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4.1 Beim Peschmar von Schichtstadt

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4. Kapitel - Krieg zieht auf

Am Morgen des Festtages mussten Leandra und Bajo mit etwa zwanzig anderen zum Apell in dem Gasthof antreten, wobei alle Schürzen und Jacken der königlichen Dienerschaft anhatten. Die Wirtin ermahnte sie, keine Schande über ihr Haus zu bringen und fleißig zu sein und führte sie dann nach oben zum Palast. Jeder hatte spezielle Papiere bekommen und wurde am obersten Tor genauestens kontrolliert sowie nach Waffen durchsucht. Bajo hatte sein Kristallmesser, den Sonnenstein und sein Wuko in seinem Zimmer der Herberge gut versteckt. Der Edelstein, den er in den Stollen gefunden hatte, war ja im Geheimfach seines Gürtels sicher.

An diesem Tag hatte Bajo die Schnatterwürmer in sein Ohr gelassen und sie gebeten, ihm bei dem besonderen Anlass zur Seite zu stehen. Wie immer sollten sie ihm alles übersetzen, worauf er sich konzentrierte, und ihm, wenn nötig, Fragen beantworten. Nela und Neli willigten gerne ein und merkten an, dass dieser Ausflug auch für sie eine schöne Abwechslung wäre. Bajo trug die Schote unter dem Hemd, sodass er die Schnatterwürmer auch jederzeit wieder aus seinem Ohr herauslassen konnte.

Im Gänsemarsch ging es nun weiter. Leandra und Bajo mussten aufpassen, in der Reihe zu bleiben und dem Vordermann nicht in die Hacken zu laufen, da sie ihre Blicke voller Neugier über die Anlagen schweifen ließen.

Auf einem Platz vor der Hauptküche machten sie schließlich Halt und sahen gerade noch, wie ein Trupp, der unmittelbar zuvor eingewiesen worden war, in den Gemäuern verschwand. Hier übergab die Wirtin ihre Gruppe einem Mann der königlichen Dienerschaft und verabschiedete sich wieder.

„Schaut mich genau an!“, begann dieser im strengen Ton. „Ich bin heute euer Gott! Was ich euch sage, werdet ihr auch sofort erledigen! Wer nicht gehorcht, wandert in den Kerker! Habt ihr mich verstanden?“ „Jawohl!“, riefen die, die schon öfter ihren Dienst hier oben verrichtet hatten. Leandra hatte Bajo nebenbei die wichtigsten malikischen Worte beigebracht, übersetzte aber zur Sicherheit ganz leise. Sie wusste ja nicht, dass er Schnatterwürmer besaß. „Seht ihr die blauen Schulterklappen?“, fuhr der Mann fort, „Wenn ihr bei dem ganzen Durcheinander tatsächlich mein Gesicht vergessen solltet und ihr nicht weiterwisst, wendet euch an den Gott mit den blauen Schulterklappen!“ Es folgte ein doch eher gespieltes Gelächter der angeheuerten Mannschaft, da das anscheinend ein Scherz war. „Ihr werdet mir jetzt folgen und ich werde euch drinnen einzeln zuweisen. Die, die schon öfter hier waren, kennen das Spiel ja“, ordnete er an.

Alle folgten dem ‚Gott‘ und in einem Vorraum mussten sie nacheinander vortreten. Die einen wurden der Küche zugewiesen, die anderen als Speisenträger eingeteilt. Leandra war nicht sehr erfreut, dass sie in der Küche schuften musste, hatte es aber im Grunde schon so erwartet. So verschwand sie mit einigen anderen Frauen in der Großküche. Bajo hingegen wurde als Laufbursche eingewiesen und half zunächst beim Aufbau des Festmobiliars. Er schleppte Tische, Stühle, Vasen und sonstige Dekorationen. Mit der Zeit fanden sich auch die Unterhaltungskünstler ein und suchten sich ihren Platz. Narren, Clowns, Feuerschlucker, Musiker, Tänzer und vor allem Tänzerinnen bereiteten sich auf den Abend vor. Natürlich konnte Bajo es wieder nicht lassen, den hübschen, exotischen Grazien hinterher zuglotzen. Einmal wäre er deswegen mit einer großen Vase in den Händen fast gestolpert und zog so die strengen Blicke des ‚blauschultrigen Gottes‘ auf sich. „Wenn du was kaputt machst, wirst du das die nächsten Wochen abarbeiten, hast du mich verstanden, Bursche?“, herrschte er Bajo an. Der war kurz davor, auf die Knie zu fallen und „Bitte bestraft mich nicht, eure Gottheit!“ zu rufen, verkniff sich das aber doch lieber, denn Scherze durfte hier nur der Vorsteher machen.

Allmählich wurde es Abend und das Treiben immer hektischer. Bajo musste jetzt auch schon die ersten Lebensmittel und Getränke heranschaffen. Dann sah er durch eine Mauerschlucht zum großen Vorplatz, dass die ersten Sänften mit den hohen Herrschaften eintrafen. Die Musiker begannen zu spielen und die Spannung stieg. Als sich die ersten Gäste einen Platz suchten, wurden in Windeseile warme Speisen herbeigeholt. Die Reihen füllten sich nun immer mehr und während Bajo am Anfang noch genügend Zeit gehabt hatte, die Hochwohlgeborenen zu begutachten, flitzte er jetzt nur noch hin und her und schaffte heran, was sein Vorsteher ihm befahl. Auf einmal ertönten Fanfaren und am Haupttisch nahmen der Peschmar und seine Familie Platz - von Bajos Position aus leider kaum zu erkennen. Nach einer kurzen Begrüßung verkündete ein Redner die offizielle Eröffnung des Festes und dann ging es richtig los. Immer mehr Braten, Gemüse, Suppen, Wein und Met wurden geordert, von allen Seiten erklang Musik, Tanzgruppen und einzelne Tänzerinnen unterhielten die Gäste, zwischendrin verzauberten Magier und Feuerschlucker die Leute oder man lachte lauthals über die Späße der Narren. Inzwischen karrte Bajo auch allerlei wunderschön dekorierte Süßspeisen heran und auch der Rückfluss von benutzten Tellern, Besteck, Schüsseln, Krügen und Gläsern hatte stark zugenommen. Bajo kam ganz schön ins Schwitzen und die Schlepperei machte seinem Rücken merklich zu schaffen.

Nach einigen Stunden flaute der Essensstrom ab, die Gäste hatten ihren Hunger gestillt und verlangten nun mehr nach Alkohol. Damit wurde es auch für die Bediensteten etwas ruhiger. Es war so eingerichtet, dass jetzt immer einer der Laufburschen reihum eine Pause machen durfte. Bajo ließ den anderen den Vortritt und nahm seine Auszeit erst als Letzter. Als er dann an der Reihe war, führte ihn sein erster Weg zu den Latrinen der Dienerschaft. Diese lagen recht weit entfernt und kosteten ihn bereits einen guten Teil seiner Pause. Da ihm der Magen eine ganze Weile geknurrt hatte, musste schon zwischendurch etwas Bohnenmus herhalten, welches er sich beim Zurücktragen von Resten, einfach von dem Tablet genommen und schnell in den Mund gesteckt hatte. Auf dem Rückweg wollte er dann aber endlich in der Großküche vorbeischauen, denn dort lagen die Essensreste aus, die sich das Personal ganz offiziell nehmen durfte. Doch bevor er dort ankam, fiel Bajo eine Seitentür auf, die einen Spalt weit aufstand. Er hielt inne und kämpfte mit sich selbst. „Nein, tue es nicht. Du weißt, was das letzte Mal passiert ist… Auf der anderen Seite… ich kann ja einfach mal einen Blick riskieren. Zeit habe ich noch und wann werde ich wohl je wieder die Gelegenheit haben, mir den Palast von Schichtstadt anzusehen?“, dachte er sich und lugte schon durch die Tür um die Ecke. Enttäuscht bemerkte er dahinter nur einen weiteren Gang. „Was soll’s…“, war sein nächster Gedanke und er schlich diesen Korridor hinauf bis zur nächsten Abzweigung. Dummerweise bog Bajo ohne jegliche Vorsicht ab, da er keine Geräusche hörte, doch dann erstarrte er augenblicklich: In einiger Entfernung lehnte eine Frau an der Wand. Offensichtlich eine hochwohlgeborene und anscheinend auch beschwipst, denn sie wandte den Kopf relativ langsam Richtung Bajo, drehte sich dann weiter um, wobei sie sich von der Wand wegdrückte, gleichzeitig jedoch auch schwankend an ihr festhielt, hob dann die andere Hand und warf ihm einen Kuss zu. Bajo war wie gelähmt und konnte nur ein breites Grinsen zustande bringen. Die Frau machte eine Handbewegung, die andeutete, ihr zu folgen, drehte um und torkelte einen weiteren Gang hinauf.

Jetzt war Bajo in großer Versuchung. Hatte er doch gerade erst große Sprüche vor seinen Gefährten geklopft und nun war die Situation tatsächlich Realität! Und seltsamerweise kam ihm in diesem Moment auch die Szene mit Leandra in den Sinn, in welcher sie Bajo an dem fröhlichen Abend von der Treppe aus dieses seltsame ‚Tue es nicht‘ zu verstehen gegeben hatte. Was sie wirklich damit gemeint hatte, wusste Bajo noch immer nicht, aber an jenem Abend war er drauf und dran gewesen, sich mit einer Frau zu vergnügen, so wie sich ihm ja auch jetzt die Möglichkeit bot. Sollte er lieber kehrtmachen? Nein, die Versuchung war zu groß! Bajo schluckte einmal kräftig und marschierte der Frau, die schon um die nächste Ecke gebogen war, hinterher. Kurz bevor er allerdings den Gang erreichte, hielt er inne, denn er vernahm Stimmen. Diese entfernten sich aber gleich wieder und so setzte Bajo die Verfolgung fort. Er sah die Schöne gerade noch ein weiteres Mal abbiegen und lief ihr hinterher, wobei er sich in Gedanken schon das Liebesspiel ausmalte, und dann… war sie verschwunden! Bajo lauschte angestrengt, ob er vielleicht ein leises Rufen, Rumpeln oder Türenklappern hören konnte, aber nichts. Er konnte doch jetzt nicht alle Türen öffnen, um nachzuschauen, ob sie vielleicht dahinter wäre. Nein, das war nun doch zu gefährlich, er hatte sich sowieso schon viel zu weit vorgewagt. Auf der einen Seite enttäuscht, auf der anderen Seite aber auch irgendwie erleichtert, drehte Bajo um und setzte zum Rückweg an.

„Wir sind hier alleine und sicherer, wer weiß schon, ob nicht einer aus der Dienerschaft am Ende etwas mithört…“, schallte eine Männerstimme wie aus dem Nichts. Regelrechte Panik ergriff Bajo. Er sprang zur nächsten Tür, die im Verhältnis zu den anderen recht groß war, schlüpfte hindurch und schloss sie leise wieder. Er wunderte sich selbst, wie schnell und gewandt er diesen Akt vollzogen hatte. Jetzt strömten alle Gedanken auf einmal auf ihn ein: „Was, wenn ich hier erwischt werde? In Kontoria hätte man mich als Staatsbürger sicherlich nicht so hart bestraft, aber hier? Als Ausländer? Als potentieller Spion? Bestimmt der Galgen! Was ist, wenn die jetzt genau hier hereinwollen? Wie enttäuscht werden meine Gefährten wohl von mir sein?“ Die Stimmen wurden nun sehr laut - wer auch immer da kam, musste fast an der Tür angelangt sein. Bajo drehte sich um. „So ein Mist!“, fluchte er innerlich denn es war kein Vorhang zu sehen - das Zimmer bloß ein fensterloser Innenraum. Genauer genommen war es ein kleiner Salon mit einem langen Sofa und ein paar großen Sesseln, zwischen denen ein paar kleine Tische standen. Bajo huschte zum Sofa hinüber und rollte sich darunter, gerade noch rechtzeitig, bevor tatsächlich die Tür aufging. „Das ist mein Lieblingsort, wenn ich alleine sein will. Weit weg von meiner Frau, Hahaha. Hier habe ich schon so einige Zimmermädchen und Mägde vernascht!“, tönte die gleiche Stimme von eben. Bajos Herz klopfte hoch bis zum Hals. An der unteren Kante des Sofas, unter dem er lag, hing zum Boden hin eine dichte Reihe von Zierkordeln, durch die Bajo gut hindurch lugen konnte. Er sah, wie sich zwei Männer einander gegenüber auf die Sessel setzten. Der eine schlurfte etwas und war sehr korpulent. Der andere… den anderen kannte Bajo! Es war der merkwürdige Kerl, den er von seinem Versteck aus im Palast von Kontoria gesehen hatte. Angestrengt überlegte er, aber er kam nicht auf den Namen.


„Nun, Eure Eminenz“, begann jener schon bekannte, „da Ihr euch mit mir treffen wolltet, entnehme ich dieser Tatsache, dass Ihr offen für meine Andeutungen seid.“ „So ist es, mein lieber Delminor, so ist es“, bestätigte der Korpulente und jetzt klingelte es bei Bajo wieder, ‚Delminor‘ war der Name! „Ihr habt angedeutet, dass Ihr mir etwas geben könnt, was ich begehre, wenn ich ein Komplott mit Euch eingehe. Da bin ich erstmal neugierig geworden. Aber bedenkt, als Herrscher von Schichtstadt könnt Ihr mich nicht für Gold und Edelsteine kaufen!“ Bajos Augen wurden vor Schreck ganz groß, „Ach du meine Güte, der Peschmar!“, schoss es ihm durch den Kopf. „Das ist mir sehr wohl bewusst, Eure Hoheit, nein ich kann euch natürlich etwas ganz Besonderes anbieten!“, fuhr Delminor fort. „Na, dann rückt schon raus mit der Sprache, spannt mich nicht auf die Folter!“, drängte der Peschmar. Delminor erläuterte: „Mein Gebieter, Gamor der Große, hatte sich gewundert, dass sein Vorgänger ‚Arus der Gütige‘ so ein hohes Alter erreichte. Als sein Nachfolger richtete er sich in dessen ehemaligen königlichen Gemächern ein und fand im Nachttisch einen seltsamen Stein…“ „Einen Melonstein!“, unterbrach ihn der Peschmar freudig erregt. Delminor nickte: „Ja, in der Tat, die Alchemisten bestätigten die Echtheit dieses Juwels. Da Arus den Tod seiner Söhne nicht verkraftet hatte, legte er den Stein wohl beiseite, um zu sterben.“ „Ein Melonstein! Den muss ich haben!“, geiferte der Peschmar. „Was muss ich tun? Schnell, sagt mir, was ihr verlangt?“ „Oh, es ist eigentlich nicht viel…“, deutete Delminor an und beugte sich zum Peschmar herüber, um ihm etwas zuzuflüstern.

Bajo strengte sich an, die Worte zu verstehen, aber er - das heißt, auch die Schnatterwürmer - konnte nur ein paar Brocken heraushören. Er verstand „ein paar Truppen aufmarschieren“, „Euch natürlich nichts tun“ und „Hilfe anfordern“.

Der Peschmar strich sich mit der Hand unruhig um das Kinn. „Ihr wisst, dass ich zu Karamin und damit zu Mondaha eine sehr gute Beziehung habe…“ „Gewiss, Eure Herrlichkeit, aber das ist doch das Geniale, euch trifft keine Schuld! Ein Freund ruft den anderen um Hilfe, mehr ist es doch nicht“, beruhigte ihn Delminor. „Ich weiß nicht…“, zögerte der Peschmar. „Karamin ist ein treuer Freund… Und wieso will sich Gamor eigentlich von diesem Schatz trennen? Das finde ich doch sehr merkwürdig, da ist doch was faul…“ Delminor beschwichtigte den Herrscher: „Vertraut mir, Eure Großzügigkeit, Gamor legt keinen Wert auf diesen Stein. Er ist der Führer unseres Glaubens, ein Bote Helimars selbst. Er sehnt sich nach dem Paradies unseres Gottes. Wenn er sein Werk auf Erden vollbracht hat, geht er mit Freuden in seine Welt über. Je eher, desto besser! Und seid unbesorgt wegen eures Freundes, wenn Ihr es wünscht, werden wir ihn und seine Familie gehenlassen und er kann bei euch Zuflucht finden. Bedenkt, Ihr seid nicht mehr der Jüngste. Wollt Ihr nicht noch viele Jahre euren Reichtum genießen? Denkt nur an die vielen Jungfern, die ihr noch beglücken könntet!“ Die Augen des Peschmars wurden wieder größer: „Jaaa, ja Ihr habt recht! Aber Ihr müsst schwören, Karamin gewähren zu lassen! Und wenn was schiefläuft, wusste ich von nichts! Und den Stein, ja den Stein will ich zuerst haben, bevor ich da mitmache!“, dann fügte er schelmisch grinsend noch hinzu: „Er bedeutet Eurem Führer ja eh nichts, nicht wahr…?“ Delminor war zufrieden und reichte dem Peschmar die Hand: „So soll es sein, Eure Prächtigkeit, lasst uns den Pakt besiegeln, er wird uns beiden Glück bringen!“ Der Peschmar schlug ein und die beiden erhoben sich wieder.

Als sie gegangen waren, fiel die ganze Anspannung von Bajo ab, was durch einen langen, lauten Furz begleitet wurde. „OHHahh, tut das gut!“, seufzte Bajo leise, „ich hätte nicht das Bohnenmus naschen sollen…“ Doch schon waren seine Gedanken wieder bei dem gerade Erlebten. „Die planen was gegen den König von Mondaha, soviel steht fest! Aber was?“, murmelte er. Und an die Schnatterwürmer gerichtet: „Habt ihr das gehört, dieser Gamor hat einen Melonstein, von dem ihr mir erzählt habt.“ „Das riecht nach Verschwörung!“, antwortete Neli. „Aber was können wir dagegen tun?“, fragte Nela. „Tja das weiß ich auch nicht“, bedauerte Bajo. „Ich weiß ja nicht mal genau, was da geplant ist. Und selbst wenn, wer würde mir schon glauben? Außerdem dürfte ich ja gar nicht hier sein… Oh nein! Apropos ‚hier sein‘, meine Pause ist längst vorbei! Der Vorsteher lässt mich in den Kerker werfen! Wenn sie mich nicht sowieso vorher zu fassen kriegen!“ Bajo kroch schnell unter dem Sofa hervor, sprang auf und horchte an der Tür. Da nichts zu hören war, ging er jetzt aufs Ganze. Er schritt hinaus in den Gang und eilte schnurstracks zu der Seitentür zurück, durch die er gekommen war. Wenn ihn jetzt einer erwischte, konnte er immer noch behaupten, er hätte sich verlaufen. Dann rannte er zurück Richtung Fest, wobei er einen anderen Laufburschen aus seiner Gruppe überholte. „Hey, Baja, oder wie du heißt“, rief der ihm hinterher und Bajo stoppte. „Der Oberdiener sucht dich schon! Deshalb hat er mir zwei Aufträge gegeben! Nimm du das Tablet mit dem weißen Perlwein hier, ich hole dann den Rotwein!“ Das war Bajos Rettung! Er nahm das Tablet, bedankte sich und balancierte die Fracht, so schnell er konnte, durch das Getümmel hindurch. „Wo warst du, Bursche? Deine Pause ist längst vorbei! Wieso hast du den… ach egal, los, bring das dahinten hin, zum rosa Buffet! Und dann nochmal das Gleiche zum grünen Buffet, zack zack!“, ermahnte ihn der Vorsteher. Bajo fiel ein Stein vom Herzen, gerade noch einmal gut gegangen.

Mittlerweile hatte das Fest seinen Höhepunkt erreicht, es war ein ohrenbetäubender Lärm; Musik, Gelächter, Gebrabbel und Gekreische hämmerten auf Bajo ein – und auf die Schnatterwürmer. „Das ist uns jetzt doch zu viel des Guten“, meldeten sich Nela und Neli, die sich ja sonst still verhielten. „Wir können nicht mehr, bitte lass uns wieder heim!“ Bajo konnte das gut verstehen. In einem günstigen Augenblick tat er so, als würde er sich kratzen und hielt dabei die Schote in sein Ohr. Gleich darauf kitzelte es auch schon und wenige Augenblicke später verstaute er seine Kostbarkeit wieder unter dem Hemd. Von da an verstand Bajo wieder nur noch ein paar Brocken, aber er kannte inzwischen genügend Wörter im Zusammenhang mit Speisen, sodass er keine Probleme hatte, den Anweisungen des Vorstehers zu folgen. Das Getöse und die Hektik lenkten ihn von den rätselhaften Erlebnissen aus dem Palast ab und er genoss es sogar, das bunte Treiben zu beobachten. Natürlich hatte er auch immer mal wieder versucht Topao in der Menge zu erblicken, aber leider vergeblich und mittlerweile hatte er es auch aufgegeben, ihn zu finden.

Nach etwa zwei weiteren Stunden leerten sich die Reihen langsam. Dafür jedoch wurden die Verbliebenen immer zügelloser. Manche fingen an, sich wild zu küssen, einige Frauen hatten ihre Brüste blankgezogen, ein paar der Hochwohlgeborenen trieben es sogar hemmungslos in den Büschen! Ein Mann stand auf einem Tisch und pinkelte im hohen Bogen in eine Standvase und fiel, noch bevor er fertig war, seitwärts herunter, wo er im letzten Moment von einem Diener aufgefangen wurde. Es wurde mit Essen geschmissen und sich gegenseitig Wein über den Kopf gegossen, was die drumherum stehenden Gäste jeweils mit lautem Gegröle feierten. Bajo konnte es kaum glauben, was sich da vor seinen Augen abspielte. Aber auch wenn dies das beste Beispiel für Dekadenz war, fand er es doch hochinteressant. Seine Blicke hingen natürlich immer wieder an den Frauen, die teilweise schon fast nackt umherliefen. Für die anderen Diener war es anscheinend ein gewohntes Spektakel, sie lavierten unbeirrt zwischen den Feiernden hindurch, räumten die Reste ab, brachten Nachschub und trugen jetzt zunehmend auch die Herrschaften fort, die im Suff schlichtweg umgefallen waren. „Hey, du! Hilf da drüben mit!“, schreckte ihn der Oberdiener auf und Bajo wandte sich nur unwillig von den Büschen ab. Er musste dem Laufburschen helfen, der ihn vorher gerettet hatte. Es machte den Anschein, als wären eigens für das Fest spezielle Tragen gebaut worden, jedenfalls hatte Bajo solche vorher noch nicht gesehen. Sie waren stabil, aber, wie sich herausstellen sollte, leicht konstruiert. Vorn und hinten hatten sie zwei Griffe und die lederne Liegefläche war geformt wie eine längliche Mulde. Sehr von Vorteil, denn so konnte die Person, die transportiert wurde, nicht so leicht herunterfallen, auch wenn sie erwachen und versuchen sollte, wieder abzusteigen. Bajo packte einen volltrunkenen Edelmann mit an und bugsierte ihn mit auf die Trage. Dieser stank nach Schweiß, Alkohol und Urin, sein Hemd war geöffnet und hing komplett aus der Hose, deren Vorderseite aufgeknöpft war und den Blick auf das heraushängende Gemächt freigab. Es war ein erbärmlicher, widerlicher Anblick und Bajo musste ihn weiterhin ertragen, da er, nachdem sie die Trage hochgestemmt hatten, hinten lief. „Ein Glück, dass der hier nicht so viel wiegt, einen Kopf größer und ich würde zusammenbrechen!“, stöhnte Bajo, in schlechtem Malikisch, in Richtung seines Vordermannes. „Keine Sorge, wir haben auch größere Tragen, dann schleppen wir zu viert“, rief der zurück.

Es war gar nicht so einfach, aber wenn sich Bajo an den Gleichschritt hielt, ging es. Ein gutes Stück mussten sie zurücklegen, bis sie zu einem Gebäude gelangten, in dessen Innerem eine Reihe von kleinen Zimmern lag, in denen sich jeweils eine große, flache Liege befand. Ansonsten gab es nur noch einen kleinen flachen Tisch mit einem Krug Wasser und ein paar gefalteten Tüchern darauf. Neben der Liege stand eine große Schüssel, für den Fall, dass sich einer der Zimmergäste übergeben musste. Diese Räume waren ganz klar extra für die ‚Leichen‘ der Feste hergerichtet worden, denn auch wenn der Großteil der Besucher die Feier mit den normalen Sänften wieder verließ, gab es doch immer einen - nicht unerheblichen - Teil, der komplett abstürzte. Sobald sie also den Edelmann verfrachtet hatten, ging es auch schon wieder zurück. Bajo bedankte sich noch einmal bei dem anderen Laufburschen, mit seinen drei Brocken Malikisch, die er gelernt hatte, für die Rettung von zuvor. Der klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter und sagte etwas wie „man müsse zusammenhalten“.

Nachdem die beiden weitere zwei Edelmänner und eine weibliche Hochwohlgeborene untergebracht hatten, war das große Aufräumen angesagt. Bajos Rücken schmerzte mittlerweile stark, aber was sollte er machen? Dazu kam auch das Arbeiten zu später Stunde, das war er nicht gewohnt. Als die Sonne schon aufgegangen war, kam endlich der Befehl, sich wieder auf dem Platz vor der Großküche zu versammeln. Bajo war völlig abgekämpft und froh, Leandra endlich wiederzusehen, die dort schon auf dem Boden kauerte. „Na, wie ist es dir ergangen?“, fragte sie ihn gleich. „Oh, frag nicht, mir tun alle Knochen weh, noch ein Stündchen und ich wäre zusammengebrochen“, klagte Bajo, „Und bei dir?“ „Langweilig! Nur in der Pause… erzähle ich dir später…“, unterbrach sich Leandra selbst. Ein weiterer königlicher Angestellter kam hinzu, welcher der Zahlmeisterei zugehörig war. Alle mussten sich in eine Reihe stellen und bekamen, nach einer Unterschrift auf einem Dokument, ihren Lohn ausgehändigt. Die Erfahreneren erhielten dabei ein wenig mehr.

Es dauerte nicht lange und die Wirtin erschien, um sie zurück zur Herberge zu führen. Die Straßen waren bereits wieder recht belebt und Leandra und Bajo fielen erst ins Bett, als die allgemeine Frühstückszeit längst vorüber war.

Schattenhunger

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