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1.2 Verzweiflung

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Die Vorkommnisse im Palast hatten Bajos schlechte Gedanken für ein paar Tage etwas vertrieben. Und wie es bei ihm immer so war, fühlte er sich mal einigermaßen gut, dann musste er gleich wieder irgendeinen Mist bauen. Bajo war in gutbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen und auch wenn er wegen seines herrischen Vaters schon früh von zuhause weggegangen und zu Tante Nele gezogen war, so pflegte er immer den guten Umgang und arbeitete fleißig. Aber obwohl, oder vielleicht auch gerade weil er so ein braves Leben führte, zog es ihn immer mal wieder in das verruchte Hafenviertel. Früher vertrank er mit seinen Kumpels gerne mal einen Teil seines Lohns in den Spielunken, wo leichtbekleidete Frauen zu Musik aus Quetschkommoden tanzten. Oder er verzockte sein Geld beim Kartenspielen in einem Hinterzimmer dieser Tavernen. Aber am Saufen und Spielen hatte Bajo schon lange kein Interesse mehr. Er bummelte einfach nur noch so zum Vergnügen durch die lebhaften Straßen.

In letzter Zeit streifte er gerne auch mal an der Dirnengasse vorbei, so wie er es auch an diesem Abend tat. Eigentlich war es eine Schönheit mit leicht braunem Teint und verlockenden Rundungen, sie musste wohl aus Malikien stammen, die ihn in diese Gegend lockte. Bajo hatte sie vor zwei Monaten getroffen, als er einen Muggefugg in einem Lokal trank, welches in dieser warmen Sommernacht auch draußen Tische und Stühle aufgebaut hatte. Aus langer Weile hatte er mit Zuckerwürfeln und Zahnstochern Muster auf dem Tisch zusammengelegt. Er war ganz in sein Selbstmitleid versunken, als sie plötzlich vor seinem Tisch auftauchte und nach einem Stück Zucker fragte. Mit halboffenem Mund und großen Augen gab er ihr ein Stückchen, ohne sie zu fragen, was sie damit denn wolle. Sie lächelte ihn an, nahm den Zucker und ging weiter. Irgendwas war an diesem Abend mit Bajo geschehen. Er legte schnell ein paar Münzen auf den Tisch und lief in die Richtung, in die sie verschwunden war. An der Dirnengasse sah er sie dann einbiegen, doch als er dort ankam, war sie bereits verschwunden. Ein Stück ging er noch die Straße hoch, aber dann sprachen ihn die an den dunklen Hauseingängen stehenden Frauen an und er machte lieber kehrt, denn für so was war er viel zu schüchtern. Seitdem war er nun schon zum vierten Mal hier und druckste wieder an der Ecke herum. „Oh Mann, du blöder Hornochse, da siehst du jemanden, der dich anzwinkert und das nur für einen kleinen Moment und schon bist du verknallt.“, dachte er. „Und jetzt eierst du hier umher und weißt nicht, was du machen sollst. Armselig, wirklich armselig!“

Bajo machte sich wieder auf den Weg in Richtung des Lokals, in dem er ihr begegnet war, natürlich heimlich hoffend, sie dort wiederzusehen. Nach ein paar Schritten fiel ihm ein großes Loch in einem Zaun auf, welches sich am Boden befand. Er bückte sich und schaute hindurch. „Aha“, sagte er und erkannte, dass sich dahinter die hier offene Kanalisation befand, welche zwischen den Häuserreihen längs führte. „Hmmh, das riecht ja wirklich nicht besonders lecker, aber hier geht es parallel die Gasse hoch. Da könnte ich unbehelligt langgehen und wer weiß, vielleicht…“, Bajo dachte nicht mehr länger nach und war schon hindurchgekrochen. Auf dem Pflaster neben der Rinne konnte er gut laufen und musste nur ab und zu über etwas Müll steigen. Auf diesem Weg konnte er die Rückseiten der Häuser begutachten und neugierig reckte er hier und da den Hals hoch, um etwas hinter den Gardinen der beleuchteten Fenster erkennen zu können. Aber wenn er überhaupt etwas sah, war es nicht von Bedeutung. Ab und zu schallte Musik nach draußen, manchmal auch Gejohle oder das Gegacker von Frauen. Bajo war schon daran, umzukehren, denn es war doch mühsam darauf zu achten, bei dem spärlichen Licht nicht zu stolpern oder gar in was Ekelhaftes zu treten, als er in einem oberen Stockwerk eines Hauses Licht und ein offenes Fenster sah. Er hörte eindeutig likische Musik! Jetzt war nur noch die Frage: Wie kam man da hoch? Er erinnerte sich an einige alte Kisten, die er kurz zuvor an eine Wand gelehnt gesehen hatte, und machte sich daran, diese vorsichtig und leise zu holen und aufzustapeln, sodass er an das Geländer des kleinen Balkons kam, der neben dem offenen Fenster war. Die Kisten reichten gerade so hoch, dass Bajo die Sprossen unten am Geländer erreichen konnte, an denen er sich nun hochzog. Er stieg auf den Balkon und spähte von dort um die Ecke. Da saßen ein paar Männer und Frauen, auf bunten Kissen, um flache Tische herum. Sie unterhielten sich angeregt, die Musik allerdings schien aus den vorderen Räumen zu kommen. Ihrem Aussehen nach mussten es Likier sein. Bajo tippte auf Maliken, denn die Männer hatten im Gegensatz zu den Taliken keinen Tohbar. Er schaute sich die Frauen, die er erkennen konnte, genau an, doch seine bezaubernde Schönheit war nicht unter ihnen. Bajo streckte den Kopf noch weiter raus und musste aufpassen, dass er nicht über das Geländer fiel. Eine der Frauen konnte er nur halb erblicken und das auch nur von hinten. „Dreh dich doch mal“, dachte er ungeduldig und verharrte gespannt.

„Na, was haben wir denn hier?!“, ertönte eine laute Frauenstimme direkt neben ihm. Bajos Herz sprang ihm fast aus dem Hemd. Er erschrak so sehr, dass er rückwärts über das Geländer stürzte und mit einem Salto krachend auf einen alten Marktkarren fiel, welcher mit anderem Gerümpel an der Hauswand stand. Bajo rang nach Luft, denn der Aufprall war so heftig, dass ihm der Atem wegblieb. Keuchend und fast bewegungslos lag er nun auf dem Rücken und starrte nach oben. Da blieb ihm erneut sein Herz stehen; die Frau, die ihn da oben erwischt hatte, schaute schelmisch grinsend über das Geländer und er konnte im Schein einer Lampe, die ein Mann aus dem Fenster hielt, ihr Gesicht sehen. Das war SIE! Die Frau, die er gesucht hatte! Hin- und hergerissen zwischen den Schmerzen, die nun einsetzten und der Verzückung, seine heißbegehrte Schönheit endlich gefunden zu haben, lag Bajo so da. Er wollte etwas sagen, doch ihm fiel nichts ein und außerdem konnte er noch gar nicht wieder sprechen. „Hey, du elender Spanner!“, schrie der Mann mit der Lampe, nachdem er Bajo wohl erst jetzt zwischen den Trümmern entdeckt hatte. „Na warte, du elender Bastard, dich kriegen wir!“ Schon hörte Bajo, wie anscheinend eine Menge Leute drinnen die Treppe runterpolterten. Mit schmerzverzerrtem Gesicht wandte er sich von der Schönen, die ihn nun lächelnd musterte, ab und begann, aus dem Gerümpel zu kriechen. Ein Schlüssel klimperte an der Hintertür, aufgebrachte Männerstimmen waren zu hören und zwei Häuser weiter bellte jetzt auch noch ein Köter. Panik erfasste Bajo. Endlich raffte er sich auf und fing an, entlang der Rinne zurückzuhumpeln. Die Männer waren jetzt draußen, „Da ist er!“, schrie einer mit stark likischem Akzent und Bajo vergaß seine Schmerzen, rannte schneller, immer wieder stolpernd, mal neben und mal in der Kloake. Die schimpfenden Verfolger kamen zum Glück nicht so schnell voran. Bajo sprang förmlich durch das Loch im Zaun und erschreckte auf der anderen Seite eine Gruppe betrunkener Seemänner. Er raffte sich wieder auf, und lief und lief, bis er nicht mehr konnte. Nach Luft ringend sank er schließlich auf eine Bank. Der Mob war ihm anscheinend nicht gefolgt.

Allmählich kam er wieder zur Besinnung und merkte angewidert, wie sehr er nach Kloake stank. „Mensch Bajo, was machst du denn hier in dieser Gegend?“, fragte eine Stimme. Bajo blickte auf und erblickte einen Arbeiter, den er aus dem Hafen kannte. „Boah, sag mal, stinkst DU so? Und wie siehst du eigentlich aus? Hast du etwa mit den Schweinen einen Ringkampf veranstaltet?“, fragte dieser und fiel mit seinen Kumpanen in ein höhnisches Gelächter. „Ich, ich bin gerade… weil ich… äh, musste einfach mal hier… ich meine…“, stotterte Bajo mit hochrotem Gesicht. „Ich, ich muss dann mal weiter“, sagte er, sprang auf und eilte los. „Stinkeschweinchen komm doch mal, aus deinem großen Urinal!“, grölten die Arbeiter hinter ihm her.

Auf dem weiteren Weg nach Hause wich Bajo jedem Menschen aus, dem er begegnete und als er endlich ankam, schlich er sich gleich in den Garten hinter dem Haus. Er fiel, alle viere von sich streckend, auf die kleine Wiese vor seinem Baumhaus. Der Sternenhimmel über ihm war so friedlich, doch in seinem Kopf tobte die Hölle: „Was für ein Desaster! Dieses Mal bin ich zu weit gegangen! Und in diesem Zustand hat mich auch noch einer von der Arbeit gesehen. Dann weiß es bald das ganze Kontor. Oh nein, das darf einfach nicht wahr sein!“

Nachdem er das leise Schnarchen von Tante Nele aus dem Haus wahrgenommen hatte und seinen eigenen Gestank selbst nicht mehr ertragen konnte, machte er sich zum nahegelegenen Fluss auf. Dazu brauchte er nur den Garten des Nachbarn zu durchqueren und schon war er am Waschplatz von Helmershorst. Mit samt der Kleider und den Schuhen ging er dort ins seichte Wasser. Er rubbelte seinen ganzen Körper ab, tauchte immer wieder unter und schabte am Ende pausenlos mit einem flachen Stein über seine Kleider. Als er das Gefühl hatte, den gröbsten Dreck los zu sein, ging er mit glubschenden Geräuschen in seinen Schuhen zurück zum Baumhaus. Hier zog er sich nun ganz aus und seifte sich unter seiner selbstgebauten Dusche gründlich ab. Erst dabei bemerkte er seine vielen Wunden und Prellungen. „Wohl nichts gebrochen“, dachte er erleichtert, nachdem er seinen Körper abgetastet hatte. „Aber wahrscheinlich wird mich eine üble Krankheit heimsuchen, nach diesem Kloakenbad!“ Krankheiten fürchtete Bajo aufs Äußerste. Ein kurzer schneller Tod, gut, wenn es sich nicht vermeiden ließe. Aber Dahinsiechen und elendig zu Grunde gehen, nein, das wäre das absolute Grauen. Seine Kleider legte Bajo ausgebreitet auf das Gras. Er nahm die kleine Petroleumlampe, die er in der Zwischenzeit entzündet hatte, und kletterte hoch in sein Baumhaus. Er zog die ältesten Sachen an, holte noch eine alte Strohmatte nach oben und legte sich am Rand seiner Veranda darauf nieder, denn sein Bett wollte er vorerst nicht benutzen, der Gestank musste erst aus seinem Körper weichen. Bajo fühlte sich wirklich schlecht. Es waren nicht die Schmerzen. Nein, es war diese Ungewissheit, was jetzt wohl kommen würde. Und das unerträgliche Gefühl, etwas Falsches getan zu haben und jetzt nicht mehr zurückzukönnen. Bajo drehte sich auf die Seite, krümmte sich ein und fing leise an zu weinen.

„Was machen denn die Kleider hier?“, rief Tante Nele am nächsten Morgen von unten. „Die riechen aber nicht gut…“. „Lass einfach liegen“, krächzte Bajo zurück. „Das räum ich nachher weg!“. Er konnte sich nur langsam bewegen, alles tat ihm weh. Er hatte kaum geschlafen und fühlte sich fürchterlich. „Noch eine Dusche wird jetzt guttun“, dachte er und schlummerte wieder ein. „Steh‘ jetzt endlich auf!“, rief Tante Nele, während Bajo in seinen Träumen gerade schon beim Haarewaschen war. Etwas energischer setzte seine Tante nach: „Du weißt, dass du heute zu deinem Vater musst?!“ „Oh nein! Das habe ich ganz vergessen“, murmelte Bajo und schrak entsetzt hoch. Er hatte es die ganze Zeit verdrängt. Sein Vater war für ihn nur eine einzige Qual. Trotz der Distanz kam er immer mit irgendwelchen Problemen bei ihm an. Vor allem, wenn er sich einen Handwerker sparen wollte, hörte Bajo die Worte: „Du musst lernen, die Sachen in Ordnung zu halten, denn das Ganze wird ja mal dir gehören“. Als hätte er in seiner Kindheit nicht schon genug gelitten, er musste ewig sein Handlanger sein, während seine Freunde spielten und sich vergnügten. Und dann prahlte sein Vater noch immer, was ER doch alles geschaffen hatte, natürlich ohne zu erwähnen, dass seine Frau und sein Sohn und die Handwerker, die von ihm abhängig waren, ewig für ihn als Sklaven schuften mussten. Als Bajo älter wurde, kam es dann eines Tages zu einem so heftigen Streit, dass seine Mutter beschloss, fortzugehen. Sie hatte sich heimlich eine Arbeit gesucht und nahm Bajo mit. Sein Vater schäumte vor Wut, als sie auf einmal nicht mehr da waren, aber er konnte nach den neuen Gesetzen Großmittenlands nichts dagegen unternehmen. Bald darauf schon zog Bajo zu Tante Nele, mit der er sich gut verstand und die sich freute, jemanden im Haus zu haben. Da begann für Bajo die schönste Zeit, er fand eine gute Stelle im Hauptkontor, zog mit seinen Freunden um die Ecken und genoss alles, was es zu genießen gab. Aber Bajo war zu schwach, um sich ganz aus den Fängen seines Vaters zu befreien. Und dieser rief nun heute zum Apell, weil er mal wieder etwas ganz Wichtiges zu verkünden hatte. Es ging dabei natürlich immer nur um Dinge, die sich um die Häuser, das Geld und die Besitztümer seines Vaters drehten. „Dieser egoistische, obergeizige Widerling“, rief Bajo gen Himmel blickend, „kann er mich nicht endlich in Ruhe lassen?!“ Aber obwohl Bajo seinen Vater hasste, erlag er immer wieder seinen Versprechungen, dass er einmal alles erben würde und tanzte dann am Ende brav bei ihm an.

Es hatte begonnen zu regnen und war merklich kühler geworden, ein leichter Nordwind kündigte das Ende des Sommers an. Bajo saß auf dem Kutschbock neben Tante Nele. Sie fuhren nach Auenbrück, am anderen Ende, im nördlichen Kontoria, wo sein Vater in dem Elternhaus wohnte. Er besaß dort in der Nähe noch drei Mietshäuser und eine Taverne, die er verpachtete. Tante Nele erzählte und klagte unentwegt über ihre Arbeit, die Nachbarn und die Familie. Bajo versuchte wie jedes Mal, sie ab und zu durch einen Scherz oder eine lustige Grimmasse aufzuheitern, aber so ganz gelang es ihm an diesem Tage nicht. Zu tief nagte noch die Schmach vom gestrigen Abend an ihm. Zu groß war die Angst vor dem nächsten Arbeitstag. Und in diesem Zustand musste er, am einzigen freien Tag der Woche, auch noch zu seinem Vater. Tante Nele war zum Essen bei ihrer Schwester eingeladen und fuhr, nachdem sie Bajo abgeladen hatte, gleich weiter. Er winkte und schaute ihr noch ein Weilchen hinterher, doch dann konnte er es nicht länger hinauszögern, er musste es jetzt hinter sich bringen.

„Hallo, da bin ich“, rief Bajo, als er durch die Gartenpforte kam. Wie immer war sein Vater mit irgendwas beschäftigt und grüßte nur beiläufig. „Geh schon mal in die Stube“, sagte er, nachdem er Bajo einen Moment hatte warten lassen. „Wir müssen was besprechen“. Bajo hasste diese Art einfach nur. Wie ein dummer Schuljunge musste er erst einmal danebenstehen, nur, um sich dann wieder, in ängstlicher Erwartung in die Stube zu setzen. Sein Vater liebte dieses Machtspiel, er veranstaltete es mit Bajo, seitdem dieser ein Kind war, und mit allen, die in irgendeiner Weise von ihm abhängig oder ihm untergeben waren. Humpelnd und mit schmerzverzerrtem Gesicht schleppte sich Bajos Vater in die Stube. Bajo sprang auf, um ihm beim Setzen zu helfen. „Du bist ein schlechter Schauspieler. Du spielst den sterbenden Schwan und willst nur, dass ich wieder irgendwas machen soll, damit du niemandem was bezahlen musst“, dachte sich Bajo und schaute angewidert in eine andere Richtung, wagte es aber nicht, seine Gedanken auszusprechen.

„Nun, mein Sohn…“, begann sein Vater, „du weißt, was ich alles geschaffen habe, wie sehr ich mich krumm gemacht habe, um all dies aufzubauen.“ Es folgte das übliche Blabla, was ER Großes geleistet hatte, gefolgt von den Bekundungen, dass er doch im Grunde alles nur für seine Familie, besser gesagt für seinen Sohn, getan hätte und dass Bajo am Ende alles erben würde. Doch Bajo war schon lange klar, dass sein Vater aus purer Gier alles an sich raffte, was er konnte. Dabei benutzte er jeden, um seine Ziele zu erreichen, besonders gerne auch seinen Sohn. Nach außen hin versuchte sein Vater, sich als ehrgeiziges, aber dennoch fürsorgliches Familienoberhaupt darzustellen. Wie oft hatte Bajo ihn schon erlebt, wie er, Tränen in den Augen, sein Leid klagte, dass er doch alles für seine Familie tat, aber keiner dies anerkennen würde. Doch seine Tränen waren immer nur pures Selbstmitleid, weil die anderen nicht so spurten, wie er es gerne hätte. In Wahrheit war sein Vater egoistisch, berechnend und skrupellos. Am Ende seiner Monologe kam dann immer der eigentliche Punkt. Dann wollte er immer eine Entscheidung und hoffte, diese durch sein vorhergehendes Geschwafel in die richtige Richtung gelenkt zu haben. So war es auch heute: „Da ich nun also die Güter nicht mehr alleine betreuen kann“, führte er aus, „sollst du die Verwaltung übernehmen und dazu musst du wieder hierher nach Auenbrück ziehen!“

Das hatte Bajo nicht erwartet, er hatte mit den üblichen Tiraden und der Bitte nach Unterstützung gerechnet, aus denen er sich immer einigermaßen rauswinden konnte. Doch wieder in das verhasste Elternhaus zurückziehen? Nie im Leben! „Was meinst du mit ‚verwalten`? Meinst du, ich soll meine Arbeit aufgeben und bekomme das Geld aus den Mietshäusern?“ fragte Bajo. „Nun werde mal nicht gierig, mein Sohn! Ich komme schon noch früh genug unter die Erde!“, herrschte sein Vater ihn an, „du kannst natürlich weiterarbeiten, von hier aus ist es auch nicht weiter zum Hauptkontor als von Helmershorst aus. Nein, du sollst dich um die Leute kümmern, Miete kassieren, die Bücher machen und Reparaturen durchführen, wenn sie nötig sind. Das kannst du auch gut nach der Arbeit machen. Das ist ja wohl nicht zu viel verlangt! Du willst doch am Ende mal alles erben, dann musst du schon beweisen, dass du dessen auch würdig bist!“ Bajo war voller Enttäuschung und Wut, doch er konnte sich nicht rühren, seine Unterlippe begann zu zittern und er starrte auf den Boden. Doch sein Vater fing jetzt erst richtig an, er machte ihm Vorhaltungen, was für ein nichtsnutziger Sohn er doch war und dass er, als er so alt war wie Bajo, schon neben dem Elternhaus das erste Mietshaus besaß. „Du ziehst hierher, sonst bekommst du gar nichts! Da gibt es eine Menge Witwen, die mich nur allzu gerne nehmen würden und deren Söhne es zu schätzen wüssten, was ich hier geschaffen habe! Du kannst es dir überlegen, bis zum nächsten freien Tag der Woche will ich deine Entscheidung!“, endete sein Vater, drehte sich um und ging, auf einmal nicht mehr humpelnd, fluchend und zeternd aus der Stube.

Bajo saß da und wusste nicht, wie ihm geschah. Er war eigentlich ein gestandener Mann, doch nun fing er an, am ganzen Körper zu zittern, er konnte sich einfach nicht wehren. Er fühlte sich so schlecht, dass er sich fast übergeben musste, „Raus, ich muss hier raus“, dachte er nur und schleppte sich zum Eingang. Sein Vater war nicht zu sehen und er schlich sich leise vom Hof. Eigentlich sollte er warten, bis ihn Tante Nele wieder abholte, doch Bajo wollte einfach nur weg.

Ziellos, fast schon verwirrt, eierte Bajo durch die Straßen. „Dieses miese Dreckschwein!“, fluchte Bajo in sich rein. „Ich soll wieder sein Handlanger sein und er kassiert fleißig. Es ist ihm scheißegal, was mit mir ist, Hauptsache, er kann gierig sein Geld zählen! Glaubt der, ich habe kein Leben?! Der wird doch über 100, der überlebt mich noch. Und was war ich dann? Der Sklave meines Vaters!“ Bajo setzte sich auf einen Mauersims und fing an zu weinen. „Meine ganze Kindheit, meine halbe Jugend habe ich verpasst, nur weil ich für den Gierhals schuften musste. Mein Rücken ist kaputt und im Kopf habe ich anscheinend auch nicht alles verkraftet. Und wofür? Für nichts!“, rief Bajo wütend. Die Leute gegenüber wurden neugierig wegen seines Geschluchzes und kamen nach draußen, doch Bajo sprang auf und eilte weiter. Nachdem er ein wenig die Orientierung gefunden hatte, wanderte er zu seinem Lieblingsplatz, dem Nest am Flussufer. Als er sich dort erschöpft fallen ließ, war er komplett am Ende. Nicht mal mehr zu weinen im Stande war er. Regungslos starrte Bajo auf das Wasser. Sein Leben lag in Scherben und er hatte keine Kraft mehr!

Schattenhunger

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