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1.1 Kontoria

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1. Kapitel - Bajo

„Bajo! Bajo, sieh auf deine Hände! Sieh auf deine Hände!“, Bajo starrte den Mann vor sich an und begann, langsam seinen Kopf zu senken. Als er seine Hände erblickte, die er mit aufgespreizten Fingern vor sich hielt, wurde er sich seiner plötzlich ganz bewusst. Es war ihm klar, dass er sich an irgendeinem Ort befand, aber es war nicht sein Zuhause! Er blickte auf und sah wieder diesen freundlichen Mann vor sich. „Bajo, es ist Zeit aufzubrechen, verliere keine Zeit mehr!“, sagte dieser.

„Bajo, Bajo, wach auf, es ist Zeit für die Arbeit!“, rief dessen Tante Nele, bei der er wohnte und die ihn immer weckte, wenn Bajo einmal verschlief. Abrupt öffnete er die Augen. Wie betäubt lag er da, er fühlte sich seltsam. Da war er wieder, dieser Mann. Schon oft hatte er ihn im Traum gesehen, doch sobald er wach war, hatte er nach kurzer Zeit alles vergessen, was er geträumt hatte. Bajo versuchte, sich nun schnell zu erinnern. „Es ist Zeit aufzubrechen, verliere keine Zeit mehr“ - aber wohin sollte er aufbrechen? „Und ja, stimmt, das hat er schon mal zu mir gesagt, aber wohin nur soll ich gehen?“, dachte sich Bajo. Während er angestrengt versuchte, sich das Gesicht des Mannes erneut vor Augen zu holen, ermahnte ihn die Stimme von unten erneut, aufzustehen und alles verblasste. „Oh, wie ich mein Leben hasse!“, fluchte Bajo, schleppte sich zum Fenster seines Baumhauses und gab seiner Tante Nele zu verstehen, dass er wach war.

Ja, Bajo Tisterbrock lebte tatsächlich in einem Baumhaus. Als er damals zu seiner Tante zog, schlief er anfänglich noch unten in ihrem Häuschen, in einem kleinen Zimmer. Doch nicht nur, dass dieses Zimmer zu klein war, seine Tante Nele rauchte auch ständig ein Pfeifchen mit Timberkraut, und dieser Gestank machte Bajo wahnsinnig. Außerdem schnarchte Tante Nele so laut, dass er oft nachts kein Auge zu tat.

Eines Morgens wandte sich Bajo, nach so einer schlaflosen Nacht, gen Himmel und flehte: „Wenn es irgendeine Macht auf dieser Erde gibt, so möge sie mir einen Ausweg zeigen, denn ich halte es nicht mehr aus!“ Erwartungsvoll starrte er weiter nach oben, doch nichts geschah. Als er den Kopf senkte, wollte er schon fluchen, dass ihm, wie immer, nichts und niemand helfen würde, da fielen ihm auf einmal die zwei großen, dicken Eichen auf, die hinten im Garten standen. Und wie er sie genauer betrachtete, kam ihm plötzlich die Idee, dass er dort oben wohnen müsste, frei vom Rauch und Schnarchen und ja, vielleicht sogar frei von all seinen Sorgen! So machte er sich also daran, das alte Werkzeug aus dem Schuppen zu holen. Vom Schreiner Hoblin erhielt er günstig einige Holzreste und vom Schmied Hammertreu besorgte er sich Nägel und Scharniere. Jeden Tag nach der Arbeit werkelte er voller Freude an seinem neuen Heim und binnen eines Monats hatte er es tatsächlich geschafft: Ein großer Raum mit zwei Fenstern und einer Tür und selbstverständlich einem Dach darüber. Darin ein breites flaches Bett, ein alter Kleiderschrank, ein Tischchen und zwei Stühle, ein Regal und sogar ein kleiner alter Bollerofen, der ihm im Winter Wärme spendete.


Der Clou des Ganzen war eine große Veranda, über welcher ein Holzbrett mit einer Lehne an vier Seilen hing. Zwei dicke Kissen ließen ihn darauf sitzen wie ein likischer König. Dies war Bajos Lieblingsplatz! Mit Hilfe eines geschickt konstruierten Seilzugs war es ihm möglich, den Sessel in alle Richtungen zu drehen. Von dort aus konnte er die gesamte Nachbarschaft im Auge behalten, sogar bis zum Wasserplatz von Helmershorst und der dortigen Schenke ‚Zum kleinen Garten‘ konnte er sehen. Oder aber er drehte sich in die andere Richtung und schaute in die Ferne über den Fluss, Wiesen und Felder hinweg in die Morgensonne und träumte von einem besseren Leben.

„Bajo, es wird Zeit, dein Muggefugg wird sonst kalt!“, schallte es wieder von unten. „Jaja, ich komme ja schon“, krächzte Bajo hinunter. Immer noch wie im Tran zog er sich an, in Gedanken bei dem Mann aus dem Traum. „Ja, weg will ich hier schon lange“, dachte er sich, „Aber wohin nur soll ich gehen?“

Bajo musste sich sputen, um noch rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. Helmershorst war ein äußerer Teil von Kontoria, der Hauptstadt von Großmittenland oder auch Großmittenreich, wie es viele ältere Bewohner noch nannten. Außerdem war Kontoria eine große Handelsmetropole, in der das Geld regierte und das Hauptkontor, wo er arbeitete, lag mitten im Zentrum. Es waren über die Jahrhunderte sehr viele Menschen zugezogen, sodass die Stadt immer größer und breiter wurde und verschiedene Viertel entstanden. Die ursprünglichsten waren das Hafen-, das Kontors- und das Palastviertel. Die Handwerker wurden aus diesen Stadtteilen verdrängt und siedelten sich, in verschiedene Berufe unterteilt, im Handwerkerviertel neu an. Währenddessen wurden in den Randdörfern ein Haus und ein Hof nach dem anderen abgerissen und Mietshäuser gebaut. Zur Unterhaltung der hart arbeitenden Bevölkerung entstanden Amüsiermeilen, das Theaterviertel und sogar eine große Arena für Wettkämpfe. Aber auch in diesen Bereichen stand mittlerweile das Verdienen an erster Stelle.

Jeden Tag fiel Bajo der Gang zur Arbeit schwerer. Auch wenn er eine gewisse Befriedigung durch seine Beschäftigung verspürte, die Freude war längst verloren und Sinnlosigkeit hatte sich breitgemacht.

Ja, alles erschien Bajo in letzter Zeit immer unbedeutender und wertloser. Er hatte alle seine Freunde vernachlässigt und so traf er in seiner freien Zeit kaum noch einen von ihnen. Manchmal erinnerte er sich an Zeiten, in denen er mit ihnen um die Ecken gezogen war, wann er nur konnte. Im Sommer gingen sie am Fluss schwimmen und stellten den Mädchen nach, im Winter zockten sie bis in die Morgenstunden die Karten bei Met und einem Pfeifchen Hennefkraut. Aber irgendwann konnte Bajo keine Freude mehr daran empfinden. Immer dieselben Gespräche, immer dieselben Orte, dieselben Menschen. Weder die Wirkung des Mets noch der Rausch des Hennefs konnten ihn noch euphorisch stimmen. Er zwang es sich nur noch rein, um dabei zu sein, fühlte sich zunehmend schlechter und zog sich deswegen mehr und mehr zurück.

Einsamkeit hielt in Bajos Leben Einzug, obwohl er jeden Tag mit den Leuten sprach und auch seine Tante Nele hatte, an der er sehr hing. Aber all das war nur noch das Abspulen der immer gleichen Floskeln, des immer wiederkehrenden Tuns, wie der Zeiger einer Uhr, der sich unweigerlich gleich im Kreise drehen musste, ohne wirklich voranzukommen und von der Zeit verschlungen wurde.

Bajos Beine waren schwer und er schlurfte mit Mühe Richtung Stadt. Wie viel Kraft hatte ihm das Treiben in Kontoria doch einst gegeben! Als Hauptstadt des Reiches und Umschlagplatz der Waren aus aller Herren Länder war hier immer etwas los. Ob Eisen, Kupfer und Waffen aus Erzingen, Vieh und Pferde aus Thalaria oder Getreide aus Kornburg, alle Waren des Landes wurden hier umgeschlagen. Doch Kontoria hatte seine Handelswege auch in ferne Länder ausgeweitet. So kamen Röstbohnen für Kaffee, Gewürze und Seidenstoffe aus Likien im Osten, Kakao für Schokolade, Farbstoffe und Muschel-Schmuck aus Marabia im Süden, köstliche Sorten Wein, anmutige Kleider, Trockenfisch und Kohle aus Concorsien im Westen und Walfischtran und Felle aus Trihaven, in der Nähe des ewigen Schnees, im Norden. Sämtliche ferne Länder und Städte hatten hier in Kontoria eine Vertretung, denn alle wollten vom Handel profitieren und ihren Einfluss geltend machen.

Die Stadt war voller Kontore und Händler, die Kontoria immer reicher und reicher machten, auch wenn man das in den Straßen nicht wirklich sah. Doch näherte man sich dem Palast, der sich auf einem Hügel am Fluss erhob, konnte man ahnen, welche Schätze sich hinter den Mauern verborgen hielten. Drei steinerne Schutzwälle, einer besser bewacht als der nächste, musste man passieren, um in den wirklichen Palast und Hauptsitz des Landes zu gelangen. Im äußeren Ring residierten die Kontors-Eigner und Reeder in prächtigen Stadthäusern, deren Front vom jeweiligen Banner der Familie geschmückt war. Jede Residenz hatte natürlich Nebengebäude für die Bediensteten und einen herrlichen, begrünten Innenhof. Die Häuser lagen in gebührlichem Abstand zur Mauer an einer Ringstraße den Hügel hinauf, sodass jeder Eigner vom Balkon seines Prunkzimmers aus, einen guten Blick auf das Treiben der Stadt hatte.

Im mittleren Ring, weiter den Hügel hinauf, im Abstand zu einer noch dickeren Mauer, war die Ringstraße der Banker und Geldverleiher. Ihre Häuser waren selbst schon kleine Paläste, über deren Haupttoren jeweils das riesige Wappen der Familie thronte. Selbstverständlich hausten auch hier Heerscharen von Dienern, Zofen, Köchen und Laufburschen sowie Gärtner, die sich um die üppige Bepflanzung der Höfe kümmern mussten.

Hinter einer schier unüberwindlich hohen Mauer und nur noch durch ein Tor erreichbar, lag der eigentliche Palast. Groß und protzig, aber nicht wirklich schön, ragte das Herrscherhaus über dem Drehkreuz der äußeren Welt. Hier nun lebten die hohen Aristokraten, welche aus den wohlhabendsten und einflussreichsten Kontors- und Banker-Familien stammten. Sie stellten die höchsten Würdenträger der Stadt und des Landes, die für Handel und Versorgung, Militär und Ordnung, Stadtwache und Diplomatie zuständig waren und alle als Berater dem Herrscher dienten. Nur die Obersten für die Rechtsprechung hatten ihr eigenes Gebäude in der Stadt und waren unabhängig. Der Herrscher über Kontoria hatte den Titel ‚Kondukt‘. Jemand musste sich durch ‚großartige Taten‘ hervortun, um als Kondukt gewählt zu werden, es war also kein ererbter Titel. Kontoria aber war nur ein Teil von Großmittenreich, welches sich aus den Gebieten Erzingen, Kornburg, Thalaria und eben der Stadt Kontoria zusammensetzte und immer einen König hatte. Der Herrscher über Großmittenreich, also über alle vier Gebiete, wurde mittlerweile auch gewählt und war weiterhin der König, auch wenn man Könige eigentlich nicht wählen kann, aber es erschien allen einfacher, diesen Titel beizubehalten. Die Wahl des Königs von Großmittenreich fand bei einer geheimen Zusammenkunft der höchsten Würdenträger und Aristokraten statt. Zwar konnte auch der Baron von Erzingen, der Lord der Kornburg oder der Fürst von Thalaria zum König gewählt werden, aber meist war es der Kondukt von Kontoria, der das Rennen machte. Die Zusammenkunft für die Wahl erfolgte nur dann, wenn der König starb oder sein Amt freiwillig abgab und wurde im kleinen alten Tempel abgehalten, welcher am höchsten Punkt, im östlichen Teil der Palastanlage, ein sonst recht unbenutztes Dasein fristete. Zwar gab es noch eine alte kirchliche Bruderschaft da oben, aber diese Mönche pflegten ihren Glauben mehr für sich und waren hauptsächlich mit dem Brauen von Met und ihrem Kräutergarten beschäftigt, was natürlich auch den Herrschaften zugutekam.

Ja, die Glaubensmänner, die einst neben dem König herrschten, besaßen keinen Einfluss mehr. Über Jahrhunderte stürzten sie das Land in unzählige Kriege gegen Andersgläubige und unterjochten das murrende Volk, während sie sich selbst, ohne Scham, ihren Genüssen hingaben. Ein mutiger Hauptmann und der Führer der Kaufmannsgilde setzten dem, von einem Tag zum anderen, ein Ende. Der damalige König und die so heiligen Männer des Glaubens endeten auf ihren selbsterschaffenen Schlachtbänken. Nur ein paar abgespaltete Sekten und Bruderschaften, die von je her den armen Menschen dienten, blieben ungeschoren und durften in ihren Klöstern weiterleben.

„Na, viel hat sich eigentlich nicht verändert“, dachte sich Bajo, als er den Palasthügel hinaufsah. Er machte auf seinem Arbeitsweg immer gerne einen kleinen Abstecher zu einer Brücke, die über den großen Graben führte, der den Palasthügel umschloss und lehnte dort für eine kleine Pause am Geländer. „Das Volk muss schuften und ihr da oben macht es euch gemütlich“, sann er weiter. „Wenn ich mal so viel Gold habe, dann…“

„Hey du Lümmel, versperr uns nicht den Weg!“, schrie ihn der Träger einer Sänfte an und schon wurde Bajo so dicht ans Geländer gedrückt, dass er beinahe ins Wasser fiel. „Ihr missgebildeten Kröten, ihr stinkenden Arschkriecher, ihr…“, fing Bajo an zu pöbeln, doch der strenge Blick der Brückenwache ließ ihn seinen Weg lieber wiederaufnehmen. „Ich hasse diese verdammte Stadt! Ich hasse die beschissenen Menschen! Ich hasse mein Leben!“, murmelte er wütend in sich hinein und bog in die ‚Große Straße des Handels‘ ab.

Mit einem Schlag erhöhte sich die Geräuschkulisse um ein Vielfaches. Getrampel, Gewieher und Geschrei brausten auf. Ein Meer aus Transportkutschen, Handkarren und Lastenträgern tat sich auf. Ab und zu ein Zweispänner oder eine herrschaftliche Droschke, die sich auf dem gut gepflasterten Weg einordneten. Am Rand, etwas erhöht, gab es einen ebenfalls gut befestigten Pfad, auf dem nicht so ein Wirrwarr herrschte, aber anscheinend war doch für die meisten Eile geboten. Früher ließ sich Bajo von der Masse förmlich tragen, immer wieder fasziniert von dem riesigen Strom der Waren und Menschen. Mittlerweile war er jedoch froh, wenn dieser Abschnitt seines Weges vorbei war und er am großen Rondell durch die Pforten des Hauptkontors dem Ganzen entfliehen konnte.

„Ich wünsche einen guten Morgen“, rief er dem Pförtner zu und zwang sich zu einem freundlichen Lächeln. „Na, wohl wieder spät dran, was?“, entgegnete dieser und zwinkerte zurück. Bajo eilte weiter, zum Glück hatte er im ruhigeren hinteren Teil seine Räumlichkeiten. Von seinem Pult aus konnte er durchs Fenster auf die großen Hafenanlagen blicken. Der Fluss war an dieser Stelle am breitesten und über die Jahrhunderte hatte sich ein riesiger Binnenhafen entwickelt, wo Erze, Eisen, Kupfer und sogar Vieh aus dem Norden ankamen und alle möglichen Waren flussabwärts, Richtung Südosten bis zum Eronsee verschifft wurden. Große Konstrukte aus Holz und Seilwinden halfen beim Beladen, es war immer wieder imposant anzusehen, wie die Güter bewegt wurden.

„Wieso ist die Schute mit dem Getreide nach Eron noch nicht fertig?“, schreckte ihn eine Stimme auf. Bajo war für die Abfertigung der Schiffe zuständig und pendelte den ganzen Tag zwischen Hafen und Kontor. Er kontrollierte die Beladung und machte dann die Papiere fertig. Dem Vorsteher ging es nie schnell genug und die Arbeiter jammerten ihm ewig die Ohren voll, wegen der harten Arbeit.

„Ich bin schon unten!“, rief Bajo und rannte zur Treppe, um nicht noch mehr von den Vorhaltungen des Vorstehers zu hören. „Ewig zwischen den Fronten…“, grummelte er. „Ich könnte schon am Morgen kotzen…“.

In seiner Mittagspause schlenderte Bajo zu einem Lokal gegenüber dem großen Rondell. Manchmal traf er dort Boreas, einen ehemaligen Angestellten des Hauptkontors, mit dem er sich ein wenig angefreundet hatte und der jetzt bei der ‚Mittenreicher Hundepost‘ arbeitete. Ja, Kontoria hatte eine Hundepost. Deren Hauptstandort war unweit des Rondells, es gab noch die Nord- Süd- und West-Station in Kontoria und natürlich waren Zweigstellen in ganz Großmittenreich verteilt. Sogar in zwei anderen Ländern befanden sich Stationen: eine in Ginochi und eine in Ligamon, im westlichen Concorsien und die Station von Mondaha im östlichen Malikien, welches der südliche Teil von Likien war.

Die Posthunde waren besondere Tiere, ihre Ausbildung dauerte über ein Jahr und nach einer Prüfung wurden sie immer auf derselben Route eingesetzt. Es gab zwei spezielle Züchtungen: Der ‚Steppenrenner‘; schlank, schnell und ausdauernd, wurde für die schnelle leichte Post eingesetzt. Der ‚Wanderzottel‘ war ebenfalls unermüdlich, aber langsamer, doch dafür robuster, er konnte sogar zwei kleine Pakete transportieren. Den Hunden hatte man entsprechend ihrer Rasse die passenden Satteltaschen auf dem Rücken befestigt. Alle Hunde trugen eine Art Mäntelchen über, welches aus rotem Wachstuch gefertigt war. Darauf prangte links und rechts das Wappen der Mittenreicher Post. Während die eher gemächlichen Postkutschen, die auch Personen fuhren, die ‚normale Post‘ beförderten, brachten die Hunde die ‚eilige Post‘ von Station zu Station, wo die Briefe und kleinen Pakete dann vom jeweiligen Briefausträger weiter verteilt wurden. Jedermann im Land achtete und schätzte die Tiere sehr, denn jeder wusste, dass auch er vielleicht einmal über sie eine schnelle und wichtige Mitteilung erhalten konnte. Posthunde waren eben unantastbar!

Neben der Hundepost gab es auch die ‚Königliche Falkenpost‘, diese war aber den Adelshäusern vorbehalten. Die ‚Blitzfalken‘ hatten ihre inländischen Routen zwischen dem Palast in Kontoria, der Kornburg, dem Schloss in Erzingen und der Festung in Thalaria. Es bestanden außerdem Verbindungen in die anderen Länder: nach Lundi in Marabia im Süden, zur Felsstadt Trihaven im äußersten Norden, nach Schichtstadt und dem Palast in Mondaha in Malikien im Osten und zum concorsischen Herrscherhaus in Ginochi im Westen. Und natürlich gab es noch etliche geheime Routen, über die man aber nicht sprach, oder von denen niemand etwas wusste.

„Hallo Bajo“, rief Boreas von einem der vorderen Tische, „dass ich dich mal wieder treffe“, fügte er lächelnd hinzu. „Wie geht’s denn so, was macht der olle Schuppen?“ „Ach, immer die gleiche Mühle, du kennst es ja von früher“, antwortete Bajo und setzte sich gegenüber. Er bestellte sich ein Mettbrot und ein Glas Aronia-Apfelsaft-Gemisch. „Und, wie geht’s dir denn sonst so, was macht deine Tante?“, erkundigte sich Boreas. „Tante Nele müht sich genauso wie ich, jeden Tag zur Arbeit, viel Freude bleibt einem da nicht mehr“, beschwerte sich Bajo. „Du solltest etwas machen, was dir Freude bringt! Ich habe meinen Wechsel zur Hundepost nicht bereut. Und ich sage dir, Vierbeiner sind die besseren Menschen!“, wobei Boreas zwinkerte. „Noch wieder was Neues lernen, wieder ganz von unten anfangen? Dafür bin ich zu alt und zu kaputt!“, entgegnete Bajo mit trübem Blick, der sich aber gleich wieder etwas aufhellte, da sein Essen kam. Boreas war dagegen schon fertig und verabschiedete sich: „So, ich muss wieder los. Die kleinen Kläffer haben auch Hunger. Überleg dir das mal mit dem Wechsel. Wenn du bei uns anfangen willst, kann ich bestimmt was drehen!“ „Ja, ich überlege es mir, war schön, dich mal wieder gesehen zu haben, Boreas“, sagte Bajo nun wieder etwas lächelnd und winkte ihm hinterher.

Bajo bestellte nach dem Brot noch zwei Honig-Krapfen und einen großen Muggefugg, einem extrastarken Kaffee mit ein wenig Milch. Genüsslich futterte er die Krapfen auf und lehnte sich dann entspannt zurück, schlürfte seinen Muggefugg und beobachtete das Treiben im Rondell. „Ja, die Arbeit, immer die gleiche Arbeit“, sinnierte Bajo. „Gern würde ich mal was anderes machen, aber was? Am liebsten würde ich ja ganz aufhören und in andere Länder reisen, Abenteuer erleben. Aber wovon bezahlen? Mein Erbe ist in ferner Zukunft und gespart habe ich nicht viel. Und die arme Tante Nele? Kann ich sie wirklich so einfach im Stich lassen? Tja, was bleibt mir, man kommt einfach nicht raus aus dem Käfig…“ Die Mittagspause war vorbei, er zahlte und trottete wieder zurück zum Kontor, seine Stimmung war wieder an einem Tiefpunkt angelangt.

Bajo hatte seine Aufträge abgearbeitet und der Dienst war für den heutigen Tag beendet. Es war Spätsommer und die Sonne schien noch milde auf sein Gesicht. Er entschloss sich, den langen Weg nach Hause zu gehen. Dieser führte zunächst mit einer kleinen Fähre, die direkt neben den Hafenanlagen fuhr, zur anderen Seite des Flusses. Der Weg ging dort weiter an ein paar Gutshöfen, Feldern und Wiesen vorbei, um dann wieder auf den Rand Kontorias zu stoßen, genauer gesagt auf Helmershorst, wo ebenfalls eine Fähre fuhr.

Die Natur und das Zwitschern der Vögel besänftigten Bajo bei der kleinen Wanderung immer ein wenig. Dann stimmte er wieder mal seine verzweifelten Lieder an, die er sich ausgedacht hatte und die er nur für sich sang. Das war auch gut so, denn sollte sich ein anderer bei dem schrecklichen Singsang nicht gleich die Ohren zuhalten, dann würde er bei den Texten sicher die Stadtwache rufen und Bajo ins Verrückten-Haus sperren lassen:

„Leider bin ich dumm wie Brot – Bin so viel wert wie ein Haufen Kot - Ich hab‘ im Leben nichts gelernt – darum bin ich so verhärmt!“

Oder auch:

„Mein Leben ist nur Dreck – Denn ich habe keinen Zweck – und des-we-he-gen – und des-we-he-gen, muss ich auch endlich weg!“

Und weiter:

„Gibt‘s was zu holen im Leben – hau ich garantiert daneben – denn ich bin nur ein Idiot – und darum wär‘ ich lieber… Lalala Lalala!“

Dies sang Bajo mit seiner unmelodischen, schrägen Stimme vor sich hin, um dann auch noch in ein so grauenhaftes Pfeifen überzugehen, dass jegliches Getier in der Umgebung die Flucht ergriff.

An einer Biegung, wo eine abgeknickte Buche einen komfortablen Sitz bot, machte er eine Pause und schaute zum Rand des Grauenwaldes hinüber, welcher die natürliche Grenze von Großmittenland in Richtung Osten bildete. Der Grauenwald hieß selbstverständlich nicht umsonst so. Unzählige Abenteurer sollten in den vergangenen Jahrhunderten schon versucht haben, das Gehölz zu erkunden, nie war auch nur einer wieder zurückgekehrt. Viele Geschichten um Hexen, Zauberer und Ungeheuer wurden erzählt, was, logischerweise, nie bewiesen werden konnte. Einig waren sich die Leute nur in einem: In diesem Wald lauerte das wahre Grauen und deshalb gab es auf dieser Seite des Flusses, natürlich in gebührendem Abstand, auch nur wenig Besiedlung.

Bajos Stimmung war wieder an einem Punkt, wo ihm alles egal war. Die Arbeit, sein Leben, alles war nur noch eine Last, die er nicht mehr tragen konnte. Und er hatte wieder diesen Gedanken, ja fast schon diesen Drang, einfach loszulaufen, schnurstracks in den Wald…

Der Marsch über die Wiesen und Felder war anstrengend gewesen, aber irgendwie hatte er ihm auch eine gewisse Kraft gegeben. Nach einer schönen Dusche, welche er sich im Garten aus alten Rohren und einem großen Bottich gebaut hatte, saß Bajo nun in seinem Hänge-Sitz, eingekuschelt in ein dickes Kissen, einen süßen Muggefugg schlürfend und schaute über die Häuser hinweg in die untergehende Sonne. Eigentlich träumte er immer gerne davon, einmal reich zu sein. Er malte sich aus, wie er seine Stadtwohnung im schicken Theater-Viertel von Kontoria einrichten würde. Wie er von dort aus Reisen ins ferne Ginochi in Concorsien oder auch nach Mondaha in Malikien unternahm. Und natürlich hätte er in jeder Stadt eine wunderschöne Geliebte…

Aber diese Träumereien konnten ihn nicht mehr befriedigen. Es wusste nur allzu genau, dass er mit seiner Arbeit nur ein beschauliches Leben führen konnte. Selbst wenn er tatsächlich einmal zum Vorsteher aufsteigen würde, hätte er es nicht wirklich weit gebracht. Und auch wenn er von seinem schrecklichen Vater einmal die Mietshäuser erben würde, so wären diese so alt und morsch, wie er es selbst dann sein würde.

Früher war es Bajo eigentlich auch egal gewesen, dass er nur ein einfacher Bürger war, er war eben unbeschwert und hatte wenigstens eine gewisse Freude am Leben. Ja, Freude. Freude war ihm fremd geworden und er befürchtete, auch nie wieder Freude im Leben zu verspüren. Er sah nur noch den immer gleichen Trott. Er war ein kleines Zahnrad einer sich wieder und wieder ächzend drehenden Mühle, aus der er nicht entkommen konnte. Er hatte sich schon, soweit er konnte, zurückgezogen, in der Hoffnung, irgendwann frei zu sein und fortzulaufen. „Du musst nun aber wirklich wenigstens zum Geburtstag deines Vaters gehen!“ oder „Wenn du nicht wenigstens einmal im Monat deine Mutter besuchst, dann wird sie noch an Einsamkeit sterben!“, lag ihm Tante Nele ständig in den Ohren. Als wenn sich sein Vater jemals um Geburtstage geschert hätte, ihn interessierte nur sein Hab und Gut und wie er noch mehr bekommen konnte! Und seine arme Mutter verstand sowieso nicht mehr, was um sie herum geschah. Sie ließ sich in ihrer Wohnung verkommen und schimpfte auf alles und jeden und sollte bald in ein Altenheim gebracht werden. Aber seine Eltern zu verlassen, das würde Bajo mittlerweile tun, das würde ihm nicht mehr schwerfallen.

Sorgen machte ihm nur seine liebe Tante Nele. Sie war ein herzensguter Mensch, der zu niemandem „Nein“ sagen konnte. Jeden Tag fuhr sie mit ihrer Kutsche ans andere Ende von Kontoria, um dort die Papiere eines kleinen Tuchhändlers in Ordnung zu halten, wobei sie doch ihre eigenen Angelegenheiten kaum geregelt bekam. Nach dem mühevollen Arbeitstag, freute sie sich, wenn Bajo sie am Abend mit seinen mittelmäßigen Kochkünsten beglückte. Dann erzählte sie von den Geschehnissen des Tages, was sie von den Nachbarn gehört hatte und was hier und dort so passiert war. Und immer wieder fragte sie Bajo, ob er sie denn auch lieb‘ hätte. „Natürlich hab‘ ich dich lieb!“, versicherte Bajo ihr jedes Mal und meinte es auch so. „Wie lieb denn?“, hakte sie dann nach. „Am allerliebsten auf der Welt!“, versicherte Bajo und kraulte ihr dabei liebevoll die Nackenhaare. Danach setzte sie sich in die warme Stube, um dort stundenlang Patiencen zu legen und ihr Pfeifchen zu rauchen. Manchmal beobachtete Bajo sie heimlich dabei, sah ihre traurigen Augen und wusste, dass sie genauso verloren war, wie er selbst.

Es war noch früh, die Sonne erreichte gerade das Baumhaus und Bajo hatte sich schon fertiggemacht. Heute war ein besonderer Tag, denn Bajo durfte zusammen mit einigen Mitstreitern und natürlich dem Leiter des Hauptkontors zur Ehrung in den Palast. Das königliche Hauptkontor hatte wieder mal einen Rekord aufgestellt, was den Umschlag des letzten Jahres betraf. So sollte nun dem Direktor feierlich eine königliche Würdigung übergeben werden. Bajo mochte solche Veranstaltungen nicht, aber es war eine willkommene Abwechslung von der Arbeit. Und wann kam man schon mal in den Palast von Kontoria?!

Bajo hatte noch etwas Zeit und schmierte Tante Nele ein paar Stullen für die Arbeit, während er nebenbei seinen geliebten Muggefugg trank. „Tante Nele, du musst jetzt aufstehen, ich habe dir den Kaffee warmgehalten“, sagt er mit lauter Stimme, damit Tante Nele aufhören sollte zu schnarchen. „Was, ja danke?! Schon so früh heute?“, murmelte sie. „Du weißt doch, heute ist der große Tag, heute geht’s in den Palast!“ „Na dann viel Vergnügen und benimm dich anständig!“, sagte Tante Nele, schon freudig eine Stulle mampfend.

Als Bajo das Hauptkontor erreichte, standen die anderen schon aufgeregt und durcheinanderredend am Eingang. Alle hatten sich, genauso wie Bajo, fein gemacht und lobten sich gegenseitig, wie gut sie doch aussehen würden. Dann fuhren die Droschken vor, der Direktor saß schon zusammen mit den drei Hauptvorstehern in der Ersten. In die zwei folgenden stiegen nun die ‚auserwählten‘ Angestellten und Arbeiter und der Tross startete Richtung Palasthügel. Während die anderen scherzten und gackerten, genoss Bajo die Kutschfahrt. Er mochte es, aus dieser Perspektive die ‚Große Straße des Handels‘ zu erleben. Das kannte er von Ausflügen mit Tante Nele, die ihn manchmal mit ihrer kleinen Kutsche mitnahm, aber dieses Mal sah er alles von einer vornehmen Droschke aus. Es ging über die mittlere Brücke rüber zum Hügel, da dieser Weg direkt zum Eingang des Palastes führte. An jedem der drei Tore wurden sie von den Wachen penibel überprüft. Bajo steckte den Kopf weit aus dem Droschkenfenster und musterte während jeder Prozedur neugierig die Umgebung. Die Gemäuer der Stadthäuser und Stadtpaläste waren von solider Architektur und aus edlen Materialien. Seltener ‚Blauer Marmor‘ aus den Steinbrüchen in Talikien, ‚Schwarzholz‘ aus den Wäldern von Nham und kunstvoll gearbeitete Verzierungen und Figuren aus weiß-glitzerndem ‚Sternbasalt‘ konnte er bewundern. Auf den Ringstraßen sah er Bedienstete, Boten, Handwerker und Lasttiere, welche ab und zu einer protzigen Sänfte Platz machen mussten. Nachdem sie die dritte Mauer hinter sich gelassen hatten, fuhren die Droschken im großen Innenhof des Palastes vor. Alle mussten sich sammeln und auf einen Führer warten. Bajo drehte sich immer wieder im Kreis, um auch ja alle Details der Anlage in sich aufzunehmen. Auch als die Gruppe in die Räumlichkeiten geführt wurde, hingen seine Augen an riesigen Wandbildern, großen Brokat-Teppichen, herrlichen Vasen und funkelnden Kronleuchtern. Erst als die kleine Abordnung am Rand des großen Festsaals ihren Platz gefunden hatte, richtete Bajo seine Aufmerksamkeit auf die Menschen, die sich dort versammelt hatten.

Nach etwa einer Stunde hatten sich alle eingefunden. Sein Platz war zwar in letzter Reihe, ganz an der Wand, aber dadurch, dass sein Stuhl auf dem erhöhten Simms stand, konnte er wunderbar ins Rund blicken. Der Saal war dreigeteilt. Im ersten Bereich vor dem großen Thron stand der Tisch seiner Majestät, angeschlossen links und rechts Tischreihen mit vornehm betuchten Stühlen.

Dort nahm die Elite des Reiches Platz:

- Der Kondukt von Kontoria und gleichzeitig König von Großmittenreich Havat Merka nebst Gattin

- Die Gesandte Melinda Feising, Tochter von Lord Feising aus Kornburg

- Der Gesandte Jammund Hembrock, Sohn von Fürst Hembrock aus Thalaria

- Und aus Erzingen Baron Grohling höchstpersönlich


Des Weiteren:

- General Harding - Befehlshaber der Armee Großmittenreichs mit seinem Adjutanten

- Der Kommandant der Stadtwache Kunwald Bratsenf, vom Volk als ‚Der dicke Kuno‘ betitelt

- Gesine zu Plauen, die höchste Rechtsprecherin des Landes

- Der Wortführer der Kaufmannsgilde Greif von Hort

- Schatzmeister Silirius Goldmund

- Und Reichsverwalter Erus Krotmann, den man hinter vorgehaltener Hand auch ‚Die Kröte‘ nannte.

Im zweiten Abschnitt, in den Tischreihen davor, auf kaum weniger schönem Mobiliar, saßen weitere hohe Verwalter, Militärs, Banker, Geldverleiher und reiche Händler, welche zum Teil in Begleitung ihrer besseren Hälften zugegen waren. Unter ihnen saß nun auch der Direktor des Hauptkontors.

Der dritte Bereich, welcher etwa die Hälfte des Saals ausmachte, war für ‚Ausgewählte aus dem Volk‘ bestimmt. Man saß hier auf einfachen, doch stilvollgearbeiteten Holzstühlen und –bänken an langen, schmalen Tischen und Mundschenke waren bemüht, allen Anwesenden einen Becher Wein zu reichen. Dann unterbrachen plötzlich Trompeten und Hörner von der Empore aus, das Gebrabbel im Saal mit einer Triumph-Fanfare. Der oberste Verkünder des Königs trat an ein prächtig geschmücktes Pult in der Mitte der Empore und begann mit starker, feierlicher Stimme seine Rede:

„Ehrwürdige Gesandte und Aristokraten, hochverdiente Kaufleute und Geldverwalter, tapfere Soldaten, fleißige Bürger von Kontoria. König Merka hat euch heute wieder zusammengerufen, um der alljährlichen Verleihung der Ehren-Medaillen für verdiente Bürger des Reiches beizuwohnen. Unsere Majestät will damit seine Dankbarkeit dem Volke gegenüber zum Ausdruck bringen und als Anerkennung für besonders herausragende Leistungen diese Auszeichnungen aus purem Gold vergeben!“

Ein rauschender Applaus brandete auf und der Verkünder begann den Namen und die Verdienste des ersten Preisträgers zu verlautbaren. Bajo hörte nicht mehr weiter hin und musterte lieber die Herrschaften aus den besseren Reihen. Er versuchte sich auf Grund der Haltung, Mimik und Gestik einen Eindruck der jeweiligen Person zu verschaffen: Der König selbst war unentwegt bemüht, einen freundlichen und interessierten Eindruck zu vermitteln, wobei er jedoch eine gewisse Arroganz nicht ganz verbergen konnte. ‚Lady Melinda‘ hingegen schien sich wirklich für jeden Einzelnen zu freuen und hörte genau zu, wenn die jeweiligen Taten verlesen wurden. Der ‚dicke Kuno‘ glotzte unentwegt und unverhohlen auf die Rundungen und Ausschnitte der Damen. Man hätte fast den Sabber tropfen sehen können, wenn er sich nicht ewig die Zunge um die Lippen geschleckt hätte. Der Schatzmeister, der neben ihm saß, starrte verachtungsvoll in die Menge. Er war augenscheinlich gar nicht bei der Sache und schien in üble Gedanken versunken zu sein. Gesine zu Plauen und Greif von Hort hatten zu jedem Kandidaten etwas beizusteuern, denn sie tuschelten und nickten unentwegt. General Harding und sein Adjutant dagegen waren wie erstarrt. Sie verzogen fast die ganze Zeit keine Mine und Bajo fragte sich, ob man das wohl bei der Armee lernen würde. Baron Grohling und Reichsverwalter Krotmann saßen zusammen an einem Tisch. Sie waren recht unauffällig, klatschten brav, wenn es passte und wechselten ab und zu ein paar Worte. Doch bei der Verlesung der Auszeichnung eines Rüstmeisters, der ein Katapult entwickelt hatte, welches zehn Langspeere hintereinander, oder auch gleichzeitig abschießen konnte, waren sie doch sehr erregt und wechselten seltsame Blicke mit Silirius Goldmund.

Als Bajo sich den letzten Kandidaten, Jammund Hembrock aus Thalaria, vornahm, zuckte er zusammen. Dieser schaute nämlich Bajo an und hatte ihn wohl beobachtet, wie er die Anwesenden inspiziert hatte, anstatt der Verleihung zu folgen. Bajo fühlte sich ertappt, aber Hembrock Junior lächelte ihn wissend an und er lächelte zurück. Just in diesem Augenblick stieß ihn der Verlademeister, der zu Bajos Gruppe zählte, in die Seite. „Jetzt sind wir dran!“, rief er aufgeregt und reckte den Hals noch höher. Nach den Lobpreisungen des schon etwas müde klingenden Verkünders über die Rekordumsätze des Hafens, bekam der Direktor die letzte goldene Medaille verliehen. „Und nun, da unsere Majestät seine herausragenden Bürger belohnt hat, wollen wir uns alle dem Gaumenschmaus unserer Palastküche hingeben. Hoch lebe der Kondukt! Hoch lebe der König!“ „Hoch lebe unser Wohltäter, hoch, hoch, hoch!“, rief die Menge, so wie sie es vorher gelernt hatte und schon füllten sich die Gänge mit Laufburschen und Serviererinnen, um die Versammlung zu verköstigen. Die Musiker auf der Empore fingen an, beschwingte Lieder zu spielen, welche allerdings im aufkommenden Getöse und Geklapper kaum Beachtung fanden.

Bajo hatte seinen Krustenbraten mit Kartoffelklößen und Pflaumensoße genossen. Da er aber keinen Wein und auch keinen Met trank und auch kein Interesse an den lallenden Unterhaltungen hatte, machte er sich daran, etwas umherzulaufen. Er schlenderte durch einen Seiteneingang, der zu den Pissoirs und Latrinen für die Gäste führte. Es hatte sich schon eine kleine Schlange gebildet und man unterhielt sich mit den Palastwachen. Da diese nun gerade abgelenkt waren, schlenderte Bajo, wie zufällig, in Richtung der königlichen Kammern und keiner schien ihn zu bemerken. Sein Herz fing an zu pochen und er spürte ein Kribbeln aufsteigen. „Was tust du da, du Narr?!“, fragte er sich selbst. „Wenn die dich erwischen, war‘s das, dann geht’s in den Kerker, für lange Zeit!“, dachte er, doch zum Umkehren war es schon zu spät. Er schlüpfte um die Ecke und schritt, ja nicht zu hastig, einen kleinen Gang entlang. Bajo gelangte an eine große Tür, die nur angelehnt war und lugte hinein. Dort sah er wunderschöne Stuckarbeiten und große, feingearbeitete Teppiche, auf welchen herrlich plüschige Sessel, Sofas und Kanapees an reich verzierten Tischen standen. Vorsichtig glitt er durch den Türspalt, nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand im Raum war. Bajo schritt langsam an dem schönen Mobiliar vorbei und entdeckte zahlreiche Kunstgegenstände und Vasen, die ganz eindeutig von Meisterhand gefertigt worden waren.

Als plötzlich Stimmen an einer anderen Tür laut wurden, machte sich Bajo fast in die Hose. Geistesgegenwärtig sprang er hinter einen großen Vorhang neben einer Flügeltür, welche zum Balkon führte. Er versuchte noch, den schwankenden Vorhang festzuhalten, als schon einige Männer in die kleine Halle schritten. „Nun, wir können mit der Lieferung nicht länger warten, der Winter naht und dann geht es nicht mehr über die Hochebene“, sagte eine Stimme. „Und wenn…“ „Moment…“, sagte eine andere Stimme und Bajo hörte, wie jemand in die Richtung ging, aus der er gekommen war. Die Tür, durch die er geschlüpft war, wurde geschlossen und dieser jemand sprach leise: „Wir müssen vorsichtig sein, der Palast hat Augen und Ohren…“, als er wieder bei dem anderen war.

„Wäre ich doch nur vorher zum Pissoir gegangen“, dachte sich Bajo, denn die Angst drückte auf seine Blase. Seine Muskeln waren kurz vorm Krampfen, so angespannt und steif stand er da hinter dem Vorhang und nur sehr langsam wurde er etwas lockerer. Drei Stimmen konnte er nun unterscheiden. Sie unterhielten sich angeregt über Produktionen, Lieferungen und Zahlungen und immer wieder mahnten sie sich gegenseitig zur Verschwiegenheit. Bajo bemerkte erst jetzt, dass der Vorhang, hinter dem er stand, aus zwei Teilen bestand. Seine Neugier erlangte der Angst gegenüber nun wieder etwas Oberhand und er hob langsam den Arm. Ganz sachte schob er einen Finger in Höhe seines Gesichtes zwischen die beiden Teile des Vorhangs. Es tat sich ein kleiner Schlitz auf, gerade breit genug, um etwas im Raum erkennen zu können. Hinter einem Kanapee, welches etwa zwei Meter entfernt mit dem Rückteil zu Bajo gerichtet stand, konnte er zwei Köpfe sehen. Es waren der Schatzmeister Goldmund und ‚Die Kröte‘, der Reichsverwalter, und sie sprachen mit jemandem links von sich. Da sie in ihre Unterhaltung vertieft waren, fühlte Bajo sich etwas sicherer und schob seinen Finger noch etwas tiefer zwischen die Vorhänge und neigte den Kopf ein wenig, um den Dritten zu erkennen. Es war Baron Grohling mit einer groben durchdringenden und fordernden Stimme. Bajo lehnte den Kopf wieder ein Stückchen zurück, da durchfuhr ihn ein Schock und ein Tropfen ging ihm in die Hose, denn es saß rechts vom Kanapee noch ein weiterer und der schien ihn anzustarren! Bajo dachte einen kurzen Moment daran, einfach loszulaufen, doch selbst wenn er es hätte tun wollen, er konnte gar nicht, denn sein Körper war wie gelähmt. Einige Sekunden vergingen so in dieser Schockstarre, bis er merkte, dass der Mann nicht auf ihn, sondern ins Leere starrte. Die Anspannung ließ etwas nach und Bajo konnte wieder normal denken. Aber wer war der vierte Mann? Er hatte die ganze Zeit nichts gesagt.


„Wie siehst du die Sache, Delminor?“, fragte Silirius Goldmund. „Sollen wir das Ganze auf das Frühjahr verschieben?“ „Delminor, ein sonderbarer Name, aber passend für diesen sonderbaren Mann“, dachte sich Bajo. „Die ausgemachte Zahlung in Gold und Edelsteinen hat auch nächstes Jahr noch Bestand. Aber ich kann euch nicht garantieren, dass auch das Khirad dann noch zur Verfügung steht. Das Zeug ist sehr begehrt und ich bezweifle, dass ich die Ladung einen ganzen Winter für euch zurückhalten kann“, entgegnete dieser Delminor. „Macht euren Arbeitern mehr Druck und setzt heimlich Sklaven ein, dann werdet ihr es noch schaffen. Aber ich brauche eure Entscheidung, denn ich muss noch heute wieder abreisen.“

Delminors Stimme war noch sonderbarer als seine Erscheinung. Sie war einnehmend und interessant, doch Bajo spürte in ihr auch etwas Unheilvolles, nicht nur, weil er von Sklaven und Khirad sprach. Die Sklaverei war schon vor einiger Zeit in Großmittenland abgeschafft worden. Offiziell jedenfalls. Was die armen Arbeiter in den Bergwerken, Eisenhütten und Waffenschmieden in Erzingen betraf, so konnte Bajo allerdings kaum einen Unterschied erkennen.

„Nun Grohling, ich kenne einen Schleuser am Eronsee. Der kann mir Sklaven aus Marabia besorgen, die würde ich dir über den Fluss schicken“, sagte die ‚Kröte‘. „Die Kähne brauchen flussaufwärts zu lange“, entgegnete Grohling. „Und sie müssten an Kontoria vorbei, die Gefahr entdeckt zu werden, ist zu groß! Sorgt ihr lieber dafür, dass die umgebauten Getreidekarren zu uns kommen, dann können wir schon die erste Fuhre fertigmachen. Und du, Silirius, musst dem König noch etwas Gold abschwatzen. Sag ihm, das wäre für die Arbeiter, sie würden sonst nicht den kommenden Winter überleben. Mit dem Gold kann ich einen Stammesfürsten der Waldmänner an der Grenze zu Concorsien bezahlen. Er hat mir erst vor kurzem etwa 30 gefangene Holzhirten aus den Wäldern von Nham als Sklaven angeboten. Ich denke, die sind noch zu haben.“ „Viel kann ich dir nicht geben“, krächzte Silirius. „Die Kasse ist leer, der König hat ein zu großes Herz für das Volk!“ „Ich glaube eher, du hast eine zu große Hand, die du nebenbei aufhältst!“, warf die ‚Kröte‘ ein und alle lachten hämisch und aus vollem Hals. „Psssst“, zischte Delminor, selbst noch lachend. „Seid auf der Hut! Dieses Geschäft ist für uns alle sehr wichtig. Wir dürfen nichts auf Spiel setzen!“ „Also gut, die Sache ist abgemacht“, führte Grohling fort. „Die erste Fuhre geht in einem Monat los. In zwei Monaten haben wir mit Hilfe der Sklaven die zweite Lieferung fertig. Das sind dann die ‚neuen Geräte‘. Und du, Delminor, sorgst für die Zahlung am Übergabepunkt. Der letzte Tross nimmt dann das Khirad mit zurück.“ „Gut, beschlossene Sache! Ein lukratives Geschäft für uns alle!“, beendete Delminor die Unterhaltung. So plötzlich wie die Männer aufgetaucht waren, verschwanden sie nun auch wieder. Mit dem Klappen der Tür fiel auch Bajo unter einem leisen Seufzer die Anspannung aus dem Gesicht und gleich darauf entspannte sich sein Körper gänzlich, denn der andere Druck, der ihn plagte, lief plätschernd in eine Bodenvase…

Bajo schlich sich auf demselben Weg, auf dem er gekommen war, zurück zu der noch größer gewordenen Schlange vor den Latrinen. Die Wachen hatten wohl auch heimlich etwas getrunken, denn sie unterhielten sich noch lebhafter mit den wartenden Gästen als vorher. Keiner von seiner Gruppe hat Bajo vermisst und so mischte er sich wieder unter das Volk und verdrängte die gerade erlebte Sache erst einmal. Nach einem Stück leckerer Torte und einer kleinen Schale Himbeerpudding machte sich Bajo auf, die erste Kutsche in Richtung Stadt zu nehmen. Es war früher Nachmittag, er hatte noch keine Lust, nach Hause zu gehen und fuhr deshalb den ganzen Weg mit zurück zum Hauptkontor. Um keinem, den er kannte, zu begegnen, nahm er einen kleinen Umweg in Richtung Fähre. Sein Ziel war ein hohler Baum an der Uferböschung, unweit des Anlegers. Er hatte diesen Platz schon vor vielen Jahren gefunden und suchte ihn immer auf, wenn er alleine sein wollte. Mit Brettern und Stroh hatte er sich ein gemütliches kleines Nest gebaut, welches in dem Baum auch vor Regen geschützt war. Von hier aus konnte Bajo immer wunderbar die Schiffe auf dem Fluss beobachten oder auch in Ruhe über sein bescheidenes Leben nachdenken.

„Boah, was war denn das!“, rief er sich selbst zu und sank in sein Nest. „Da will man nur mal was Neues entdecken und dann plötzlich so ein Abenteuer!“ Für Bajos tristes Leben war das wirklich ein ungeheuerliches Erlebnis! Während er sich immer wieder vor Augen hielt, was da passiert war, wippte er aufgeregt hin und her. „Mann, so einen Schiss hatte ich ja noch nie im Leben! Und so einen Druck auf der Blase wohl auch nicht!“, kicherte er in sich hinein. „Und wenn die Vase anfängt zu stinken, na dann ist aber was los. Der arme Diener, der das ausbaden muss.“

Aber als er sich nochmal die Amtsträger, den Baron und diesen komischen Delminor vor Augen führte, wurde ihm ganz mulmig zu Mute. Was hatte das bloß alles zu bedeuten? Was waren das für heimliche Geschäfte? Und dieses Khirad, davon hatte er schon gehört. Das war so ein neues Zeug zum Kauen. Sollte wohl aus Talikien, dem abgeschiedenen Nordteil von Likien, kommen und einem einen Wahnsinnsrausch bescheren. Viel, viel stärker als das Hennefkraut. Aber damit hatte Bajo sowieso nichts mehr am Hut. Er überlegte kurz, die Geschehnisse Tante Nele zu erzählen, verwarf das aber gleich wieder. „Davon sollte niemand etwas wissen, diese Männer sind mir nicht geheuer!“, ermahnte er sich selbst. “Und was sollte ich auch schon tun? So ein kleiner Popel wie ich, ist sowieso machtlos!“

Schattenhunger

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