Читать книгу Schattenhunger - Ben Leo - Страница 17
3.4 Die Frau aus dem Osten
ОглавлениеNachdem sich die Schnatterwürmer satt gegessen hatten, ließ Bajo die beiden wieder zurück in ihre Behausung und machte in der Küche Tee und ein paar Schnittchen. Als er zurück ins kleine Gartenhäuschen kam, streckte sich Topao, der gerade wieder aus seinem Nickerchen erwacht war. „Na, geht’s besser?“, fragte Bajo. „Oh ja, das Schläfchen war das, was mir gefehlt hatte. Ah, Tee und ein paar kleine Happen, das ist jetzt genau richtig!“, erwiderte Topao. Nach der Stärkung machten sie sich auf nach unten, vor die Stadt. Bajo bog in einen kleinen Trampelpfad ein, der von der Hauptstraße abging, und führte Topao zu der Stelle, wo er seinen magischen Wurf geübt hatte. Er wies ihm, mit etwas Abstand, einen Platz zu und führte zunächst ein paar leichte Übungen mit dem Wuko aus. Als er sich bereit fühlte, holte Bajo aus und schleuderte das Wuko nach vorne. Mit einem unheimlich heulenden Geräusch flog der Kampfstab eine Runde und landete wieder genau in Bajos Hand. „Wow, so was habe ich ja noch nie gesehen. Was ist das bloß für ein Zauberding?“ staunte Topao sichtlich beeindruckt. „Wie gesagt, es ist ein Wuko, ein Kampfstab“, setzte Bajo zur Erklärung an, „Und was ich gerade gezeigt habe, war ein magischer Wurf. Ich habe ihn von einem Meister gelernt, einem Zauberer, der mein Lehrer war. Sein Name ist Malvor. Und jetzt kommt das Verrückte: Er hat einen grauen krautigen Spitzbart und einen dicken Pferdeschwanz, genauso, wie du den Mann in deinem Traum beschrieben hast! Wenn du dich doch nur an noch mehr erinnern könntest…“ Der heulende Ton des Wukos hatte Topao in eine merkwürdige Stimmung versetzt. Er starrte seltsam abwesend vor sich hin und murmelte: „Ich glaube er hatte ‚Folge dem Stab‘ oder sowas Ähnliches gesagt...“ Bajo kribbelte es am ganzen Körper, er war euphorisch und spürte eine Welle der Kraft. Er trat näher zu Topao heran, schaute ihm in die Augen und sagte: „Mir hat er aufgetragen, Gefährten zu suchen! Und ich bin mir sicher, dass du mein erster Gefährte bist!“ Nun stand der sonst so selbstsichere und unerschütterliche Topao etwas ratlos und mit leicht geöffnetem Mund da. „Ich verstehe. Ich meine, ich verstehe nicht ganz... Wieso Gefährte? Was sollen wir denn machen? Wohin sollen wir denn gehen?“, stammelte er, immer noch den Nachhall des heulenden Wukos in den Ohren. Bajo zuckte mit den Schultern: „Das kann ich dir nicht sagen, das weiß ich selber noch nicht. Als Malvor mich verlassen hat, gab er mir als letzte Aufgabe, acht Gefährten zu suchen.“ „Acht Gefährten? Und der wievielte bin ich?“, unterbrach Topao. „Na, sagte ich doch, du bist der Erste!“ „Und wieso hat dich der Zauberer verlassen?“, hakte Topao weiter nach. Etwas ratlos stand Bajo da und dachte laut nach: „Das kann ich dir nicht sagen. Eines Tages war er fort und hatte eine Botschaft hinterlassen. Ich glaube, er ist zum Sterben in die Kristallberge zu den Balden gegangen…“ Topao konnte es kaum fassen: „In die Kristallberge? Zu den Balden? In die Kristallberge kann kein Mensch gehen und Balden hat man seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Die Geschichte wird ja immer verrückter! Das ist irgendwie zu viel für mich Bajo…“ Dieser konnte die Verwirrung seines Freundes nur allzu gut verstehen und schlug vor: „Komm, lass uns zu der Stelle gehen, wo du mir von Schichtstadt erzählt hast. Das ist ein guter Ort, um dir meine wahre Geschichte zu offenbaren. Er packte Topao an der Hand und führte ihn zu der besagten Stelle.
„Bevor ich dir alles über mich erzähle, musst du mir versprechen, mit niemandem darüber zu reden!“, begann Bajo, nachdem sie sich gesetzt hatten. Und Topao musste es sogar bei seinem Leben schwören. Zögernd machte sich Bajo daran, die ganze Begebenheit zu schildern: „Ich habe dir nicht ganz die Wahrheit über mich erzählt... Aber das tat ich nur aus Schutz, denn manche Dinge sollte man nicht einfach in die Welt hinausposaunen. Am Ende erfahren die falschen Leute davon und das kann böse enden. Da ich mir aber nun sicher bin, dass du mein Gefährte bist, will ich dich in meine ganze Geschichte einweihen.“ Und so erzählte Bajo von seiner Leidenszeit in Kontoria, von seinem Entschluss fortzugehen und wie er in den Grauenwald gelangte. Er beschrieb, wie Malvor ihn fand, wie er dessen Schüler wurde und was er alles lernte und erlebte. Bis hin zu seinem Kampf mit dem Rabukar und seiner Ankunft vor den Toren von Schichtstadt. Nur das mit den Schnatterwürmern ließ Bajo vorerst lieber weg, denn alleine das Wissen um sie konnte jeden in Gefahr bringen, da so mancher Gauner foltern und morden würde, um an solche Wundertiere ranzukommen. „Als du mit der Kutsche vor mir zusammengekracht bist, war das ein Zeichen des Schicksals oder, besser gesagt, hat Leva dich zu mir geführt, wie Malvor es ausdrücken würde. Und als du mir dann von dem Wuko und dem Mann in deinem Traum erzählt hast, der einen Spitzbart und einen Zopf hatte, war ich mir sicher, dass du mein erster Gefährte bist. Außerdem habe ich mich von Anfang an bei dir wohl gefühlt, du hast mir einfach gut getan!“, schloss Bajo seinen Bericht.
Topao hatte die ganze Zeit gebannt zugehört. Nun beugte er sich zu Bajo rüber und fuhr ihm nachdenklich ins Haar. „Das ist eine ganz schön lange Narbe! Dein Glück, dass sie nicht im Gesicht ist, sondern vom Haar verdeckt wird. Aber noch mehr Glück ist, dass du das überhaupt überlebt hast, denn wie sich das anfühlt, war vielleicht sogar dein Schädel etwas aufgerissen. Du hättest sterben können… Und so wie du mir das Tier beschrieben hast, muss es ein richtiges Monster sein!“ Bajo nickte: „Ja, nur der spitze Ast hat mich gerettet und mir ging es tagelang nicht gut, das kann ich dir versichern.“ „Ich muss selbst sagen“, begann Topao, „dass auch ich von Anfang an gespürt habe, dass unsere Begegnung nicht normal war. Nur wollte ich mir das wohl nicht ganz eingestehen. Und auch ich habe nicht umsonst diesen Auftrag von meinem Vetter angenommen. Ich hatte einfach den Drang, meine Heimat zu verlassen. Nicht, weil mich mal wieder meine übliche Abenteuerlust überkam. Nein, es lief einfach nicht mehr! Die Aufträge, die ich bekam, machten mir keine Freude mehr und es gab immer wieder Quälereien. Meine Freunde sind mittlerweile verheiratet und haben teilweise schon Kinder. Deine Erzählung über die immer gleichen Abläufe und Dialoge haben mich stark an meinen Kreis erinnert, es war mit ihnen einfach nicht mehr wie früher. Als mein Vetter mich fragte, ob ich die Umbauten im Sommerpalais in Schichtstadt beaufsichtigen könnte, war das wie ein Befreiungsruf. Und dazu kamen dann auch noch diese lebhaften Träume. Ich befürchtete schon, dass irgendetwas mit mir nicht stimmen würde, dass ich im Kopf krank werde oder so. Aber mein Leben soll sich wohl verändern, das alles kann kein Zufall sein!“
Bajo sagte nichts und dachte nichts. Er saß einfach nur da, hörte Topao zu und wusste, dass alles gut werden würde. Sie schwiegen eine Weile und Topao machte den Eindruck, als würden die Dinge für ihn immer klarer werden. Dann hatte er anscheinend einen Entschluss gefasst, er stand auf, stellte sich vor Bajo hin und verkündete: „Dann soll sich mein Leben wohl verändern! Ich werde mit dir gehen, wo immer uns das Schicksal hinführen mag. Was auch immer kommen wird, ich werde an deiner Seite stehen, dir helfen und dich beschützen!“ Topao sagte dies nicht irgendwie pathetisch oder geschwollen. Nein, seine Worte waren ruhig und besonnen und er strahlte dabei wahre Ehrlichkeit und Zuversicht aus. Auch Bajo erhob sich. Sein Gesicht spiegelte die ganze Freude wider, die ihn erfasst hatte: „Auch ich werde dir, als treuer Gefährte, bis in alle Ewigkeit zur Seite stehen. Nichts soll uns jemals auseinanderbringen, möge uns Leva auf unserem Weg beschützen!“ Ganz automatisch hoben beide ihre rechte Hand und schlugen ein. Und wie um ihre Bande zu besiegeln, umgriffen auch ihre linken Hände diesen bedeutsamen Handschlag. Die beiden Männer schauten sich dabei fest in die Augen und einen Moment lang war die Welt für sie beide vollkommen im Lot.
Dann kniff Topao seine Augen etwas zusammen und fügte hinzu: „Und wenn mich doch mal die Lust überfällt…“, er zog Bajo dabei an sich ran, spitzte die Lippen und versuchte, ihm wieder ins Gesicht zu schmatzen. Bajo bemühte sich lachend, unterbrochen von einem „Nein, bitte nicht!“ oder auch „Bitte nicht wieder schmatzen!“, von Topao zu befreien und am Ende krachten beide durch ihre Rangelei auf den Boden und kicherten wie kleine Kinder.
„Weit werdet ihr wohl nicht kommen, so wie ihr euch benehmt!“, tönte plötzlich eine Frauenstimme über ihnen. Wie vom Blitz getroffen sprangen die beiden Männer auf und gingen in Abwehrhaltung. Auf einem kleinen Felsen stand eine Frau, die Hände in die Hüften gestützt. Ihre seidenen Kleider und ihre dunklen, vollen Locken flatterten leicht im Wind. Sie schaute die beiden mit einem wilden, entschlossenen Blick an und war eine wirklich beeindruckende und anmutige Erscheinung, die sich da in der Nachmittagssonne auftat. Es war die malikische Schönheit aus Kontoria, die Bajo in Schichtstadt wiedergesehen und die ihn gewarnt hatte! Topao wollte sich schon auf sie stürzen, um sie zu packen, doch Bajo hielt ihn zurück. „Du, du, du bist die Frau aus Kontoria…“, stotterte Bajo. „Ich, ich, ich bin Leandra Monari!“, äffte sie Bajos Gestammel nach und sprach dabei ein noch akzentfreieres Mittenländisch als Topao. „Aber wer bist du? Äh…, Leandra, sagst du ja gerade. Aber ich meine, wieso bist du hier, äh, also warum…“, verhaspelte sich Bajo weiter. Die Frau lächelte triumphierend und genoss ihren, immer noch nachwirkenden, Auftritt.
„Was wird hier gespielt?“, mischte sich Topao jetzt ein. Bajo bemühte sich, die Situation zu ordnen: „Ich habe dir doch von der peinlichen Geschichte erzählt, von der Frau, die ich verfolgt habe, und dem Mob, der mich durch die Kloake verfolgt hatte. Das ist sie! Und sie habe ich auch in Schichtstadt wiedergesehen, als wir uns amüsieren wollten. Sie war der Grund, warum ich plötzlich umkehren wollte. Sie hatte mich gewarnt!“ Bajo wandte sich wieder zu Leandra: „Ja, wieso hast du mich eigentlich gewarnt? Wovor? Und wo kommst du eigentlich so plötzlich her?“ „Na ja, im Fragenstellen bist du anscheinend ganz gut, aber wenn es darum geht, Antworten zu finden…“, entgegnete sie spöttisch. „Du bist nicht der Einzige, der etwas von Malvor gelernt hat!“, zwinkerte Leandra.
„Waaahhh!“, die beiden Männer stießen gleichzeitig einen unbeherrschten Schrei aus, es war; als hätte ihnen jemand in die Magengrube geschlagen, als sie diesen Satz hörten. „Woher kennst du Malvor?“, schrie Bajo sie fast an. Doch Leandra lächelte jetzt nur noch breiter, drückte ihr geschmeidiges Kreuz noch ein Stück weiter durch und schien auf dem Gipfel ihres Triumphs. Aber anstatt sich weiter aufzuregen, wurde Bajo plötzlich ganz ruhig. Und je länger er Leandra dort oben stehen sah, desto mehr verzauberte sie ihn. Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung und fühlte sich auf seltsame Weise mit ihr verbunden. Sie war so schön, so ein fröhlicher Mensch, der gleichzeitig Sanftmut ausstrahlte. Topao hatte sich zurückgehalten, aber jetzt rüttelte er an Bajo, da dieser die Frau nur noch anhimmelnd anstarrte. „Ich freue mich, dich kennenzulernen, Leandra“, brachte Bajo schließlich heraus und lächelte. „Schön, dann würde ich vorschlagen, ihr helft einer Dame jetzt hier herunter!“, forderte Leandra die beiden Männer auf. Diese sprangen gleich vor und reichten ihr die Hand, doch im selben Augenblick wirbelte Leandra mit einem Salto und einer halben Schraube über sie hinweg und kam hinter ihnen zum Stehen. „Was glaubt ihr? Dass ich eine alte Großmutter bin?“, rief sie und brach in ein schallendes Gelächter aus. Die verdutzten Männer schauten sich zunächst fragend an, fielen dann aber in das ansteckende Lachen ein. Dies war für alle sichtlich befreiend und die Spannung legte sich. Um die darauffolgende Stille zu unterbrechen, begann Bajo, sich vorzustellen: „Also, mein Name ist Bajo Tisterbrock und das ist Topao Mukarra.“ „Ich weiß, wer ihr seid!“, winkte Leandra ab und schaute schon wieder so schelmisch. „Ich beobachte euch schon eine ganze Weile und deinen erstaunlichen Bericht habe ich auch mitangehört! Ja, und bevor du fragst, deine beeindruckende Vorführung mit dem Wurfholz habe ich ebenfalls gesehen!“ „Aber wie hast du uns beiden so unbehelligt folgen können?“, warf Topao verwundert ein. „Wie ich sagte, Malvor hat auch mir etwas beigebracht. Er hat mir gezeigt, wie man sich quasi unsichtbar macht!“ Die Männer machten große Augen. Bajo schwirrten jetzt tausend Fragen durch den Kopf, aber er wusste nicht, wo er anfangen sollte. „Ich mache euch einen Vorschlag“, sagte Leandra, die nicht verbergen konnte, wie sehr sie ihren Triumph genoss, „wir kaufen uns ein paar gute Dinge auf dem Markt und machen gemeinsam in eurem Palais ein nettes Abendessen.“ Noch bevor die beiden antworten konnten, schritt sie voran und fügte hinzu: „Sind übrigens sehr schön geworden, eure Umbauten…“ Bajo sah gerade noch, wie sich ein weites Grinsen über Leandras Gesicht zog und fragte sich, woher sie das nun schon wieder wusste. Topao zuckte nur mit den Achseln und folgte ihr einfach.
Leandra hatte einen flotten Schritt drauf und hüpfte elegant über die Felsen, wenn sie eine Abkürzung nahm. Die gut trainierten Männer kamen ganz schön ins Schwitzen, um ihr folgen zu können. Während der ganzen Strecke wechselten die drei kaum kein Wort. Nur auf dem Markt tauschten sie sich über die Lebensmittel und darüber, was sie gerne aßen, aus. Die Schlange am Tor war zum Glück nur kurz und anscheinend besaß auch Leandra Papiere, die sie brav vorzeigte. Bevor sie allerdings das Tor zur vierten Schicht erreichten, machte ihre neue Begleitung kurz Halt. „Ich möchte, dass ihr vorangeht, ganz normal eure Dokumente vorzeigt und so tut, als wäre ich nicht da“, sagte sie eindringlich. Topao wollte etwas erwidern, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen: „Macht einfach, was ich euch sage. Bitte. Dann wird alles gut.“ So liefen die beiden also mit ihren Körben, die sie für ihren spontanen Großeinkauf besorgt hatten, voran. Am Tor scherzte Topao noch mit den Wächtern, die er ja mittlerweile gut kannte. Das Palais war bereits in Sichtweite und sie freuten sich schon auf das Essen, als Leandra von hinten rief: „Hey, wartet auf mich!“ „Ach ja, da war doch noch was…“, meinte Bajo scherzhaft. Doch die beiden waren verblüfft, sie hatten Leandra in der kurzen Zeit völlig aus dem Gedächtnis verloren! „Ihr habt mich vergessen, nicht wahr?“, fragte diese, sehr wohl um die Antwort wissend. Die beiden schüttelten sich regelrecht und Topao fragte: „Was war das jetzt schon wieder? Ich habe tatsächlich für den Moment nicht mehr an dich gedacht!“ „Für die vierte Schicht gelten meine Papiere nicht mehr, deshalb musste ich mich ‚unsichtbar‘ machen, um durch das Tor zu kommen!“, entgegnete sie. „Du kannst dich unsichtbar machen?“, rief Bajo. „SCHsch, nicht so laut!“, zischte Leandra und schmunzelte: „Na ja, nicht wirklich unsichtbar, aber eben so, dass mich keiner bemerkt.“ „Und wie machst du das?“, fragten Bajo und Topao im Chor. „Das hat mich der Zauberer gelehrt und es ist mein Geheimnis!“, triumphierte Leandra wieder und eilte voraus.
Die Sonne senkte sich zum Horizont. In der großen Küche duftete es nach gut gewürztem Fisch und Fleisch. Auch in der Küche hatte Leandra die Führung übernommen und nach ihren Anweisungen war ein Haufen von Vorspeisen, Salaten, Hauptgerichten und süßen Nachtischen entstanden. Topao und Bajo hatten sich merkwürdigerweise recht schnell damit abgefunden, dass diese Frau sich in ihr Leben gedrängt hatte und wagten es auch nicht, weitere Fragen zu stellen. Auf der großen Veranda wurden die vielen Speisen aufgetischt, alle drei waren sehr hungrig und freuten sich auf das Essen. Die Abendsonne tauchte die Szenerie in ein sanftes gelbes Licht. Für die Jahreszeit war es erstaunlich warm und die Luft war klar, sodass man sehr weit in die Landschaft blicken konnte. „Ist das Leben nicht wunderbar!“, rief Leandra in die Welt hinaus, vom Ausblick ganz entzückt. „Na, dann lasst es euch schmecken!“, sagte sie und lächelte in die ebenso glücklichen Gesichter ihrer beiden Begleiter.
Das Essen war vorzüglich, „Also, du hast mich sowieso schwer beeindruckt, aber deine Kochkünste sind jetzt noch die Krönung!“, bemerkte Topao. Zwischen den Gängen unterhielten sie sich über die Stadt: welche Tavernen sich lohnten, wo es gute Sachen zu kaufen gab und was für kuriose Gestalten so herumliefen. Nachdem sich Topao noch ein kleines Stückchen vom süßen Pistazienblätterteig gegönnt hatte, fiel er erschöpft in seinen Stuhl zurück: „Puh, war das lecker! Aber das darfst du nicht so oft wiederholen, sonst kannst du mich am Ende aus dem Palais herausrollen!“ Bajo pflichtete ihm bei und Leandra schleckte sich zufrieden um den Mund. Nach einer kurzen Ruhephase unterbrach Bajo das Schweigen und wagte es, nun doch einmal nachzuhaken: „Du musst zugeben, dass wir sehr höflich zu dir waren und dich gewähren ließen. Aber ich glaube, du bist uns jetzt doch mal eine Erklärung schuldig, Leandra.“ „Na schön, dann will ich euch nicht länger auf die Folter spannen, was wollt ihr denn wissen?“, entgegnete diese. Sofort begann Bajo, sie mit Fragen zu löchern: „Na eigentlich alles, aber vor allem: Woher kennst du Malvor? Du hast anscheinend einiges von ihm gelernt, das heißt doch, er war dein Lehrer, oder?“
Leandra setzte an zu erzählen: „Tja, das ist schon länger her, ich war noch recht jung, als er mich fand. Ich war ein nettes, bodenständiges Mädchen aus einem kleinen Fischerdorf, nahe den Salzfeldern an der Grenze zu Talikien. Eines Tages beschloss mein Vater, mit meiner Mutter, meinem Bruder und mir fortzugehen und in Mondaha ein neues Leben zu beginnen. Wir packten all unsere Habseligkeiten auf sein kleines Fischerboot und segelten die Küste hinab. Am zweiten Tag mussten wir ein paar Untiefen umschiffen und entfernten uns von der Küste. Ausgerechnet in diesem Moment zog urplötzlich ein Sturm auf. Der Wind wurde immer heftiger und mein Vater versuchte, irgendwie zurück zur Küste zu kommen. Doch dann geschah das Unglück; das Boot riss sich an einem Felsen, den man unter Wasser nicht sehen konnte, die ganze Seite auf. Im Nu waren wir gesunken und kämpften in den hohen Wellen um unser Leben. Dann weiß ich nur noch, dass mir die Zähne knirschten, vom Sand, der in meinen Mund geraten war, nachdem ich an einen kleinen Strand gespült wurde. Ich lief hin und her und hielt nach meinen Lieben Ausschau, aber auch als sich gegen Abend der Sturm gelegt hatte, konnte ich niemanden finden. Meine Familie habe ich nie wiedergesehen.“
Leandra starrte traurig ins Nichts. Auch die Männer schwiegen betroffen. „Da saß ich dann und hatte nur noch mein zerrissenes Kleid. Der Strand war an einem großen Wald gelegen und es gab dort keine Menschenseele“, fuhr sie fort, „Ich legte mich in eine Mulde und weinte fast die ganze Nacht.
Am nächsten Tag suchte ich nochmal alles ab, aber vergeblich. Das Schicksal hatte mir alles genommen! Ich heulte und schrie und verfluchte das Meer, als auf einmal ein Mann hinter mir stand. Ich erschrak und hatte Angst, doch wo sollte ich hin? Der Mann fragte mich aber ganz nett, was geschehen war und ich erzählte ihm vom Sturm. Ich klagte ihm mein Leid, dass alles verloren war und ich niemanden mehr hatte. Ich war verzweifelt und wütend und musste ständig weinen. Der Mann schaute mich eine Weile einfach nur an, bis ich mich beruhigt hatte. Dann sagte er, dass die Welt manchmal unerbittlich und hart sei, aber sie sei auch voller Wunder und Schönheit und ich müsse mich nun entscheiden: Entweder ich vergrübe mich in Trauer, Argwohn und Einsamkeit oder ich sähe das Unglück als einen Neubeginn meines Lebens, denn schließlich hatte der Tod mich ja verschont. Entweder würde er mich zum nächsten Dorf bringen und mich dort meinem Schicksal überlassen, oder aber er würde mich mitnehmen und mir die Welt aus seiner Sicht zeigen. Dafür müsse ich aber genau seinen Anweisungen folgen und es gäbe kein Zurück. Er beteuerte, dass er nichts Schlechtes im Sinn hätte und gut für mich sorgen würde. Ansonsten bliebe mir als letzte Möglichkeit nur noch, mich - dann aber gleich - in die Fluten zu stürzen und mein Leben zu beenden.
Was blieb mir schon übrig? Auch wenn ich todtraurig war, ich hatte immer gerne gelebt. Die Aussicht, in irgendeinem Dorf als Magd zu schuften oder gar als Dirne versklavt zu werden, war noch schrecklicher als der Tod. Also willigte ich ein. Der Mann schien aufrichtig und nett zu sein und ich hatte nichts zu verlieren. Später erzählte er mir, dass er tief in den Wald geritten war, um dort seltene Kräuter zu sammeln. Er war ungewöhnlich früh von seinem Nachtlager erwacht und wollte gerade weiter auf die Suche gehen, als ein Möwenschiss auf seinen Hut klatschte. Er wunderte sich, denn dort wo er war, kamen die Möwen in der Regel nicht hin. So folgte er der Möwe, die auffällig langsam flog, als würde sie ihm Zeit geben, hinterherzukommen. Und als er mich dann einsam am Strand stehen sah, wusste er, dass Leva uns zusammengeführt hatte. Die folgende Zeit half ich dem Mann, der sich mir nur als ‚Malvor‘ vorstellte, Kräuter zu sammeln, die wir dann auf kleinen Märkten verkauften. Mit der Zeit lehrte er mich immer mehr Dinge und ich musste sogar eine Weile in ein Loch, um mein altes Leben abzuwerfen.“ Bajo schmunzelte, als er das hörte, auch wenn er wusste, dass er diese Aufgabe nicht wirklich gemeistert hatte. „Als ich damit fertig war, war ich ein neuer Mensch! Malvor sagte, die Tatsache, dass ich noch so jung war und alles verloren hatte, hätte mir geholfen, diese Aufgabe so gut und schnell zu bewältigen. Auch wenn ich meine Familie nicht vergessen habe und es mich etwas traurig macht, wenn ich an das Unglück denke, habe ich allen Ballast hinter mir gelassen und bin wirklich neu! Dann kam eine harte Zeit. Wir gingen erst nach Lundi im Süden, dann nach Ginochi im Westen und zum Schluss nach Kontoria. Der Zauberer schleuste mich in Bauernhöfe, Gasthäuser und Betriebe ein, ich musste mich überall bewähren. Ich wurde sogar manchmal von meinen Arbeitgebern geschlagen, wenn ich nicht parierte und musste von früh bis spät schuften. In Ginochi musste ich sogar betteln gehen. Malvor sagte, ich müsse mich immer daran erinnern, dass man eigentlich nur das nackte Leben hat, so wie ich damals am Strand. Und man solle sich dieses Lebens erfreuen, egal ob man in der Gosse schläft oder ein Kontor führt und von silbernen Tellern isst. Und das habe ich dann tatsächlich. Malvor kaufte ein heruntergekommenes Kontor und ließ mich dort alles lernen, bis ich den ganzen Laden alleine schmeißen konnte. Zum Schluss war es ein solides Unternehmen mit hohen Umsätzen, als er es wieder verkaufte.
Diese Zeit mit dem Zauberer war zwar hart, aber auch schön und ich habe sehr, sehr viel gelernt. Eines Tages war er dann verschwunden. Ich war noch trauriger als damals am Strand, ich weinte und verzweifelte zwei ganze Tage lang! Doch ich fand einen Brief, in dem stand, dass ich fortan mein Leben alleine leben müsse. Und wenn ich es so machte, wie er es mich gelehrt hatte, würde ich ihn vielleicht wiedersehen. Zuvor käme aber jemand in mein Leben, der auf der Suche sei. Der Zauberer hatte nicht geschrieben, was derjenige sucht, nur dass ich es spüren würde, wenn derjenige käme. Ich besorgte mir eine Stelle in einem anderen Kontor und führte lange Zeit ein beschauliches Leben.
Ich hatte viele Verehrer, doch eigentlich waren sie alle Idioten. In meiner Lehrzeit hatte ich mir viele Sprachen angeeignet, aber ich sehnte mich nach jemanden, mit dem ich mal wieder Malikisch sprechen konnte. Ich traf eine Frau aus Mondaha, die mit ihren Brüdern auf der Amüsiermeile in Kontoria ein malikisches Kulturhaus mit Taverne betrieb. Es lag zwar mitten in der Dirnengasse, aber das machte mir nichts aus, ich besuchte sie, so oft es ging, denn wir verstanden uns prächtig. Und als ich eines Abends auf dem Weg zu ihr war, fiel mir etwas Ungewöhnliches auf. Malvor hatte mich ermahnt, auf die Zeichen, die einem die Welt gibt, zu achten. Direkt über dem Kopf eines Mannes, der am Tisch seinen Kaffee trank, vollführten zwei Motten ihren Liebestanz. Ich machte also einen Schlenker, um mir das genauer anzusehen und staunte nicht schlecht, als ich auf dem Tisch ein Muster aus Zahnstochern liegen sah, welches genau dem Wappen des Kontors glich, in dem ich arbeitete. Nun wurde ich neugierig und fragte in der Not einfach nach einem Stück Zucker. Aber du, Bajo, der du da am Tisch gesessen hast, schautest mich nur wie ein trauriger, geschlagener Hund an. Es kam keine Reaktion, also ging ich weiter und vergaß die Sache wieder, obwohl ich etwas zwischen uns gespürt hatte. Nachdem du allerdings da, im Gerümpel unter dem Balkon lagst, war mir klar, dass du mir gezeigt wurdest. Dumm war nur, dass du meinen Freunden entkommen bist. Ich brauchte zwei Wochen, um herauszufinden, wer du bist. Und als ich dich besuchen wollte, konnte mir keiner sagen, wo du warst.“
Durch Leandras Worte musste Bajo an Tante Nele denken und ihn überfiel ein Anflug von Traurigkeit. Doch da Leandra gleich mit ihrer Erzählung fortfuhr, hing er sofort wieder an ihren Lippen. „Einerseits war ich enttäuscht, andererseits war dein plötzliches Verschwinden aber auch ein weiteres Zeichen. Dieser Zwischenfall hatte mich aus der Bahn geworfen, ich wusste, dass es Zeit war, weiterzuziehen. Natürlich hielt ich noch eine Weile Ausschau, aber Stück für Stück regelte ich doch meinen Weggang und in diesem Frühjahr war es dann soweit. Da ich keinen blassen Schimmer hatte, wohin ich gehen sollte, entschloss ich mich, in mein Heimatland und dort nach Mondaha zu gehen. Am Eronsee musste ich die Kutsche wechseln, aber es war kein Platz mehr frei. Ich versuchte es einen Tag lang und musste sogar die Nacht über in eine Herberge gehen. Am nächsten Tag war es das gleiche Spiel, alles war ausgebucht. Ein netter Handlungsreisender riet mir dann, einen Umweg über Schichtstadt zu nehmen, was ich auch tat. Beim Umstieg hatte ich noch etwas Zeit und bummelte über den großen Markt und, was soll ich sagen, da stand der Herr und knabberte vergnügt an einer Kümmelstange! Von da an heftete ich mich an deine Fersen und sah auch, wie du heimlich mit dem Wuko übtest, das ich ebenfalls von Malvor kannte. Da konnte es keinen Zweifel mehr für mich geben, du musstest für mich eine Bedeutung haben! Ich musste also nur noch den richtigen Zeitpunkt abwarten, um mit dir Kontakt aufzunehmen. Als ich dann deine Geschichte mitanhörte, wusste ich, dass dieser Zeitpunkt gekommen war. Und den Rest kennt ihr ja“, schloss Leandra.
„Ich kann es nicht fassen, dass du uns so unbemerkt verfolgen konntest“, ereiferte sich Topao. „Ich kann das ALLES nicht fassen!“, gab Bajo zu bedenken. Er war wie paralysiert und rief sich die Geschehnisse aus Kontoria nochmal in Erinnerung. Hätte Leandra es nicht erwähnt, hätte er nicht einmal mehr gewusst, dass er richtig schöne Muster auf dem Tisch gelegt hatte. In der längeren Pause, die nun entstand, baute sich eine unheimliche Spannung auf. Es war, als würde ein Gefühl plastisch werden und kurz vor einem Knall stehen, aus dem sich eine Wahrheit offenbaren würde. Auf einmal sah es Bajo glasklar vor Augen: „Natürlich, du bist ein weiterer Gefährte!“ Und gleich darauf fügte er hinzu: „Ich meinte natürlich Gefährtin. Ich Dummkopf, ich habe bei Gefährten immer nur an Männer gedacht!“ „Na du bist ja ein ganz Schneller…“, stichelte Leandra grinsend.
„Wenn ich an deine Aufgabe denke, die Malvor dir gegeben hat, solltest eigentlich du die Gefährten finden. Aber Leandra hat da wohl eher dich aufgespürt…“, warf Topao ein. „Na ja, wir lassen einfach mal dein Schlamassel in der Kloake der Dirnengasse gelten…“, verteidigte Leandra Bajo. „Er hat mich halt gefunden, bevor er überhaupt von seiner Aufgabe wusste!“ Die drei lachten befreit auf und schauten sich gegenseitig an. Dabei wurden sie nun von einer kribbeligen Stimmung erfasst und wippten auf ihren Stühlen umher. „Wie soll es jetzt weitergehen?“, fragte Topao in die Runde. „Ich weiß nicht, ich finde das alles einfach nur aufregend“, antwortete Leandra, „ich habe mich lange nicht so gut gefühlt. Es ist manchmal auch ganz spannend, wenn man nicht genau weiß, was als nächstes kommt.“ Bajo stimmte ihr zu: „Das geht mir auch so. Ich bin einfach nur froh, dass ich euch gefunden habe und ich bin mir sicher, was auch kommen mag, wir werden das schon meistern.“ „Wir haben noch ein paar Tage, bevor hier die Belegschaft wieder einkehrt“, erklärte Topao, „Leandra kann für diese Zeit gerne ein Zimmer hier haben. Aber dann müssen wir uns was einfallen lassen. Ihr beide müsst euch irgendetwas anderes suchen. Ich muss noch bleiben und meinem Vetter die Räumlichkeiten präsentieren und habe dann die Ehre mit ihm zum Fest im Palast zu gehen.“ „Oh, du Glücklicher!“, schwärmte Leandra, „Einmal auf einem der berühmten Feste von Schichtstadt mitfeiern, das wäre was…“ „Es tut mir leid, Leandra, ich kann euch wirklich nicht mitnehmen, dass ich selbst dorthin darf, ist schon eine große Ausnahme“, bedauerte Topao. Doch Leandras Tatendrang konnte dies nicht trüben: „Lea, nennt mich Lea, schließlich sind wir ja jetzt Gefährten. Und doch. Bajo und ich werden auch dort sein, auch ohne deine Hilfe, darauf kannst du dich verlassen.“ Freudig rief Bajo: „Lea, Toppi, und Bajo weilen unter Königen, wenn das kein neues Abenteuer ist, dann weiß es ich auch nicht!“
Beim Frühstück am nächsten Morgen war es ungewohnt für die beiden Männer, dass nun auch eine Frau dabei war und diese neue Situation sollte schon bald einiges verändern. Leandra bat Topao ihre Sachen in dem Gasthaus abzuholen, wo sie ein kleines Zimmer gemietet hatte. Es kostete sie sehr viel Kraft, sich ‚unsichtbar‘ zu machen, wie sie sagte, und sie wollte ihre Kraft lieber für die kommenden Dinge aufsparen. So gab sie ihm einen Brief mit, in dem sie sich für ihren spontanen Aufbruch entschuldigte und die Wirtin bat, Topao ihre Habseligkeiten auszuhändigen. Als er gegangen war, zog sie Bajo mit sich zur kleinen Bank vor dem Teehaus. Ein Bäumchen spendete ihnen dort Schatten, vor der schon heiß werdenden Sonne und sie konnten von da aus, den phänomenalen Ausblick genießen. Bajo bewunderte Leandras ruhige selbstsichere Art und ihre außerordentliche Schönheit. Nun schaute sie aber recht ernst, fast besorgt.
„Du hast gesagt, dass Malvor zum Sterben in die Berge gegangen ist, wie kommst du darauf?“, ihr Tonfall war vorwurfsvoll und Bajo fühlte sich von ihrem plötzlichen Stimmungswechsel überrumpelt. „Ich weiß es nicht genau, ich habe ja auch gesagt, ich GLAUBE, dass er das getan hat“, verteidigte er sich. „Er überließ mir alle seine Sachen und ich musste das schöne Baumstumpfhaus vernichten. Nur das Valdeyak hat er mitgenommen und er war doch auch schon alt…“ „Pah, das heißt doch gar nichts! Bestimmt wollte er dich bloß loswerden und du hattest nur Glück, dem Grauenwald entkommen zu sein“, schnauzte Leandra. Völlig perplex starrte Bajo sie an: „Was ist denn mit dir los, Lea, was habe ich dir getan?“ „Was du getan hast? Malvor ist bestimmt an dir verzweifelt, weil du so dumm bist! Du hast ihm die letzte Kraft geraubt und ihn in die Berge getrieben. Du hast ihn mit deiner Dummheit getötet!“ Leandra konnte sich nicht mehr beruhigen und weinte vor Wut.
Bajo verstand die Welt nicht mehr, am Tag zuvor war sie, wie ein Heilsbringer, in sein Leben getreten und jetzt machte sie ihm Vorwürfe, für Dinge, die er nicht einmal verstand. Er wusste nicht, was er tun sollte und wollte Leandra, die ihr Gesicht in den Händen vergraben hatte, den Arm um die Schulter legen und sie beruhigen. Doch bei der ersten Berührung sprang sie auf und schlug ihm mit dem Handrücken ins Gesicht. „Was? Willst du mich jetzt auch noch angraben? Willst du jetzt der große Meister sein und ich muss dir dienen?“, schrie sie ihn an. „Aber ich glaube nicht, dass Malvor tot ist! Es kann einfach nicht sein! Er hat mir versprochen, dass wir uns wiedersehen!“, vollkommen in Rage stampfte Leandra zurück ins Haus und ließ einen total verwirrten Bajo im Garten zurück. Er versuchte, sich selbst zu beruhigen, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Da wurde ihm mit einem Mal klar, wie sehr Leandra an Malvor hing. Er war gewissermaßen ihr Ersatzvater gewesen und sie hatte wesentlich mehr Zeit mit ihm verbracht als Bajo selbst. Und nun hatte er behauptet, Malvor wäre tot, wo sie doch von der Hoffnung lebte, ihn wiederzusehen. Kein Wunder, dass sie so außer sich war! Auch wenn er sich selbst sicher war, dass Malvor nicht mehr auf dieser Erde weilte, so ärgerte sich Bajo doch maßlos, dass er dessen Tod angedeutet hatte, ohne es wirklich zu wissen.
Geknickt trottete Bajo zurück ins Haus. Topao musste schon wiedergekommen sein, denn er hörte Stimmen in der Küche. Als sein Blick von der großen Eingangshalle über den Gang hinein in die Küche wanderte, zerriss es Bajo das Herz. Topao und Leandra standen dort eng umschlungen; Lea weinte an seiner Schulter und er streichelte ihr über das Haar. Nicht, dass Bajo bewusst etwas von Leandra gewollt hätte, aber er fühlte sich plötzlich wie ein betrogener Ehemann, der seine Frau in flagranti ertappt hatte. Topao bemerkte ihn und wollte etwas sagen, doch da war Bajo schon aus der Tür. Sein Körper spürte nichts mehr außer Schmerz. Wie in Trance gelangte er durch die Stadt nach draußen in die Hügel. Es war, als würden seine Gedanken wie Sperrfeuer auf ihn niederprasseln, bis er es nicht mehr aushielt und neben einem Busch zusammenbrach.
Irgendwann öffnete Bajo langsam die Augen - er war wie benebelt und wusste nicht, wo er war. Verwirrt musterte er die Sohlen der Stiefel, die er in einiger Entfernung ausmachen konnte. Sie waren wie die seinen aus dem Harz der Schneetanne. Seine Augen wanderten höher und er konnte eine Gestalt erkennen. Da saß ein Mann, der wie Malvor aussah. Aber dieser erschien ihm etwas jünger, der Spitzbart war ordentlicher und nicht so krautig. Auch waren die Farben seiner Kleider andere. Bajo kroch ein Stückchen weiter zu einem Felsen, richtete seinen Oberkörper auf und lehnte sich gegen den Stein. Das alles konnte er nur sehr langsam tun und er wurde einfach nicht klar im Kopf. „Wer bist du“, brachte er mühsam hervor. „Sagen wir, ich bin ein alter Bekannter…“, antwortete der Mann. Es war Malvors Stimme! „Malvor, bist du das?“, krächzte Bajo, immer noch unter großer Anstrengung. „Ja, ich bin es. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Wichtig ist, dass du nicht von deinem Weg abkommst!“ Bajo wunderte sich zwar, dass Malvor da war, aber er war viel mehr damit beschäftigt, den Sinn von dessen Worten zu erfassen. „Du hast dich bis hierher tapfer geschlagen… Du hast es geschafft, den Wald zu verlassen… Deine ersten beiden Gefährten sind nun bei dir...“, fuhr die Stimme fort und machte zwischen jedem Satz eine Pause, damit Bajo das Gesagte aufnehmen konnte. „Aber dein Schatten schaut nicht tatenlos zu… Er hat seine Chance gewittert und gnadenlos zugeschlagen…“ Bajo konnte den Worten einigermaßen folgen und fragte langsam: „Wie hat der Schatten das gemacht?“ „Er hat deine Schwäche ausgenutzt, dein Problem mit den Frauen…“ Das war wieder ein Stich in Bajos Herz.
Er wusste um seine Schüchternheit und um seine Ungeschicktheit. Wenn Frauen etwas von ihm wollten, bemerkte er es nicht oder wusste nicht, was er dann tun sollte. Er konnte einfach nicht die üblichen ‚Liebes-Spielchen‘ spielen, wenn es darum ging, einander auszuloten. Und direkt zu sagen, was er empfand oder wollte, dazu war er zu feige. So war er über die Jahre eigentlich immer nur heimlich verliebt gewesen und wurde mit der Zeit unnahbar. Bajo dachte an die schönen Frauen, die er einst begehrt hatte… und an Leandra… Wieder zog sich sein Herz zusammen, bis Malvors Stimme ihn aus seinen Gedanken riss: „Du hast dich in Leandra verknallt, nicht wahr…?“ Bajo schaute wieder zu dem Mann auf, Tränen liefen ihm die Wangen herunter. „Du darfst jetzt nicht von deinem Weg abkommen… Die Schatten wollen dich und deine Gefährten auseinanderbringen… Lass das nicht zu… nicht zu… nicht zu…“, hallte es in Bajos Ohren und dann sah er nur noch zusammenhanglose Szenen mit Malvor, Leandra und Topao, Männern und Frauen, die er nicht kannte, Soldaten, Schiffen und schließlich wurde es vollkommen schwarz.
Die Nässe weckte Bajo, er mochte es nicht, wenn es feucht und klamm war. Er lag neben einem Felsen in den Hügeln, es hatte angefangen zu regnen und war mittlerweile schon fast dunkel. Drückend brummte Bajos Schädel und er wusste zunächst gar nicht, was los war. Aber dann erinnerte er sich, dass Malvor da gewesen war, oder zumindest ein Mann, der genauso aussah und so sprach wie Malvor. Und er wusste noch, dass dieser ihn vor den Schatten gewarnt hatte. „Lass das nicht zu!“, murmelte Bajo dessen letzte Worte nach. Schließlich fiel ihm wieder ein, warum er aus dem Palais geflüchtet war. Jetzt fand er sich doch recht albern. Ja, Lea hatte ihn angeschnauzt, aber das hatte er sich ja schon selbst erklärt. Und dass sie in Topaos Armen lag… Na ja, sie hat sich bei ihm ausgeweint. Und überhaupt, er kannte sie doch seit zwei Tagen erst richtig und schon spielte er den Eifersüchtigen. „Wie auch immer, es ist mir zu nass!“, sagte Bajo zu sich selbst, stand auf und suchte den Pfad zurück zur Stadt. Der Regen und der Fußmarsch hatten ihn wieder zurechtgerückt. Als er oben ankam, fühlte er sich besser. „Wo warst du denn bloß?“, rief Leandra, als er zur Tür hereinkam. „Wir haben uns große Sorgen gemacht!“, ergänzte Topao vorwurfsvoll. „Ich musste mal alleine sein“, entgegnete Bajo nur trocken. Leandra kam zu ihm und ergriff seine Hände: „Verzeih mir bitte, dass ich dich so angefahren habe. Es ist überhaupt nicht meine Art, aber dass Malvor tot sein soll, hat mich wohl doch zu sehr mitgenommen. Und es ist gewiss auch nicht deine Schuld.“ „Ist schon in Ordnung“, winkte Bajo ab, „ich weiß, wie viel er dir bedeutet hat… bedeutet. Und du hast ja auch recht, er ist gegangen und hat meine Lehrzeit damit beendet. Wer weiß schon, ob das nicht auch einer seiner Tricks war. Vielleicht ist er ja jetzt bei den Balden und erzählt gerade Anekdoten über uns.“ Er zwinkerte Leandra aufmunternd zu, löste seine Hände und ging weiter Richtung Badehaus: „Ich brauche jetzt ein warmes Bad, sonst werde ich am Ende noch krank“. Später aßen sie zusammen zu Abend. Die Stimmung war gedrückt und Bajo entschuldigte sich, um früh schlafen zu gehen. Seinen Zusammenbruch und die Erscheinung von Malvor erwähnte er nicht. Er konnte das selbst noch nicht richtig einordnen und es würde ihm sowieso die Kraft fehlen, die Sache mit den anderen an diesem Abend noch zu bereden.
Leandra stand mit einem Tablet vor ihm. Bajo war gerade wach geworden und fragte sich, wie spät es wohl war. Als würde sie seine Gedanken erahnen, sagte sie: „Es hat schon zur neunten Stunde geschlagen, du kleiner Langschläfer. Ich habe dir ein Versöhnungsfrühstück gemacht.“ Dabei lächelte sie so unwiderstehlich, dass Bajo sofort gute Laune bekam. „Oh, das ist lieb von dir, Lea! Was ist denn das hier, das riecht ja wunderbar?!“ Er meinte die kleinen Blätterteigrollen, die mit Feigen, Schokolade oder Marmelade gefüllt waren und direkt aus dem Ofen kamen. „Das ist ein concorsisches Rezept“, erklärte Leandra, „ich weiß schon, dass du es morgens nicht so deftig magst.“ Bajo war irgendwie kaputt und deshalb froh, erst einmal in Ruhe eine Stärkung zu sich nehmen zu können. Lea hatte sich auf die Bettkante gesetzt: „Ich werde heute doch nochmal nach unten gehen. Wenn wir hier raus müssen, brauchen wir ja ein Dach über den Kopf, das werde ich regeln. Und dass wir auf dem Fest dabei sein werden, war kein leeres Versprechen, nur wird es vielleicht nicht so sein, wie du dir das vorstellst.“ „Und das heißt…?“, fragte Bajo neugierig. „Warte ab, noch ist es ja nicht soweit. Komm erstmal in die Gänge, heute Nachmittag werde ich zurück sein.“ Ehe Bajo etwas sagen konnte, war sie auch schon wieder aus seinem Zimmer verschwunden.
Nach der Morgentoilette wanderte er durch die Räume des Anwesens. Topao hatte schon am Vorabend angekündigt, den Vormittag bei einem Schneider in der zweiten Schicht zu verbringen, weil dieser ihm eine Garderobe für das Fest anfertigen sollte. Bajo sah sich alles genau an und entdeckte viele Kleinigkeiten, die ihm vorher nicht aufgefallen waren, oder die später von einem der Handwerker nachgebessert worden waren. Er war rundum zufrieden und auch ein wenig neidisch auf den Vetter, der nun den Sommer über im Palais residieren konnte. „Immerhin hatte und habe ich auch ein paar schöne Tage hier, was will ich mehr?“, tröstete er sich und schlenderte hinaus in den Garten. Dort setzte sich Bajo auf die Bank und zog ein wenig Resümee über die vergangene Zeit. Es war wirklich einiges passiert, wesentlich mehr als in all den Jahren in Kontoria vor seinem Verschwinden. Früher hätten ihn so viele Turbulenzen eher geschwächt, doch jetzt ging er gestärkt daraus hervor. Und was noch besser war; er nahm die Dinge gelassener, ließ sich nicht mehr so einfach von seinen Gefühlen in Zorn, Zweifel, Hass oder Selbstmitleid treiben. Tja, bis auf den Tag zuvor natürlich; die Sache mit Leandra und seiner Eifersucht. Aber auch diesen Vorfall hatte Bajo schon fast wieder verdaut. Vor seinem Leben als wahrer Kämpfer hätte es wohl Wochen gedauert, bis er sich wieder eingekriegt hätte. Jetzt hatte er zwar über die Geschehnisse nachgesonnen, aber er spekulierte nicht weiter darüber. Nur das mit Malvor war merkwürdig. Er erklärte sich das Ereignis als eine Art Wachtraum und immerhin hatte es ja auch bewirkt, dass er nicht böse auf die anderen war.
Bajo verspürte das Bedürfnis, sich zu bewegen und so nutzte er die Zeit ausgiebig für seine Übungen. Es störte ihn auch gar nicht, dass Topao schon nach kurzer Zeit vom Schneider wieder zurückkam. Im Gegenteil. Ihm war die Idee gekommen, dass er doch Topao einiges zeigen könnte. Was für ihn gut war, sollte wohl auch Topao nicht schaden. Pünktlich zum Nachmittagstee traf Leandra ein. Ihr strahlendes Lächeln machte die beiden Männer fröhlich und neugierig zugleich. „Na, wie ist es gelaufen?“, wollte Topao sofort wissen. „Alles eingefädelt! Bajo und ich werden in ein größeres Zimmer ziehen, wenn die Belegschaft wieder hierherkommt. Ich habe gesagt, du wärst mein Cousin aus Großmittenland und möchtest dir, während deines Aufenthaltes hier, ein paar Kupferstücke verdienen. Die Wirtin stellt für die Feste immer ein paar ihrer Leute zur Verfügung, die dort servieren oder in der Küche helfen. Ich habe uns beide als Servier- und Küchenhilfen angeboten und wir werden dabei sein. So wie versprochen!“ Bajo machte ein dummes Gesicht. Im Geiste sah er sich schon als Eroberer einer Prinzessin, die sich spontan in ihn verliebt hatte. Etwas überrascht bemerkte er: „Als Laufbursche also… Na ja, dabei sein ist alles! Dann brauche ich mir ja auch keine Gedanken mehr machen, was ich anziehen soll...“
Etwas später aßen sie die restlichen Blätterteighörnchen vom Morgen, tranken Tee und Leandra und Bajo fragten Topao nach seinem Vetter und der königlichen Familie aus. „Komm Topao, wann erfährt man schon mal von solch Dingen aus erster Hand?“, bettelte Leandra, da sich Topao doch etwas wortkarg gab. Der wiegelte ab: „Ich bin nur bei ein paar Festen der Familie meines Vetters dabei gewesen. Die waren aber immer sehr formell und langweilig. Keiner von den hohen Herrschaften gibt sich da die Blöße. Nur am Schluss, wenn reichlich Alkohol geflossen war, kam der eine oder die andere aus sich raus. Aber letztendlich war es dann auch nur Gejammer über das ‚schwere Los‘, ein Adliger zu sein. Oder es wurde aus Missgunst über Rivalen gelästert und mancher schüttete sein Herz über eine zerbrochene Liebe aus. Alles in allem also wie im Leben der normalen Leute, nur die Szenerie ist dekadent und Gold spielt keine Rolle. Beim Fest des Peschmars, das hier alle dreißig Tage stattfindet, gab es allerdings wohl schon so einige Skandale, Könige und Fürsten, die sich blamiert haben. Und an einigen Orten in den Palastanlagen soll es am Ende sehr frivol und obszön zugehen.“ „Na, dann haben wir uns ja das richtige Fest ausgesucht!“, jubelte Bajo. „Vergiss nicht, dass du nur zum Bedienen da bist!“, zügelte ihn Leandra. „Bedienen?... Ja, die eine oder andere Königin oder Prinzessin würde ich auch gerne bedienen, wenn sie es verlangt…“, Bajo grinste frech und konnte sich diesen, doch eher dämlichen, Spruch als Seitenhieb auf die gestrige Szene nicht verkneifen. Neckend erwiderte Leandra: „Sei nicht albern, nicht mal im Vollrausch würde sich eine mit dir einlassen… Na, vielleicht die Fürstin Mutter von Hembrock… mit ihren über 80 Jahren…“
Topao merkte, dass sich da wieder etwas zwischen den beiden aufschaukelte und wechselte abrupt das Thema: „Es sind ja noch ein paar Tage hin. Überlegt lieber mal, was wir bis dahin mit der kostbaren Freizeit anfangen wollen.“ „Du hast recht, Toppi“, stimmte ihm Bajo zu, „Und verzeih mir bitte meinen blöden Spruch, Lea.“ „Ich meinte es auch nicht so, aber wenn man mich reizt…“, lenkte sie ein. „Ich habe Toppi vorhin ein paar Kraftübungen gezeigt. Die müsstest du doch auch von Malvor kennen, oder?“, fragte Bajo. „Sicher, er hat mir vieles beigebracht, auch Kraftübungen.“ „Was hältst du denn davon, wenn du mir die zeigst?“, schlug Bajo vor, „Dann können wir uns austauschen. Und nebenbei können wir die auch Toppi beibringen.“ Lea zögerte und überlegte eine Weile: „Na schön, ich denke, es spricht nichts dagegen, vielleicht kannst du ja was, was ich noch nicht kenne. Malvor sagte mir über einige Übungen, dass sie speziell für Frauen wären, aber wenn du willst, zeige ich dir diese auch.“ Also gingen sie zusammen zu einem Stück freier Fläche in den Garten hinaus und Bajo und Leandra machten sich gegenseitig vor, was sie gelernt hatten. Es gab viele Gemeinsamkeiten, einiges führten sie unterschiedlich aus und ein paar Dinge waren für den anderen völlig neu. So verbrachten sie den Nachmittag damit, die neu gelernten Übungen zu wiederholen, wobei Topao natürlich alles ganz von Grund auf lernen musste. Erst als es fast dunkel war, hörten sie auf. Die Spannungen hatten sich jetzt endgültig gelöst, Leandra übernahm wieder die Führung in der Küche und sie verbrachten bei köstlichen Speisen einen fröhlichen Abend.
Auch am nächsten Tag setzten sie ihre Übungen fort. Leandra trug eine enganliegende Hose, darüber ein schlichtes, längeres weißes Hemd mit einem Gürtel darum, sodass es aussah wie ein kurzes Kleid, dazu leichte Schuhe mit den gleichen Sohlen, wie Bajo sie hatte, und eine kurze Jacke in dunkelrotem und schwarzem Muster. Es war erstaunlich, wie sehr sie ihr Erscheinungsbild verändert hatte, von einem kecken Mädchen zu einer kleinen Kämpferin. Solch perfekte Verwandlungen hatte sie wohl in ihren Jahren mit Malvor erlernt.
Am frühen Nachmittag wollten sie gerade wieder loslegen, als Leandra geschäftig im Garten umherlief und überall alte, kleine und größere Dosen aufstellte, die sie im Abstellraum der Bediensteten gefunden hatte. Bajo und Topao, die sich etwas wunderten, wurden von ihr auf die Terrasse verwiesen. Dann stellte sich Leandra in der Mitte des Gartens auf, holte etwas aus ihrer Tasche hervor und begann mit einigen Bewegungen, mal langsam, mal schnell. Irgendwann ging eine der Abfolgen darin über, dass etwas in ihrer linken Hand umherwirbelte. Die beiden Männer staunten nicht schlecht, Leandra hielt eine Steinschleuder in der Hand! Mit einem präzisen und wuchtigen Wurf, schoss sie die erste Dose um. Nach einer eleganten Umdrehung hatte sie schon wieder den nächsten Stein geladen und ein weiter Becher fiel. Wie in einem Tanz traf Leandra nacheinander alle zwölf Dosen, die sie aufgestellt hatte, und jede sprang mit einem Knall in die Beete. Nun staunten die beiden noch mehr und schauten sich mit offenen Mündern an. „Da schau her! Was nicht so alles in einer so netten, hübschen Dame stecken kann…“, wunderte sich Topao. Auch Bajo war sichtlich beeindruckt: „Alle Achtung! Das war ja eine Wahnsinnsvorstellung! Hat dir das Malvor beigebracht?“ „Was glaubst du wohl…?“, japste sie, noch ganz außer Atem. „Du bist nicht der Einzige, der eine Waffe bekommen hat. Diese Schleuder ist auch von den Balden. Sie ist aus besten Materialien hergestellt und wenn man einen Schrei dazu ausstößt, der von ganz innen kommt und mit aller Macht auf den Feind gerichtet ist, ist der Treffer absolut tödlich.“ Bajo erinnerte sich plötzlich daran, das Malvor ihm zu seinem Wuko etwas Ähnliches erzählt hatte. Er meinte aber, dass dies für Bajo nur bedingt gültig sei, da dieser das Wuko mit der rechten und nicht mit der linken Hand führte. Er hatte so einen Schrei sogar üben müssen, allerdings ohne dabei das Wuko zu benutzen.
Leandra kam grinsend zurück, nachdem sie alle Steine wieder eingesammelt hatte. Diese waren so groß wie Walnüsse, kugelrund und für ihre Größe recht schwer. Leandra winkelte den rechten Arm etwas an und ließ die Steine, einen nach dem anderen, in den Ärmel ihrer Jacke rollen. Bevor die Männer fragen konnten, zeigte sie ihnen, dass in das Innere des Ärmels eine längliche Lederhülle eingenäht war, die genau zwölf Steine aufnehmen konnte. Eine spezielle Schlaufe verschloss das Ganze. Mit einem Griff der rechten Hand konnte Lea die Schlaufe lösen und mit dieser auch die Schleuder in ihrer Linken immer wieder blitzschnell nachladen: „Malvor hat mich gelehrt, dass ich es schaffen muss, überall zu überleben. Daher zeigte er mir auch, mich in der Wildnis durchzuschlagen und wie man jagt. Diese Steinschleuder wurde dabei zu ‚meiner‘ Waffe.“ „Dann sind wir ja gut gerüstet, falls wir mal in Bedrängnis kommen sollten“, bemerkte Bajo hocherfreut. Er drehte sich zu Topao um: „Fehlt eigentlich nur noch, dass du eine Waffe beherrschst." „Na ja, ich für meinen Teil halte mich da lieber an die herkömmlichen Arten“, erklärte dieser, „Ich will ja nicht prahlen, aber mit dem Schwert war ich immer einer der Besten. Schon als Junge habe ich mit meinem Cousin fleißig geübt, welcher seine Laufbahn dann auch in der malikischen Armee eingeschlagen hat. Ich habe ihn immer mal wieder für eine Zeit im Ausbildungslager besucht und durfte mich dort beweisen. Jedes Mal wollte der Kommandant mich überreden, doch zu ihnen zu stoßen. Wartet kurz, ich habe mein Schwert sogar mit hierhergebracht.“ Kurz darauf kam Topao mit seinem Schwert in der einen und einem kleinen Beutel Kartoffeln in der anderen Hand zurück. Er zeigte es den beiden und sie nahmen es auch mal in die Hand. Leandra bemerkte, dass ihr die Waffe viel zu schwer sei, Bajo hingegen fand sie relativ leicht, jedenfalls im Gegensatz zu dem Schwert, welches er einmal in Kontoria bei seinem Freund ausprobiert hatte. Nun drückte Topao jedem ein paar Kartoffeln in die Hand und bat sie, auf Zuruf die Knollen im Bogen auf ihn zu zuwerfen, wobei Bajo anfangen sollte. Zunächst schwang Topao die Waffe locker umher und vollführte sehr geschickt einige einstudierte Bewegungsabläufe. Dann hieß er die beiden, die Kartoffeln zu werfen. Mit schnellen kräftigen Hieben durchtrennte er diese und wirbelte dabei geradezu umher. Die letzte schließlich spießte er auf, indem er sie, bei einem Ausfallschritt, mit der Spitze voran durchbohrte. „Alle Achtung!“, lobte ihn Bajo. „Und sehr anmutig in deinen Bewegungen“, ergänzte Leandra. „Jedenfalls werde ich mich im Fall der Fälle nicht kampflos ergeben…“, erwiderte Topao grinsend.
Die drei waren auf den Geschmack gekommen und legten in den nächsten Tagen den Schwerpunkt auf ihre Leibes- und Kampfübungen. Aber selbstverständlich genossen sie auch die Vorzüge des Anwesens und ließen es sich gut gehen. Drei Tage später war es dann soweit, Leandra und Bajo zogen in die Herberge in der untersten Schicht und die Belegschaft des Palais quartierte sich wieder ein. Nach weiteren zwei Tagen standen dann schließlich vier Sänften und etliche Lastenkarren vor dessen Tür. Vetter Ireb und Prinzessin Meliva sowie deren Sohn und die zwei Töchter bezogen ihr Sommerquartier. Sie waren hocherfreut über die Umbauten und entlohnten Topao fürstlich, obwohl dieser beteuerte, sich auch mit einem Bruchteil zufrieden zu geben. Schon am übernächsten Abend sollte dann das große Fest steigen.