? Auf keinen Fall durfte jemand herausfinden, dass er Schnatterwürmer bei sich hatte. Also stellte Bajo sich selbst die Aufgabe, auf seinem Rundgang gezielt solche Situationen zu suchen und dabei sein Verhalten zu schulen. Da sich Menschen aus vielen Ländern auf dem Markt tummelten, hörte er neben Likisch auch Marabo, Concorsi, Altthalarisch und Fersgol, die Sprache der Eisländer aus Trihaven. Neben Beleidigungen oder Flüchen, die er sich beim Nichtkauf anhören musste, erklangen jedoch manchmal auch Komplimente oder neckische Sprüche von netten Frauen, die er dann leider ebenfalls überhören musste. Nebenbei bekam er so einiges über das Leben und Arbeiten der Marktleute mit, von denen die meisten aus den umliegenden Dörfern kamen und nur wenige aus der Stadt. Hier und da schnappte Bajo auch eine Unterhaltung von herrschaftlichen, reichen Stadtbewohnern auf, eher jünger und anscheinend nur zum Zeitvertreib unterwegs. Es war der übliche Tratsch, wer mit wem was hatte, welche Dinge der letzte Schrei waren oder welche raffinierten Gerichte man hatte zubereiten lassen. An den Ständen mit Tieren ging er allerdings immer schnell vorbei, denn die armen Viecher klagten alle über ihr Leid, wenn sie nicht gerade schliefen.
Bajo war jetzt schon fünf Tage in seiner Herberge und hatte die Option ‚zwei Silberlinge für sieben Tage‘ gezogen. Mittlerweile kannte er fast jeden Stand auf dem Markt, hatte mit jedem Bediensteten des Gasthauses gesprochen und sogar die weitere Umgebung erkundet. Langsam fing er an zu zweifeln, ob er überhaupt am richtigen Ort war, um einen Gefährten zu finden. Doch er hatte auch nicht die leiseste Ahnung, wohin er sonst gehen sollte und so machte er sich auf, mal wieder über den Markt zu schlendern. Dieses Mal jedoch setzte Bajo die Schnatterwürmer nicht in sein Ohr und er strengte sich auch nicht an, alles und jeden genau zu begutachten. Er ließ sich ganz einfach einmal treiben, versuchte, an nichts Bestimmtes zu denken und genoss den schönen, sonnigen Vormittag.
Seine Füße trugen Bajo wieder zurück zur Straße, an einen weiter höher gelegenen Ausgang des Marktes, da erlitt plötzlich ein Zweispänner einen Radbruch und kam mit mächtigem Krach und Gewieher direkt vor ihm zum Stehen. Fast im gleichen Moment konnte man ein Donnergrollen vernehmen und als Bajo den Kopf drehte, sah er dunkle Wolken im Norden aufziehen. Und als dann noch direkt neben ihm eine Frau begeistert über eine kunstvoll verzierte Vase am Stand eines Händlers mit schriller Stimme kreischte: „Ah, ja, das ist es doch, was ich gesucht habe!“, und das auch noch auf Mittenländisch, war Bajo klar, dass dies eine besondere Situation war. Merkwürdigerweise herrschte gerade überhaupt kein Verkehr, wo doch sonst ständig irgendeine Ware transportiert wurde. Der Mann auf dem Kutschbock sprang mit einem eleganten Satz herunter und kam direkt auf Bajo zu. Von der Kleidung her ein Malike, kräftig gebaut, groß, dunkles volles leicht lockiges Haar und freundlich lächelnd. Er hatte wohl gleich erkannt, woher Bajo kam und fragte in sehr gutem Mittenländisch: „Werter Herr, würdet ihr so gütig sein und auf meine Kutsche aufpassen, während ich Hilfe hole? Ich werde mich auch erkenntlich zeigen.“ Rasch erwiderte Bajo: „Ja natürlich, sehr gerne! Dort hinten bei der Herberge sind auch Stallungen und ein Schmied Namens Haroff. Sagen Sie ihm, dass Sie von Bajo kommen und dass es eilt.“ „So, Bajo also… Ich bin Topao!“, entgegnete der freundliche Mann und gab Bajo die Hand. Während dieser Topao Hilfe holte, führte sich Bajo noch einmal vor Augen, was da gerade geschehen war. Nicht nur hatten die fast zeitgleichen, seltsamen Ereignisse ihn getroffen wie ein Schlag, nein, auch Topao war ihm gleich so sympathisch und vertraut, als würde er ihn schon lange kennen. Ob er sein erster Gefährte sein konnte? Bajo lief aufgeregt neben der verunglückten Kutsche hin und her. Wenn es tatsächlich so war, wie sollte er jetzt weiter vorgehen? Er hatte sich über einen solchen Fall noch gar keine Gedanken gemacht. Sollte er ihn direkt ansprechen? Sollte er so tun, als wäre nichts und ihn aus der Ferne beobachten? Nach langem Überlegen entschloss er sich, den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen, denn genau so war es ja überhaupt auch erst zu der Begegnung gekommen.
Der Verkehr auf der Straße hatte wieder zugenommen und schon bald kamen Topao, der Schmied und ein Gehilfe mit einem Handkarren zurück. Auf diesem befanden sich ein Ersatzrad und Werkzeug und alle fingen an, gemeinsam den Schaden zu reparieren. Nachdem das Werk vollendet und der Schmied mit seinem Gehilfen wieder losgezogen war, wandte sich Topao augenzwinkernd an Bajo: „Da habe ich wohl den Richtigen zum richtigen Zeitpunkt getroffen. Ich werde mich jetzt auf in die Stadt machen und meine Sachen unterbringen. Wenn du einverstanden bist, dann komme ich heute Nachmittag zurück und lade dich zu einer Kleinigkeit ein, was auch immer du magst. Wenn wir Glück haben, ist das Gewitter dann auch vorübergezogen“, schlug er vor und Bajo willigte fröhlich ein: „Das hört sich gut an, Topao, du kannst mich an der Herberge abholen, ich freue mich schon!“
Glücklich kehrte Bajo zurück auf sein Zimmer. Am Fenster stehend beobachtete er, wie das leichte Gewitter vorbeizog. Da aber wieder tausend Fragen und Gedanken auf ihn einstürzten, nahm er sein Wuko und ging hinaus hinter die Stallungen. Dort hatte Bajo einen kleinen Platz gefunden, wo er ungestört üben konnte. Er wollte lieber noch einmal Kraft tanken und sich nicht das Hirn zermürben, bevor er sich mit Topao traf. Der Regen hatte schon aufgehört und Bajo absolvierte fast die ganze Palette der Kraft- und Wukoübungen, die er konnte. Danach fühlte er sich wieder ausgeglichen, machte sich im kleinen Badehaus frisch und wechselte die Unterwäsche. Nun kam er sich wie neugeboren vor und schlenderte zum Eingang. Just in dem Moment trat Topao durch die Tür: „Hey Bajo, mein Retter! Wie schaut es aus, wohin wollen wir gehen?“ Die temperamentvolle, sichere und freundliche Art von Topaos Auftreten hatte Bajo von Anfang an beeindruckt. Der Mann war Lebensfreude pur und schien voller Tatendrang zu sein. „Ich kenne auf dem Markt einen Stand, da gibt es tollen Kaffee und leckere Backwaren“, empfahl Bajo, „Er ist auf einer Ecke, wo man sitzen und Leute beobachten kann.“ „Na, das hört sich doch wunderbar an!“, stimmte Topao zu, wobei er sich bei Bajo einhakte, als wäre dieser die Dame seines Herzens, die er nun aus der Taverne führte. Dies tat er so übertrieben und schwungvoll, dass beide lachen mussten.
Die Gänge zwischen den Marktständen waren übermäßig voll, sodass sie auf dem Weg nicht viel redeten. Es wurde gerade ein guter Platz frei, als sie ankamen und Bajo orderte gleich einen concorsischen Lechie und ein paar Vanille-Kokos-Plätzchen. Als auch Topao für sich einen doppelten Schwarzen und ein Stück Waldbeerenkuchen bestellt hatte, blickte sogar die wärmende Sonne wieder durch die Wolken. „Du hast recht, ein idealer Platz, um sich das Treiben auf dem Markt anzuschauen“, eröffnete Topao das Gespräch, „Und was machst du, wenn du mal keine Leute beobachtest?“ Darauf hatte Bajo sich schon vorbereitet. Da er ja niemanden von seiner wahren Mission erzählen konnte, musste er eine andere Geschichte parat haben: „Ich bin im Auftrag eines kleinen Händlers aus Kontoria unterwegs. Er handelt mit edlem Goldschmuck, Pelzen und gelegentlich auch mit Gewürzen. Ich suche Händler in Malikien, die sich auf dauerhafte Geschäftsbeziehungen einlassen wollen. Außerdem halte ich Ausschau nach geeigneten und günstigen Transporteuren.“ Bajo ließ jetzt all sein Wissen, das er sich im Hauptkontor angeeignet hatte, in sein imaginäres Leben als rechte Hand eines Kaufmannes einfließen. Er erzählte von kuriosen Ereignissen, wie man gute Ware erkannte und was man alles bei der Abwicklung eines Geschäfts beachten musste. Am Ende glaubte er seine Geschichte bald selbst. Topao war ein aufmerksamer Zuhörer und gab zu, nicht so viel von solch Dingen zu verstehen, da er doch eher ein Mann von Taten war. „Und auf einmal kracht deine Kutsche vor meine Füße, wie aus dem Nichts!“, endete Bajo seinen Vortrag.
„Ich bin selbst sehr verwundert, dass das passieren konnte“, erwiderte Topao, „Ich kenne mich mit Kutschen gut aus und achte penibel darauf, dass alles gut in Schuss ist. Es ist mir ein Rätsel, wie das Rad so zerbrechen konnte.“ „Und warum bist du nach Schichtstadt gekommen“, fragte Bajo neugierig. Topao erzählte: „Von Beruf aus bin ich Schreiner in meiner Heimatstadt Mondaha, aber mir liegen eigentlich alle handwerklichen Dinge gut. Deshalb hat mich mein Vetter Ireb hierhergebeten, er will sein Haus umbauen und neugestalten lassen. Er wohnt in der vierten Schicht, denn er ist mit Meliva verheiratet, der Tochter von Karamin dem Weisen, Herrscher von Mondaha und ganz Malikien. In der vierten Schicht dürfen nur Könige, Fürsten und die obersten Edelmänner aus anderen Ländern ihre Residenz haben. Komm, lass uns ein Stück den Hügel hinaufgehen, ich brauche Bewegung und von dort aus kann ich dir Schichtstadt ein wenig erklären.“