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3.1 Aufbruch nach Osten
Оглавление3. Kapitel - Die Suche beginnt
Die Flammen loderten recht hoch, die anderen Bäume aber standen weit genug abseits Hütte, um Feuer fangen zu können. Von der anderen Seite der Brücke sah Bajo zu, wie der alte Baumstumpf brannte. Malvor hatte ihm schon vor längerer Zeit gesagt, dass er alles verbrennen solle, sobald der Zauberer gegangen wäre. Bajo hatte es versprechen müssen, denn man sollte keine Spuren hinterlassen, wenn man eine Gegend für immer verließ. Eigentlich hätte er weinen wollen, aber er fühlte einfach nichts. Es war, als wäre er eine Hülle, die zwar noch wahrnahm, aber nichts mehr verarbeiten konnte. Als er sicher war, dass von dem lodernden Feuer keine eventuelle Gefahr mehr ausgehen konnte, wandte sich Bajo Richtung Osten, so, wie ihm Malvor auch dies aufgetragen hatte.
Etwa nach zwei Stunden begann für Bajo neues Terrain und er machte eine Rast. Es war Nachmittag und er überlegte, ob er nicht schon hier das Nachtlager bereiten sollte, immerhin fühlte er sich bis dahin sicher. Andererseits wusste er aber, dass es noch weit bis zur Waldgrenze im Osten war. Und wie er durch die drei Ringe kommen sollte, war ihm auch noch nicht klar. Unbewusst fasste er sich an die Brust und fühlte die Schote. Da kam ihm die Idee, die Schnatterwürmer zu benutzen. Bajo steckte sich das dünne Ende ins Ohr und wartete kurz, bis es kitzelte. Er wartete weiter, doch nichts geschah. Allmählich kam Bajo ins Grübeln darüber, was wohl der Trick sei, die Schnatterwürmer zum Reden zu bringen. Da ihm nichts wirklich Gescheites einfiel, fing er einfach an, laut zu sprechen: „Hallo, Schnatterwürmer, könnt ihr mich hören?“ „Bestimmt besser als du dich selbst, hihihi“, erklang die Piepsstimme, die er schon kannte. „Nett, dass du uns erstmal hast essen lassen, was können wir für dich tun?“, ergänzte die andere Stimme. „Oh Mann, da bin ich aber froh, dass ihr mit mir sprecht!“, freute sich Bajo. „Ich brauche eure Hilfe, ich muss Richtung Osten den Wald verlassen, aber ich weiß nicht, wo ich das Nachtlager aufschlagen kann. Es sind allerlei Raubtiere und Ungeheuer in diesem Wald, denen will ich nicht gerne als Abendbrot dienen“. Die erste Stimme zirpte: „Das können wir dir leider auch nicht sagen. Aber wir können dir helfen, die Tiere zu verstehen. Am besten, du suchst ein Tier, das nicht flüchtet und in deiner Nähe bleibt. Und dann horchst du einfach, vielleicht bekommst du einen Hinweis.“ Suchend schaute Bajo sich um, es war nicht einmal ein Vogel zu sehen. So ging er zunächst ein Stück weiter. Nach einiger Zeit hörte er einen Vogel trällern und näherte sich ihm vorsichtig. Er kam sich schon etwas komisch vor, aber eine echte Wahl hatte er ja nicht und so hob Bajo den Kopf und horchte genau hin. „Oh, wie komme ich bloß an die schöne junge Braut da hinten ran? Ich sollte am besten eines meiner Lieder vortragen, dann wird sie bestimmt beeindruckt sein. Hauptsache, so ein Blödmann wie der da unten stört mich nicht dabei“, der Vogel flog weiter und Bajo war enttäuscht. „Nennen eigentlich alle Vögel uns Menschen Blödmänner?“, fragte er die Schnatterwürmer. Die erste Stimme kicherte: „Na ja, eventuell ist das ein Übersetzungsfehler, hahaha…hihihi.“ „Na komm, veralbere unseren Freund nicht, immerhin bekommen wir bei ihm eine köstliche Mahlzeit. Gib nicht auf Bajo, versuche es weiter! Am besten, du findest ein anderes Tier, eines, das die gleichen Feinde hat wie du“, schlug der zweite Schnatterwurm vor. Bajo wanderte wieder weiter in seine Richtung. Nach einiger Zeit bemerkte er die typischen Rufe von Waldaffen. Erfreut lief er ihren Lauten entgegen und lauschte erneut nach oben: „Oh, schaut mal, da unten, ist das auch einer wie wir?“, klang es herab. Ein weiterer Affe stellte klar: „Nie und nimmer, guckt euch doch mal das komische Fell an. Und wie der aussieht, der kann ja noch nicht einmal klettern.“ „Na, dann wird er bald von einem Waldreißer erwischt werden. Da kann man mal wieder sehen, wie schlau wir sind, dass wir auf den Bäumen schlafen, wo uns keiner erwischen kann“, brüstete sich der Kumpane der beiden und der erste pflichtete ihm bei: „Du sagst es, mein Lieber! Und unsere neuen Schlafplätze sind um Längen besser als die an der alten Lichtung, wo wir früher gehaust haben.“
Das war das Stichwort für Bajo. Na klar, auf den Bäumen war man sicher! Er ging weiter und hoffte, zu den besagten alten Schlafplätzen zu gelangen. Tatsächlich fand Bajo die Stelle und an dieser einen dicken Baum mit einer Gabelung, in der sich die alte Schlafmulde eines Affen befand. Mit Sack und Pack hochzuklettern, erwies sich als schwierig, doch am Ende war es die Mühe wert. Er hatte eine tolle Aussicht und etwas trockenes Moos zur Polsterung lag auch noch in der Kuhle. Bajo fand es prima, die Tiere zu verstehen und fragte seine beiden Gäste: „Sagt mal, habt ihr beiden eigentlich auch Namen?“ Eine kieksende Stimme antwortete: „Na klar, ich bin Piepsi und das ist Muppsi, hihi.“ „Nein, ich bin doch Hupps und du Pups, haha“, fiel der zweite Schnatterwurm ein. Prompt tönte es: „Na, geht’s noch? Ich würde eher sagen, ich bin Friedel und du Schniedel!“ „Hihihi, hahaha“, gackerten die beiden Würmer um die Wette. „Na gut, ich verstehe schon, ihr wollt mir eure Namen nicht verraten…“, beschwerte sich Bajo im gespielt beleidigten Ton. „Nein, nein, ein bisschen Spaß muss sein. Wir heißen in Wirklichkeit Neli und Nela!“, klang es sogleich im Chor. Augenblicklich meldete sich die zweite Stimme wieder zu Wort: „Oder doch Haschi und Naschi? Hohoho hihihi“ Bajo gab auf und sagte nichts mehr. Nachdem er sich noch ‚Schnuffel und Muffel‘, ‚Grulli und Schnulli‘, ‚Hirni und Birni‘ und ‚Schnurz und Furz‘ anhören musste, was von immer länger werdendem Gegacker begleitet wurde, hatten die Schnatterwürmer endlich ein Einsehen: „Wir heißen wirklich Neli und Nela, Malvor hat uns die Namen gegeben. Es heißt ‚Helfer‘ und ‚Helferin‘ auf Baldisch“, erklärte Neli. „Aber es ist an der Zeit, uns auszuruhen. Komm, lass uns wieder in unser Zuhause, für die Nacht wirst du uns nicht brauchen!“ Im Anschluss an das Kribbeln wartete Bajo wieder kurz ab und steckte dann die Hülse unter das Hemd. Es wurde langsam dunkel und schnell kramte er noch etwas Trockenfleisch und getrocknete Waldbeeren aus dem Rucksack. Nach diesem ereignisreichen Tag war Bajo nun recht müde. Deshalb machte er es sich so bequem wie möglich, während er die neuen Eindrücke und Erlebnisse noch einmal an sich vorüberziehen ließ und war im Nu eingeschlafen.
Ein leichtes Platschen weckte Bajo am nächsten Morgen. Es hatte angefangen zu regnen. Zum Glück war das ‚Nest‘ gut geschützt und nur wenig Wasser drang durch die jungen Blätter des Baumes. Die Knochen taten Bajo durch die krumme Haltung doch etwas weh, außerdem musste er mal. Gerade sollte es wieder abwärts gehen, da erspähte Bajo einen Waldreißer im Unterholz. Mucksmäuschenstill beobachtete er die Umgebung und konnte zwei ausgewachsene Exemplare mit einem Jungtier, die es sich bequem gemacht hatten, erkennen. Anscheinend hatten sie ihn gerochen, aber nicht gefunden und hofften nun darauf, dass ihre Beute doch noch auftauchte. So verharrten beide Seiten eine ganze Weile und bei Bajo machte sich langsam der Druck bemerkbar. Er überlegte, ob er die Kreaturen mit etwas bewerfen sollte, traute sich das aber nicht. Was, wenn sie dann erst recht da unten auf ihn warten würden? So gab es nur noch eine Möglichkeit: vom Baum herunterpinkeln! Bajo schob sich im toten Winkel zu einer rückwärtigen Gabelung und kroch einen Ast halb hoch. Doch jetzt drängten sich ihm neue Bedenken auf. „Was, wenn sie das riechen und den Baum erst recht belauern?“, befürchtete er und wagte es nicht, weiterzumachen. Allmählich verlor Bajo die Geduld, der Drang war einfach zu stark und er betrauerte schon jetzt seine schöne neue Hose, denn es blieb nichts, außer in sie hinein zu machen. In diesem Moment raschelte es plötzlich in der Richtung, aus der er gekommen war. Anscheinend war dort Wild unterwegs. Das blieb auch den Waldreißern nicht verborgen und schon hetzten sie los. Nach weiteren quälend langen Minuten war nichts mehr zu hören, Beute und Meute waren fort. „Na, der Tag fängt ja gut an“, murmelte Bajo, als sich, unten angekommen, endlich die große Erleichterung breitmachte. „Jetzt muss ich mich aber ranhalten, schon viel zu viel Zeit verloren…“
Von oben hatte er gen Ost eine Anhäufung von Farn gesehen, was häufig ein Zeichen für Wasser war. Zwar entpuppte sich dies lediglich als ein kleiner Tümpel, aber das Wasser war genießbar und die Feldflasche wieder voll. So ging es dann schließlich weiter und Bajo war froh, sich wieder bewegen zu können. Auch wenn es bedeckt war, war es für ihn nicht schwer, die richtige Richtung einzuhalten. Malvor hatte ihm gezeigt, dass man Anhand der Moose an den Bäumen die Himmelsrichtung bestimmen konnte. Bajo legte ein gutes Tempo hin, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen. Etwa um die Mittagszeit machte er eine Rast und überlegte, ob er die Schnatterwürmer wieder in sein Ohr lassen sollte. Da er sich aber recht sicher fühlte, verschob er es auf später. Selbst wenn ein Raubtier auftauchen sollte, waren die Bäume gut geeignet, um darauf zu flüchten. „Also weiter“, beschloss er und eilte wieder los. Der Regen hatte aufgehört, doch von der Sonne war nichts zu sehen. Mittlerweile gab es keine Tierpfade mehr und der Untergrund wurde leicht felsig, sodass es schwieriger geworden war, voranzukommen. Aber Bajo wollte keine Umwege machen und hatte sich für den direkten Weg nach Osten entschieden. „Ohh, du verdammter Trottel, warum hörst du bloß nicht auf deinen Instinkt?“, fluchte Bajo noch in sich hinein, als er ohne Vorwarnung ins Bodenlose fiel! Er spürte harte Schläge von allen Seiten und dann war es vollkommen schwarz.
Ein modriger Geschmack breitete sich in Bajos Mund aus. Er versuchte auszuspucken, Sand knirschte zwischen seinen Zähnen und brannte in seinen Augen. Auf der Seite liegend, welche jetzt stark schmerzte, wollte er sich hochrappeln und dabei mit der Hand abstützen. Doch diese glitt ins Leere. „So geht es nicht, erst mal die Augen freibekommen“, waren seine nächsten Gedanken und er kramte das Taschentuch, was er immer bei sich hatte, aus der Hosentasche. Mit etwas Spucke wischte er sich die Erde aus den Augen und allmählich fing er an, etwas zu erkennen. Plötzlich fuhr ihm der Schreck so dermaßen in die Glieder, dass er fast wieder ohnmächtig wurde! Bajo blickte in eine tiefe Spalte, die ins Nichts ging. Entsetzt krallte er sich fest und war stocksteif, denn wenn er einer Sache nicht standhalten konnte, dann war es dem Blick in die Tiefe. Er hatte Höhenangst! Als sich seine Starre endlich etwas gelöst hatte, was nur mit geschlossenen Augen ging, drehte sich Bajo auf den Rücken. Nun erkannte er, dass es wohl an die zehn Meter bis nach oben waren. Unter Schmerzen setzte er sich auf und sah jetzt, dass er in eine Spalte im Boden gestürzt war und auf einem Vorsprung saß. Ein Stück zu weit nach links oder rechts wäre sein Ende gewesen. Die Spalte musste über die Zeit völlig zugewuchert sein und als er darauf getreten war, hatte es die ganze Schicht in die Tiefe gerissen. Immerhin war genug Licht, um sich weiter orientieren zu können. „Schwierig, sehr schwierig“, murmelte Bajo in sich hinein, als er einen Weg nach oben ausguckte.
Immer stark an die Wand gedrückt, versuchte er nun, sich ganz aufzustellen und dabei nicht nach unten zu sehen. „Meine Sachen!“, schoss ihm als nächstes durch den Kopf, denn als er eng an der Wand stand, war kein Druck seines Rucksacks zu spüren. Er hätte gerne etwas von seinen Utensilien, um den Vorsprung herum entdeckt, aber vergeblich. „Nein, nein, nein“, schrie Bajo und dachte an das Wuko. Das Messer jedenfalls war noch am Gürtel: „Wenigstens etwas.“ Und die Schote spürte er sowieso die ganze Zeit an seiner Brust. „Ob es den beiden gut geht?“, fragte er sich und überlegte, sie ins Ohr zu lassen. Aber dazu war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Wieder suchte Bajo die Wände ab, um sich eine Route zu überlegen und da…: “JAAAAA!“ Dort hing der Rucksack mitsamt dem Wuko an einer Wurzel über ihm - vielleicht drei Meter entfernt. Es war also nichts verloren! Sein Plan sah es jetzt vor, mit dem Messer die Wand in Abständen auszuhöhlen, um so mit Füßen und Händen, wie auf einer Leiter, nach oben zu gelangen. Wäre da nur nicht diese Tiefe… Doch was blieb ihm anderes übrig?
Einmal ordentlich Luft geholt und ran an die Arbeit: Loch für Loch stocherte Bajo in das Gemisch aus Stein und Erde, mal mit links, mal mit rechts, immer mit beiden Füßen und einer Hand in der Wand. Als er nahe genug an der Wurzel war, steckte er das Messer zurück. „Gleich geschafft, gleich geschafft, nicht nach unten gucken, nicht runtersehen…“, machte er sich Mut. Er hatte extra ein Loch mehr als nötig ausgehöhlt, um ganz sicher den Rucksack greifen zu können. Langsam schob Bajo ihn über die Schulter und griff mit der Hand die Wurzel. Bevor er aber den anderen Arm durch die zweite Schlaufe bringen konnte, musste kommen, was er befürchtet hatte: Die Löcher, in denen er stand, waren nicht stabil genug, ein Fuß rutschte ab und zog den anderen nach sich. Jetzt hing er da, mit der einen Hand die Wurzel umschlungen, mit der anderen in ein Loch gekrallt und die Füße wild strampelnd, um wieder Stand zu finden. Seine Kraft ließ nach und so blieb er erst einmal ruhig hängen. Das Gesicht in den Dreck gepresst, wusste Bajo langsam keinen Ausweg mehr, er musste sich fallen lassen. Die Tiefe zum Vorsprung war nicht das Problem, der Abgrund daneben aber machte ihm Sorgen. „Was soll’s, eins, zwei, hopp!“ Um nicht rückwärts ins Nichts zu stürzen, stieß sich Bajo leicht von der Wand ab, bevor er losließ und schmiss sich gleich nach dem Aufprall wieder dagegen. Seine Seite schmerzte zwar immer noch, doch er war froh, so gut gelandet zu sein. Nach einer Drehung saß er schließlich mit dem Rücken an der Wand auf dem Vorsprung, so wie schon zuvor.
„Oje, Bajo, du hast noch nicht einmal mit deiner eigentlichen Aufgabe begonnen, da scheiterst du schon an der ersten Hürde, besser gesagt Tiefe“, schimpfte er sich selbst und lachte höhnisch auf. Es wurde schummriger, die Sonne ging schon wieder bald unter. Damit er nicht im Dunkeln sitzen würde, holte er den Sonnenstein heraus, füllte etwas Wasser in seinen Trinkbecher und legte ihn hinein. Nach kurzer Zeit leuchtete der Stein hell genug und Bajo band ihn mit einem Lederriemen an ein Ende seines Wukos. Noch einmal leuchtete er die Umgebung ab und konnte jetzt viel mehr erkennen. Gegenüber befand sich ebenfalls ein Vorsprung, dieser schien ihm aber ungewöhnlich gleichmäßig zu sein, als wäre er von Menschenhand geformt worden. Genauso wie die Wand, die wohl auch nicht aus Stein und Erde bestand. Bajo nahm einen Klumpen und warf ihn nach drüben. Der Aufprall zog ganz klar einen hohlen Klang nach sich! „Das muss eine Bretterwand sein!“, rief er erstaunt. Erneut die Höhe musternd, kam Bajo zu dem Entschluss, dass dort drüben der einzige Ausweg aus seiner Misere sein konnte. Nun musste er noch irgendwie hinüberkommen. Ein kräftiger Satz sollte ausreichen, aber der Vorsprung war schmaler als der, auf dem er stand, er durfte also keinesfalls nach hinten taumeln. Hochgerappelt, den Rucksack festgeschnürt und mit dem leuchtenden Wuko voran, setzte Bajo seine Idee in die Tat um, bevor er, durch den einen oder anderen Blick in die Tiefe, doch noch Zweifel bekommen würde.
Ein markerschütterndes Krachen und Splittern ertönte! Durch den Aufprall nach dem Aufsetzen ging die vermeintliche Holzwand komplett zu Bruch und Bajo lag nun in einem Gang auf einem Haufen morscher Bretter. Er rappelte sich wieder hoch und inspizierte die neue Umgebung. „Das muss ein alter Stollen sein!“, mutmaßte er. Und er kam auch zum Schluss, dass man wohl erst noch überlegt haben musste, eine Brücke zur anderen Seite zu bauen, um dort weiter zu graben. Aus welchen Gründen auch immer, hatte man das Loch dann aber wieder mit dem Holzverschlag verschlossen. Das musste ewige Zeiten her gewesen sein, noch bevor der Wald sich nach außen abschottete. Dass das Holz überhaupt noch so zusammenhielt, war ein Wunder, sicher war es so was wie Steineiche. Wonach man wohl gesucht hatte…? Und wohin der Gang wohl jetzt führte…? Egal, es gab nur eine Richtung und die schritt Bajo, mit dem Sonnenstein als Leuchte, voran. Es wurde etwas enger und tiefer und je weiter er kam, desto muffiger wurde die Luft. Nach einiger Zeit tat sich ein Raum auf, von dem drei weitere Gänge abgingen. Soweit Bajo es erkennen konnte, war hier einmal eine Art Nachtlager gewesen, ein Tisch und ein paar Stühle, oder was eben noch davon übrig war. In einer Ecke standen eine abgebrochene, verrostete Spitzhacke und eine fast vermoderte Schubkarre. „Wo jetzt weitergehen?“, er überlegte einen Moment, konnte sich aber nicht entscheiden, denn er wollte am Ende nicht wieder an einem anderen Punkt an der Spalte herauskommen. So setzte sich Bajo erst einmal auf einen kleinen Sims, der in die Wand gehauen war, holte die Feldflasche und das Taschentuch heraus und reinigte sein linkes Ohr. Seine beiden ‚Gäste‘ sollten schließlich nicht vom Dreck abgehalten werden, ihr Schmalzmahl zu sich zu nehmen.
Kaum hatte es gekitzelt, da begannen die Schnatterwürmer auch schon zu plappern: „Was ist denn bloß los, Bajo? Wir dachten schon, das ist das Ende für uns alle“, piepste Nela aufgeregt. „Das hat dermaßen gerumst, dass wir fürchteten, du wärst einen Berg herabgestürzt“, ergänzte Neli. Und so berichtete Bajo den beiden erst einmal, was ihm in der Zwischenzeit zugestoßen war. „Was denkt ihr, was das hier ist?“, endete er. Neli antwortete: „Das müssen die alten Stollen der Gahlen sein, die vor Urzeiten hier nach Edelsteinen gegraben haben. Die Gahlen waren immer auf der Suche nach Diamanten, Smaragden oder anderen Edelsteinen, die sie zum Tausch brauchten, wenn sie mit den riesigen Seglern über das große Wasser in ferne Kontinente fuhren. Sie waren es auch, die die Himmelsfinger für ihre Schiffe abholzten. Besonders aber waren sie hinter Melonsteinen her. Das sind magische Steine, die einen Menschen heilen können, auch wenn eigentlich keine Hoffnung mehr besteht. Außerdem bescheren sie ihrem Besitzer ein längeres Leben.“ Nela fügte hinzu: „Ja, das stimmt, es gibt nur eine Handvoll Melonsteine, die gefunden wurden. Ein einziger ist so viel wert wie ein ganzes Königreich.“ Jetzt erinnerte sich Bajo: „Über die Gahlen habe ich etwas in der Schule gelernt. Da waren sie aber eher die Helden des Altertums… Dass sie die schönen Riesenbäume abgeholzt haben, wurde nicht erwähnt. Eines Tages waren sie mit der gesamten Flotte auf Überfahrt und sind dann nie wieder zurückgekehrt. Seitdem ist kein Schiff mehr auf die Reise über das große Wasser gegangen. Aber außer aufs Meer hat es sie ja dann anscheinend auch unter die Erde getrieben. Womit ich wieder bei meinem Problem bin; welchen Gang nehme ich jetzt?“ Neli: „Da können wir dir leider nicht helfen. Wir können alles hören, aber leider nichts sehen. Lass uns am besten wieder in unser Heim und dann folge deinem Instinkt“. „Den mittleren, ich nehme den mittleren Gang!“, entschied Bajo kurzerhand und machte sich wieder auf. Der Weg zog sich hin; immer wieder gab es größere Ausbuchtungen oder kleine Nebengänge, aber nur einen Hauptgang.
Irgendwann spürte Bajo, dass die Luft nicht mehr ganz so stickig war - ein gutes Zeichen! Und tatsächlich tat sich schon bald ein riesiger Raum auf. Von diesem Ort aus ging es in vier weitere Richtungen, das Wichtigste aber war; es führte von dort ein Schacht nach oben und von da kam auch die bessere Luft. „Jippie, was für ein Glück!“, rief Bajo und inspizierte den Schacht. In der Ecke lag eine verrostete Wanne, die sicherlich über Seilwinden als Transportbehältnis für den Schutt gedient hatte. An der Seite befanden sich die Reste einer dicken, breiten Sprossenwand, die nach oben führte. Dort konnte Bajo aber nichts weiter sehen, denn es musste draußen ja längst dunkel sein. Er berührte eine der Sprossen und prompt fiel diese auch schon von der Wand. „Na, das war klar“, murmelte Bajo und leuchtete weiter hoch. „Das wird nix mit der Leiter, dass die überhaupt noch als solche zu erkennen ist, grenzt sowieso an ein Wunder…“, fügte er spöttisch hinzu und beschloss, sich erst einmal in der kleinen Halle umzusehen. „Solange es oben dunkel ist, brauche ich es gar nicht erst zu versuchen, hochzukommen. Also schauen wir mal, was wir hier so finden“, dachte er sich und durchstöberte die alten Überbleibsel.
Einige der Tische, Stühle und Regale waren erstaunlicherweise noch recht gut in Schuss, sie waren tatsächlich aus Steineiche gemacht. In den Truhen, die noch intakt waren, befanden sich Geschirr, Besteck und was man sonst noch zum täglichen Leben unter Tage benötigte. Alles nicht mehr wirklich zu gebrauchen. Der Sonnenstein begann, an Leuchtkraft zu verlieren und da Bajo gerade noch für einen Tag genügend Wasser hatte, entschloss er sich, schnell das Nachtlager zu bereiten. Um vor eventuellen Unannehmlichkeiten von unten geschützt zu sein, machte er es auf einem großen Tisch zurecht.
Bevor er aber schlafen ging, musste er noch einmal austreten. Mit dem Restlicht lief er zu einer Nische, die er vorher nicht weiter beachtet hatte und wo er sich nun eben erleichtern wollte. Als er mit dem Fuß gegen eine Art Pritsche mit Stoffresten darauf stieß, fiel die in sich zusammen und etwas Weißliches kam zum Vorschein. Jetzt wurde Bajo neugierig und um besser sehen zu können, was da wohl lag, legte er den Sonnenschein doch noch einmal ins Wasser. Sobald dieser wieder hell erleuchtet war, ging Bajo mit einem halbwegs stabilen Holzstück zurück zur Nische. Vorsichtig befreite er das weiße Etwas. „Oje, das ist doch nicht etwa…“, musste er laut sagen, denn er hatte bereits eine gewisse Befürchtung. Langsam, aber gezielt, fuhr er fort. „Buahh, ich hab’s doch geahnt…“, rief er angewidert. Er hatte die Rippen eines Skeletts freigelegt. Mit etwas Überwindungskraft machte er weiter und fand noch mehr Teile sowie den Schädel. Dieser wies ein großes Loch auf und Bajo schlussfolgerte, dass diese Person anscheinend im Bett erschlagen oder erschlagen und dann aufs Bett gelegt worden war. „Und ich hätte fast drauf geschifft…“, ekelte sich Bajo. Er griff das Wuko mit dem leuchtenden Stein und wollte sich gerade umdrehen, um einen anderen Platz zu suchen, als er etwas in der Mitte des Skeletts für einen Moment funkelnd aufblitzen sah. Mit dem Holzstück legte Bajo einen Stein frei, nahm ihn mit dem Taschentuch hoch und polierte ihn. „Vermutlich hatte der Getötete die Gefahr kommen sehen und den Stein schnell verschluckt, um ihn vor Dieben zu schützen.“, mutmaßte Bajo, denn dieser lag ungefähr da, wo sich einst der Magen befunden hatte, „Genützt hatte es ihm aber nichts, mit eingeschlagenem Schädel!“
Der Stein hatte etwa die Größe einer Kirsche, war von ovaler Form und recht leicht. Dunkelrot mit vielen glitzernden Elementen schimmerte er nun in Bajos Hand. Dieser kannte sich mit Edelsteinen nicht aus, aber er wusste, dass Bernstein sehr leicht war. Vielleicht war das etwas Ähnliches und für die Schmuckherstellung zu gebrauchen. Malvor hatte Bajo einen Beutel mit Gold- und Silbermünzen hinterlassen, damit er bei seiner Suche einige Zeit unabhängig sein konnte. Aber wenn er schon auf den Stein gestoßen war, wollte er ihn auch mitnehmen. Wer konnte es schon wissen, ob er eines Tages nicht doch ein paar Münzen brauchen würde. Dann könnte er seinen Fund immerhin verkaufen. Also verstaute Bajo den Stein in dem einen Geheimfach seiner Gürtelschnalle, wo die neue Kostbarkeit gut hineinpasste. Er erleichterte sich in eine andere Ecke und legte sich endlich schlafen.
Zur Ruhe kommen konnte er jedoch nicht, denn nach Bajos Schätzung musste er sich in etwa im Gebiet der Gexen aufhalten und die lebten ja, wie Malvor erzählt hatte, hauptsächlich unter der Erde. Auch hatte Bajo auf dem Fußboden etliche Kriechspuren gesehen und die Erinnerung an die schreckliche Nacht seines Wegs in den Grauenwald ließ ihn erschauern. Er lauschte angestrengt in die Umgebung, aber es tat sich nichts und die Befürchtungen, eine schlaflose Nacht zu haben, bewahrheiteten sich am Ende nicht. Im Gegenteil, als Bajo aufwachte und sich aufrichtete, sah er helles Licht in der Öffnung; man konnte fast sagen, er hatte verschlafen. Flugs wurden die Sachen gepackt und schon stand Bajo in dem, ihn hoffentlich rettenden, Schacht. Hier war die angestrebte Ebene fast genauso hoch wie vom Vorsprung in der Spalte. Die Kluft dort war breit und uneben, der Schacht hier aber mit Ziegelsteinen gemauert und schmaler. Bajo kam auch schon eine Idee, wie er nach oben kommen würde, denn die Sprossenwand konnte er unmöglich benutzen. Früher, in der Schule, hatte es einen kleinen Raum gegeben, der fast direkt unterhalb der Decke ein schmales Fenster mit einer Fensterbank hatte. Da oben hatte Bajo sein Geheimversteck gehabt und er konnte es erreichen, indem er sich, an einer Wand stehend, zur anderen Seite fallen ließ und sich dort abstützte. Schräg, ja fast waagerecht, klemmte er so zwischen den Wänden und lief sozusagen mit Händen und Füßen nach oben. Dann legte er, mit nur einer Hand drückend, welchen zu verbergenden Gegenstand auch immer, dorthin. Das war immer der schwierigste Teil gewesen und ein-, zweimal wäre er auch beinahe abgestürzt.
So wollte er es jetzt auch machen, Bajo holte tief Luft und begann mit dem Aufstieg. Doch dies war keine trockene, griffige Schulwand. Die Mauer war feucht und an manchen Stellen glitschig und brüchig. Nach noch so einem Sturz aus der Höhe verspürte Bajo wahrlich kein Verlangen. So mühte er sich eher langsam, dafür sicher, Richtung Freiheit. Sein stetiges Üben machte sich bezahlt, denn obwohl er schweißgebadet am Rand ankam, hatte er doch noch genügend Kraft, um die letzte Hürde nehmen zu können: Er musste sich jetzt fest an die Ziegel klammern, mit den Füßen in die gleiche Höhe tippeln, dann mit dem Bein über den seitlichen Rand gleiten, um sich am Ende mit seinem ganzen Körper herüberzuschieben. Der Moment, in dem er genau waagerecht zwischen den Wänden klemmte, war der schlimmste, denn Bajo warf dummerweise einen kurzen Blick in die Tiefe. Ein dumpfes Zucken im Magen ließ ihn fast abgleiten. Nur mit äußerster Mühe behielt er sich im Griff und schob sich, fast schon zitternd, schließlich doch noch auf die rettende Seite. Er wälzte sich auf den Rücken, beziehungsweise auf Rucksack und Wuko und schaute erschöpft, aber glücklich in die leicht wogenden und sonnendurchfluteten Blätter der Bäume. So lag er erst einmal eine Weile da und genoss die herrlich frische Luft, die ihm um die Nase säuselte.
Nachdem Bajo sich gesammelt, seine Klamotten abgeklopft und zurechtgerückt und auch den Sonnenstein wieder verstaut hatte, guckte er den richtigen Weg aus und setzte seine Wanderung fort. Das nächste Ziel würde ein kleines Gewässer sein müssen, denn die Feldflasche musste dringend wieder gefüllt werden. Stunde um Stunde verging, aber kein Flüsschen oder Tümpel war in Sicht. Bei einer Rast verzehrte er die letzten Vorräte und nahm den letzten Schluck Wasser. „Wie wunderschön der Wald doch ist, vor allem, nach so einer Nacht in der Dunkelheit“, dachte sich Bajo und ließ sich das Gesicht von der Sonne wärmen. Er fühlte sich gut und glücklicherweise taten ihm seine Knochen nach dem schweren Sturz in die Spalte auch gar nicht mehr so weh. „Jetzt aber weiter, das nächste Abenteuer wartet. Und ich will ja schließlich meinen ersten Gefährten finden!“, rief er vergnügt und setzte seinen Marsch fort. Als es fast schon wieder dunkel wurde, machte er Halt und fragte sich, ob er wohl schon das Gebiet der Gexen verlassen hatte. Wäre das nicht der Fall, müsste er sich vor der Nacht fürchten, denn laut Malvor konnten die Gexen bis in die Wipfel der Bäume hinaufkriechen, auch wenn ein feuchter, löchriger Boden ihr eigentliches Revier war. Bajo untersuchte die Umgebung genau, der Untergrund war recht trocken und es gab kaum Büsche oder Unterholz. Auch hatte er keine Spuren von Raubtieren gesehen und so beschloss er, sich schon hier für die Nacht einzunisten. Nach einigen Übungen, mit und ohne Wuko, begab sich Bajo auf die Suche nach einer guten Stelle zum Schlafen. Eine umgeknickte Buche war schließlich der ideale Platz. Unter dem halb hochstehenden Wurzelkranz befand sich eine Mulde. Diese füllte Bajo mit einigen Blättern, baute mit alten Ästen eine Art Zaun darum und verdeckte diesen mit Buschwerk, das er sich aus der Umgebung zusammensuchte. Durch eine Lücke warf er seine Sachen hinein, schlüpfte selbst hindurch und verschloss den Spalt von innen mit den letzten Ästen, die er noch übrighatte. Sollte jetzt etwas von draußen hereinkommen wollen, könnte Bajo es auf jeden Fall bemerken und das ‚Etwas‘ würde sein Kristallmesser zu spüren bekommen!
Er war noch nicht müde, was zu essen und zu trinken hatte er auch nicht und so holte er die Schote unter seinem Hemd hervor. „Wir haben schon die frische Luft genossen, Bajo. Das heißt, du bist also aus der Mine herausgekommen“, bemerkte Nela erfreut, als die Schnatterwürmer wieder im Ohr saßen. Bajo bestätigte ihr: „In der Tat. Und es war kein leichtes Unterfangen. Ich hatte Glück mit dem mittleren Weg, aber den Schacht hinaufzugelangen, war doch sehr anstrengend und gefährlich.“ „Brauchst du unsere Hilfe, oder lässt du uns nur so von deinem köstlichen Ohrenschmalz naschen?“, wollte nun Neli wissen. „Um ehrlich zu sein, ich langweile mich. Ich habe schon das Nachtlager aufgeschlagen und hoffe, dass mich keine Gexen finden und wenn, werden sie meinen Dolch spüren. Außerdem wollte ich mal wieder mit jemandem reden, am Ende rostet mir noch die Stimme ein.“ So plapperte Bajo noch eine Weile mit den Schnatterwürmern, bevor sie dann alle schlafen gingen.
In der Nacht wurde Bajo nur einmal kurz von einem Erdferkel geweckt, das an seinem Schutzwall randalierte. Ansonsten verlief alles ruhig und er war am frühen Morgen gut ausgeschlafen. Er bemühte sich, alles in den Zustand zu versetzen, der vor seiner Ankunft geherrscht hatte und machte sich dann wieder in Richtung Osten auf. Sein Magen fing an zu knurren und sein Mund war trocken. „Ich muss dringend Wasser finden, ich will am Ende nicht in die Tiefe graben müssen, um meinen Durst zu stillen“, überlegte Bajo, als im selben Moment ein plätscherndes Geräusch zu hören war. Er ging den willkommenen Lauten nach und fand bald eine winzige Quelle, die ein kleines Rinnsal speiste. Das Wasser war köstlich und Bajo trank sich erst einmal satt. Gerne hätte er sich auch gründlich gesäubert, aber eine Katzenwäsche musste reichen, denn Bajo wollte den Wald so schnell wie möglich hinter sich lassen. Wie er in dem letzten Ring mit den Rabukar fertigwerden sollte, war ihm allerdings noch immer schleierhaft.
Auf seinem weiteren Weg fand Bajo ein paar unreife Waldbeeren. Die waren doch noch recht sauer, aber um seinen Magen zu beruhigen, reichte es. Inzwischen wurde der Wald dichter und feuchter und hatte viel Unterholz - leider gute Bedingungen für Gexen und die konnten Bajo immer noch die Suppe versalzen. Zum Glück schien die Sonne, das beste Mittel, um die ekelhaften Viecher in ihren Löchern zu bannen. Bajo war jetzt schnell unterwegs und hochkonzentriert. Erst nach Stunden legte er die nächste Rast ein. Malvor hatte ihm eine Aufgabe gegeben, auf die er sich schon freute. Aber wie er den Wald verlassen sollte, außer die Richtung, hatte er ihm nicht geschrieben, nicht einmal einen kleinen Hinweis. Im Gegenteil, der Zauberer hatte ihn in ihren Gesprächen eindringlich vor den Rabukar gewarnt, denn sie waren äußerst aggressiv und jagten einen zur Not auch bis in die Bäume hinauf. „Nochmal vorbeischleichen? Soviel Glück kann man nicht haben…“, grübelte Bajo und starrte nach Osten. Da entdeckte er einen Schimmer über den Bäumen. Beim genaueren Hinsehen wurde ihm klar, dass es sich um den Glutberg handeln musste, an dessen Fuße die berühmte ‚Schichtstadt‘ klebte.
Der Glutberg war einer von zwei erloschenen Vulkanen der äußeren Welt. Seinen Namen verdankte er der rötlichen Färbung des Gesteins. Wenn Bajo also die Spitze des Berges von dort aus sehen konnte, war der Rand des Grauenwaldes nicht mehr weit. Es war erst Mittag und Bajo fühlte sich stark genug, in derselben Geschwindigkeit weiterzumarschieren, die er zuvor eingelegt hatte. Noch eine Nacht wollte er im Wald nicht verbringen und so entschloss er sich, noch an diesem Tag den letzten Ring zu durchbrechen. Im Dauerlauf jagte er durch die Vegetation. Als es gegen Abend ging, verlangsamte er seinen Schritt und versuchte, möglichst leise zu sein. Bei einem Schluck Wasser zwischendurch bemerkte er einige Spuren. Große Tatzenabdrücke, hier mussten vor kurzem Raubtiere gewesen sein - vermutlich Rabukar! Augen und Ohren waren im Nu auf die Umgebung fixiert und Bajo beschlich ein mulmiges Gefühl. Er schritt nun hoch wachsam voran und überlegte, ob er sein Wuko hervorziehen sollte. Aber Malvor hatte ihn stets ermahnt, beim Gehen oder Laufen die Hände freizuhalten, so musste er eben schnell sein, wenn Gefahr drohte. Mittlerweile kam er nur langsam voran und bald konnte er kaum noch etwas sehen. Bajo hatte sich verschätzt, er musste erneut eine Nacht im Wald verbringen, nur wo? Da er sich nicht traute, den Sonnenstein zum Leuchten zu bringen, kroch er einfach ins nächstgelegene Unterholz, so tief wie möglich. Hier war es nur halbwegs bequem, aber es musste für die Nacht reichen. Einen Schluck aus der Feldflasche, den Rest unreifer Waldbeeren zur Stärkung genommen hieß es nun warten und hoffen. Bis zum Morgengrauen war es eine quälende Zeit; etliche Male nickte Bajo ein und schreckte dann unwillkürlich wieder hoch. Gerade da endlich so viel Licht die Umgebung erhellte, dass er seinen Weg fortsetzen konnte, wollte sich Bajo eben aus dem Gebüsch herauswinden, als er plötzlich ein Rascheln in der Nähe hörte. Vorsichtig spähte er durch die Blätter und der Schock fuhr ihm in die Glieder, ein Rabukar!
Ein großes, hässliches, braun-schwarzes Tier, das anscheinend Bajos Fährte aufgenommen hatte. Der leichte Wind kam aus der Richtung des widerlich stinkenden Vieches, sodass es Bajo noch nicht entdeckt hatte, was aber nur eine Frage der Zeit war. „Jetzt bin ich geliefert“, befürchtete Bajo, um gleich darauf fieberhaft nach einem Ausweg zu suchen. In der Dunkelheit hatte er nicht bemerkt, dass er fast durch das ganze Stück Unterholz hindurchgekrochen war. Wäre der Rabukar von der anderen Seite gekommen, läge Bajo schon längst in Fetzen. So aber war es seine Chance! Ganz vorsichtig schob er sich das kurze verbleibende Stück ins Freie. Das Raubtier kratzte und schabte immer noch am anderen Ende und hatte nichts bemerkt. Bajo sah einen mittelgroßen Stein aus der Erde ragen und grub ihn eilig aus. Dann wartete er auf den besten Augenblick und warf den Felsklumpen durch eine Schneise von Bäumen, soweit er nur konnte. Unmittelbar nach dem Aufprall des Steins war der Rabukar auch schon mit großen Sätzen in dessen Richtung unterwegs und Bajo hetzte, ohne sich umzudrehen, in die entgegengesetzte los. Erst nach einiger Zeit wagte er einen kleinen Blick nach hinten und sah zum Glück keinen Verfolger. Jetzt lief er wieder ganz aufrecht und mit größerer Geräuschkulisse, dafür aber wesentlich schneller. Die Strecke war jetzt freier, jedoch unebener und Bajo musste höllisch aufpassen, nicht mit einem Fuß umzuknicken. Nach etwa einer Stunde war er gezwungen, kurz zu verschnaufen und nachdem sich sein Atem beruhigt hatte, horchte er in den Wald: Da war er! Noch weit weg, aber ganz sicher auf seiner Spur! Wieder hetzte Bajo los. „Wann kommt denn endlich die Grenze?!“, flehte er innerlich, doch noch immer kein Lichtblick! Die Geräusche des Raubtieres kamen nun näher. Irgendwann hatte der Rabukar sein Opfer dann im Blick und erhöhte deutlich seine Geschwindigkeit. Bajo brach in Panik aus, er konnte kaum noch und wusste nicht, was er tun sollte. Von hinten durfte die Bestie ihn auf keinen Fall erwischen. Als sie zu nah an ihm dran erschien, blieb Bajo unvermittelt stehen, drehte sich um und zog das Wuko. In dem Moment sprang der Rabukar auch schon auf ihn zu. Mit einer Art Salto-Hechtsprung zur Seite, wobei er dem Tier mit dem Wuko eine am Kopf verpasste, entging Bajo dem Angriff nur knapp. Das Monster jaulte vor Schmerz auf, doch Bajo hatte nur einen kurzen Augenblick gewonnen und lief auf einen Baum zu, vor dem ein dicker, frisch abgebrochener Ast lag. Er spürte, dass die Bestie erneut zu Sprung ansetzte, fiel zu Boden und riss instinktiv den Ast in die Höhe. Krachend stürzte der Rabukar auf Bajo, der als letztes nur noch einen heftigen Schlag am Kopf spürte, bevor er das Bewusstsein verlor.
Derweil in Tarikahn
Am Spätnachmittag herrschte reges Treiben in den Straßen der Hauptstadt von Talikien. Der große Markt auf dem Lamut-Platz musste in letzter Zeit aber einem anderen, weniger erfreulichen Ereignis weichen. Gamor und Delminor wohnten in ihrer Loge den öffentlichen Auspeitschungen und Hinrichtungen bei, ihr Interesse aber galt vornehmlich den heimlichen Kriegsvorbereitungen. „Langsam müssen wir dem Volk mehr bieten als dieses Schauspiel hier, sie erwarten größere Taten“, setzte Delminor an. „Die Armee steht, wir sind bereit, um uns den Süden zu holen. Aber so schwach die Maliken gegen uns auch sind, es wird nicht einfach, Mondaha zu erstürmen. Wir brauchen eine List und ich habe auch schon eine Idee.“, erwiderte Gamor. „Dann raus mit der Sprache, mein Gebieter, ich bin gespannt!“, ereiferte sich Delminor. Gamor fuhr fort: „Mein Plan geht den Umweg über Schichtstadt, aber dazu brauche ich jemanden, der die Sache mit geschickter Zunge einfädelt. Dazu brauche ich dich!“ „Du weißt, ich werde alles für unseren Weg tun, mein Führer. Sag mir, wie ich dabei helfen kann“, versicherte Delminor ergeben.
Für einen kurzen Augenblick wurde es still auf dem Lamut-Platz. Dann holte der Scharfrichter aus und es folgte der widerliche Klang eines hackenden Beils, woraufhin die Masse laut aufschrie und jubelte. Während ein Priester den bluttropfenden Kopf in der Menge herumzeigte und Hasstiraden auf die „Ungläubigen“ herabließ, begannen die Leute mit „HELI-MAR HELI-MAR“-Rufen und Gamor war gezwungen, aufzustehen und sich in Siegerpose zu zeigen. Nachdem sich die Menschen wieder beruhigt hatten und zunächst weitere Auspeitschungen anstanden, konnten die beiden ihre Unterhaltung fortsetzen.
Gamor erläuterte: „Im Grunde musst du einen Tausch einfädeln und wer kann das besser als du?! Die Angelegenheit darf aber auf keinen Fall nach außen dringen, unsere ganze Mission hängt davon ab. Natürlich kannst du dir Helfer suchen, aber niemand darf den ganzen Plan erfahren, das bleibt nur unter uns Esariern!“ Eifrig pflichtete ihm Delminor bei: „Selbstverständlich, lieber werde ich mich töten lassen, aber spann mich nicht länger auf die Folter, du weißt, ich giere nach solchen perfiden Intrigen.“ Gamor winkte ab: „Nicht hier! Wir gehen nach dem Spektakel in meine Gemächer, da ist es sicherer. Es ist nicht einfach, aber du liebst ja solche Herausforderungen, es wird dir gefallen!“
Wieder im Grauenwald
Irgendetwas hinderte Bajo daran, seine Augen zu öffnen. Scheinbar waren seine Beine gelähmt, denn auch diese konnte er nicht bewegen. Bajos Kopf schmerzte unerträglich, ihm war übel, denn es stank erbärmlich und seine Kehle war völlig ausgetrocknet. Einzig seine Arme konnte er langsam in Gang bekommen. Er fasste sich auf die Augen und spürte eine harte Kruste, links mehr als rechts. Vorsichtig versuchte er diese von seinen Lidern zu pulen. Blinzelnd nahm er mehr und mehr wahr und blickte schließlich direkt in die Augen des Rabukars! Ein kleiner Schock ließ ihn wacher werden und zum Glück erkannte er, dass diese Augen tot waren. Der Gestank drang aus dem halb offenen Maul und die Beine konnte er nicht bewegen, da das Ungetüm zur Hälfte auf ihm lag. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit und kostete enorme Mühen, bis Bajo sich befreien konnte. In der Brust des Monsters steckte der Ast, er musste sich zwischen Baum und Tier geklemmt haben und durch die Wucht des Aufpralls direkt ins Herz eingedrungen sein. Nachdem ihm allmählich klar wurde, was passiert war, galt Bajos nächster Gedanke weiteren Gefahren. Er richtete sich auf und versuchte die Umgebung zu begutachten, aber irgendwie konnte er sich nicht richtig darauf fixieren, er war doch zu sehr verwundet. So begann er, sein Wuko zu suchen und kramte, nachdem er es gefunden hatte, auch die anderen Sachen zusammen. Es war bewölkt, aber noch hell und unter größten Anstrengungen und mit starken Kopfschmerzen machte er sich auf den Weg, denn in dieser Verfassung stellte er sogar für ein großes Erdferkel ein gefundenes Fressen dar. Bajo war wie in Trance, hatte nur den Blick für die nächsten Schritte und musste oft anhalten. Er verlor jedes Zeitgefühl und die Schmerzen wurden immer heftiger. Irgendwann wurde es auch immer mühsamer, sich weiter voranzukämpfen, denn es lag wieder viel Dickicht auf seinem Weg. In einem lichten Moment sah Bajo nach oben, denn er befürchtete, sich im Kreis gedreht zu haben. Doch der Schein der untergehenden Sonne kam von hinten, also ging er noch immer nach Osten.
Wie lange er noch so weiterkroch und voranstolperte, konnte Bajo nicht mehr erinnern, er sah nur durch ein paar Büsche die Sonne aufgehen. Beschwerlich richtete er sich auf und nach einigen Schritten stand er am Rand einer riesigen Wiese. „JAAAaaa“, krächzte er befreit. Er hatte es geschafft, der Grauenwald lag hinter ihm! Aber er war immer noch sehr mitgenommen und verspürte großen Durst. In einiger Entfernung sah er eine lange Vertiefung in der Wiese, welche sich als großer Fluss erwies, als Bajo dort ankam. Er nahm ein paar Schlucke und steckte dann den Kopf ganz unter Wasser, was wirklich guttat. Seine Kleider waren von oben bis unten mit seinem und dem Blut des Rabukars besudelt, Bajo musste sich und seine Sachen erst einmal säubern. Er suchte sich eine geeignete Stelle, zog sich komplett aus und schrubbte alles ab, soweit es ging. Aber er musste immer wieder Pause machen, ihm fehlte es noch immer an Kraft. Irgendwann erklärte er alles für gereinigt und legte die Klamotten zum Trocknen auf die Böschung.
Anschließend war er selbst an der Reihe. An der einen Seite seines Kopfes brannte es stark, er fühlte vorsichtig, was ihm eigentlich fehlte, und ertastete zwei Risse auf der Kopfhaut, einen langen, großen und einen kleineren. „Da hat mich das Monster noch mit den Krallen erwischt“, folgerte Bajo. Er tapste aus dem Wasser und wollte sich gerade selber zum Trocknen neben die Kleider legen, da sah er ein Schiff in der Ferne flussabwärts fahrend. Auf gar keinen Fall wollte er gesehen werden, versteckte schnell seine Sachen und verbarg sich ein Stück weiter im Schilf. Es dauerte eine ganze Weile, bis das Schiff auf seiner Höhe war. „Seit ewigen Zeiten wieder andere Menschen…“, flüsterte er zu sich selbst und musterte das Gefährt durch die Halme hindurch. Es war ein Lastensegler, mit ein paar Passagieren darauf und einer Menge Waren. Er kam nur sehr langsam voran, da es kaum Wind gab und es war eher die Strömung, die das Schiff vorantrieb. So wie Bajo es einmal gehört hatte, führte ein großer Fluss von Schichtstadt nach Mondaha und das hier musste er sein. Als er sich sicher fühlte, kam Bajo wieder hervor, breitete die Kleider unter der gleißenden Sonne erneut aus, legte sich in den Schatten eines kleinen Busches und war im Nu eingeschlafen.
Erst am Nachmittag wachte er wieder auf, immer noch sehr erschöpft. Die Kleidung war fast trocken und er zog sich sorgfältig wieder an. An die Böschung gelehnt, kam Bajo eigentlich erst jetzt wirklich zu sich. Er dachte über den Kampf mit dem Rabukar nach. Weiß Gott fühlte sich Bajo nun nicht als Sieger! Zwar hatte er den ersten Angriff parieren können, was für ihn selbst eigentlich schon an ein Wunder grenzte, aber dass ausgerechnet dort, wo Bajo zu Boden ging, der spitze Ast gelegen hatte, welcher dem Tier zum Verhängnis wurde, war pures Glück. Wenn er sich die Situation vor Augen hielt, schauderte Bajo vor Unbehagen. Gewalt und Blut waren einfach nichts für ihn, es ekelte ihn an, schon immer. Dass er dieser absoluten Bedrohung entkommen konnte, hatte er etwas Höherem zu verdanken, da war sich Bajo sicher. Er musste an Malvors Worte über Leva denken und zum ersten Mal fühlte er sich mit dieser Macht verbunden.
Wirklich Hunger hatte er noch nicht, auch wenn er eigentlich welchen hätte haben sollen. Trotzdem spitzte Bajo einen dicken Halm zurecht und legte sich an einer geeigneten Stelle auf die Lauer, um Fische zu fangen. Darin hatte er Übung, denn sein Heim in Helmershorst lag ja auch am Fluss und wenn Tante Nele mal wieder Lust auf Fisch hatte, jagte er sie sozusagen vor der Haustür. So dauerte es auch nicht lange und Bajo hatte vier kleine Barben gefangen. Nun hoffte er nur, dass die Feuersteine, die er von Malvor bekommen hatte, richtig durchgetrocknet waren. Mit viel Mühe gelang es ihm, das gesammelte Holz zu entzünden und an einem langen Stock grillte er die Fische. Zwei aß Bajo direkt und legte die anderen beiden für den nächsten Tag zur Seite. Das Feuer hatte er an einer geschützten Stelle gemacht, die von hohem Gras umgeben war. Da es bereits wieder dämmerte und er immer noch starke Schmerzen hatte, bereitete Bajo alles für die Nacht vor. Er entfernte einige Grassoden, da, wo er schlafen wollte, verteilte dort die Glut und packte die Soden wieder darauf. So blieb ihm noch für einige Zeit die Wärme von unten, die ihn auch rasch in wilde Träume versinken ließ.