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8. Kapitel Städtisches Klinikum

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„Guten Morgen, meine Damen und Herren.“ Bekker war ausnahmsweise einige Minuten zu spät. Es war drei Minuten nach sieben Uhr früh, und seine Mitarbeiter saßen vollzählig um den großen Besprechungstisch oder auf den kleinen Sofas, die an den Wänden des schlichten großen Raumes aufgestellt waren. Neben der Tür stand ein Kaffeeautomat, ein kleines Dankeschön Bekkers an seine Mitarbeiter. Einige hatten Tassen mit frischem Kaffee vor sich stehen. Bis vor ein paar Wochen stand auf seinem Platz immer eine fertig zubereitete Tasse Milchkaffee mit viel Zucker. Zur Zeit plagte ihn jedoch eine hartnäckige Gastritis, weshalb er den Kaffeekonsum vollkommen eingestellt hatte. Bekker blickte in die Runde.

„Na, wo ist der Held von Bahnsteig zwölf?“ fragte er aufgekratzt und sah dabei seinen türkischen Oberarzt Ahmet Ünal an. In seinem Blick war jedoch kein Spott. Natürlich kannten alle die Geschichte längst, wenn auch nicht im Detail, und Ünal war es offenbar peinlich, wegen einer Sache, die er selbst für eine Lappalie hielt, so herausgestellt zu werden. Jedenfalls wurde er rot, wodurch sich sein ohnehin tiefbrauner Teint weiter verdunkelte.

„Das war nun wirklich nichts Besonderes, Chef. Ich habe lediglich erste Hilfe geleistet, weil gerade kein anderer da war.“ Er schwieg und wollte es offensichtlich damit bewenden lassen, aber die Mitarbeiter drängten ihn zu erzählen, was genau passiert war. Ünal druckste herum, schließlich tat er ihnen den Gefallen.

„Na ja, wie gesagt, für einen Anästhesisten war das alles nichts Dramatisches. Wie ich gestern Nachmittag vom Anästhesie-Kongress aus Nürnberg zurückkomme und gerade das Abteil verlasse ist da ein Menschenauflauf. Ich konnte erkennen, dass sie alle um jemanden herumstanden, der am Boden lag. Alle schienen zu gaffen aber keine Hilfe zu leisten. Hab’ mich dann durch die Leute durch geschubst. Auf dem Boden lag diese Frau, hochschwanger, das sah ein Blinder mit Krückstock, und ich hab’ mich sofort zu ihr hingekniet. Sie lag in einer Wasserlache, und zuerst dachte ich, sie hätte, na ja, gepinkelt“, er wurde rot, weil ihm kein anderes Wort einfiel, „kommt ja vor in so einer Situation. Aber dann war klar, dass die Fruchtblase geplatzt war und sie heftige Wehen hatte. Sie war blass und schweißüberströmt, und es ging ihr in diesem Moment wirklich nicht besonders gut. Allerdings war der Puls kräftig. Ich hab’ dann, so gut das ging bei dem Lärm, mit dem Ohr auf ihrem Bauch nach kindlichen Herztönen gesucht und da war auch etwas, nur so schnell und gar nicht synchronisiert, deshalb dachte ich, das könnten Zwillinge sein. Die Wehen hatten zu dem Zeitpunkt etwas nachgelassen, aber sie hat aus der Scheide geblutet. Ich hab’ gebetet, dass sie ihre Kinder nicht hier auf dem Bahnsteig bekommt, und habe vor allem versucht, sie zu beruhigen.“ Gemurmel.

„Ist ja ganz neu, dass Du junge Frauen beruhigst. Ich dachte, Du bist mehr für die Aufregung zuständig“, kam eine spöttische Stimme aus dem Hintergrund. Sabine Maurer, Ärztin im Praktikum und seit mehr als einem Jahr in der Abteilung, feixte zu ihm herüber. Ünal war zwar mit einer deutschen Architektin solide verheiratet, aber den schönen Dingen des Lebens gegenüber keineswegs abgeneigt, und die durften durchaus langbeinig, jung und blond sein. Man dichtete ihm daher des Öfteren diese oder jene junge Dame als Affäre an – ob’s stimmte, wusste allerdings keiner. Seine Frau hätte ihn dafür ohne Frage standrechtlich erschossen.

Ünal war Türke, lebte seit über fünfundzwanzig Jahren in Deutschland und war an der Anästhesie-Abteilung des städtischen Klinikums bereits Oberarzt gewesen, als Bekker Chefarzt wurde. Ünal war ihm vom ersten Tag an mit größter Hilfsbereitschaft und Loyalität entgegengekommen, ohne je unterwürfig zu sein, und das hatte Bekker ihm niemals vergessen. Alle liebten Ünal. Er hatte eine Herzlichkeit und eine Wärme, wie sie das deutsche Naturell in dieser Offenheit selten hervorbringt. Dennoch wusste er genau, was er wollte, und ließ sich von niemandem die Butter vom Brot nehmen. Er organisierte den gesamten operativen Betrieb in enger Zusammenarbeit mit der leitenden OP-Schwester und war im Klinikum eine unantastbare Institution geworden, wozu auch Bekker maßgeblich beigetragen hatte.

„Musst Du ja wissen“, wandte er sich kurz an die junge Frau und grinste verschmitzt, „okay, in diesem Fall ist es mir also tatsächlich gelungen, die Frau zu beruhigen. Die Wehen kamen auch nur noch spärlich und nicht mehr so heftig. Als der Notarztwagen eintraf, war alles stabil. Ich habe lediglich die Blutung komprimiert. Den Rest kennt ihr ja alle. Sie ist ja dann hier gleich notfallmäßig sektioniert worden. Da weiß die Regina besser Bescheid.“ Er deutete auf Regina Seelmann, eine hübsche Frau, Anfang vierzig, mit dunklem Pagenkopf, zu dem zwei strahlend hellblaue Augen kontrastierten. Regina Seelmann war Oberärztin und, wie ihr Name schon sagte, tatsächlich die Seele der Abteilung. Sie hatte ein natürliches, fröhliches und freundliches Wesen, war aber gleichzeitig äußerst kompetent in ihrem Fachgebiet und von einer Durchsetzungsfähigkeit, wie dies nur Frauen gegeben ist.

„Wären alle Menschen wie sie, gäbe es keine Kriege“, sagte Bekker öfters und meinte damit keineswegs nur ihr freundliches Wesen, sondern vor allem, dass man bei ihr immer wusste, woran man war. Die Angesprochene räusperte sich. Sie hatte gerade an ihrem Kaffee genippt, um damit den Rest der Frühstückssemmel herunter zu spülen.

„Wir waren durch Euch bereits auf dem Laufenden“, Sie blickte zu Ünal, „Vom Kreislauf und der Atmung kam die ganz stabil hier an. Die Kinder, es waren also tatsächlich Zwillinge, Respekt Ahmet, hast Du messerscharf erkannt“, erneut anerkennendes Gemurmel, „waren auch stabil. Zwei Mädchen. Nur...tja...es muss halt auch Frauen geben.“ Sie blickte mit freundlichem Sarkasmus in die Runde.

„Die Babys hatten vernünftige Apgarwerte, acht und neun, und nach fünf Minuten schon zweimal zehn. Es hat allerdings, nachdem die Kinder draußen waren, ziemlich geblutet. Der Uterus hat sich trotz Stimulierung nicht sofort kontrahiert, und Kotschinsky war einige Minuten ganz schön am Rudern. Ist aber alles gutgegangen.“ Gemurmel. Alle nickten.

Bei einem Kaiserschnitt wurden der Bauch und dann sofort der Uterus aufgeschnitten. Das ganze musste schnell gehen, wenige Minuten in der Regel, damit die Kinder nicht zu viel Narkose abbekamen und nicht in einen Sauerstoffmangel gerieten. Deshalb fand die Blutstillung erst nach der Abnabelung statt. War die Nabelschnur abgeklemmt, verabreichte man eine Substanz, die dafür sorgte, dass der Uterus sich zusammenzog, womit die Blutung automatisch still stand. In seltenen Fällen reagierte der Uterus nicht oder verzögert. Dann konnte es zu dramatischen, manchmal sogar tödlichen Blutungen kommen. Von den Anwesenden hatten die wenigsten so etwas selbst erlebt.

„Wie viel hat sie denn verloren?“, fragte Bekker, mehr rhetorisch, „und, ach ja, bevor ich’s vergesse, die Frau heißt doch Liebchen, oder? Manuela Liebchen! Das müsste die Frau von dem Krankenhausdezernenten Dr. Liebchen sein. Na prima.“ Die letzte Bemerkung war eher ein Stoßseufzer. Bekker hatte sogenannte VIPs nicht so gern als Patienten, und Kommunalpolitiker oder deren Angehörige schon gar nicht. Je mehr sie in ihren Sonntagsreden das klassenlose Krankenhaus beschworen und das Unwesen mit den Privatpatienten geißelten, desto größer waren die Extrawürste, die sie als Patienten beanspruchten.

„Etwa zweieinhalb Liter reiner Blutverlust, schätze ich“, antwortete Frau Seelmann, „wir hatten leider keine Autotransfusionsmaschine im Kreißsaal, aber sie ist auch so bisher ohne Fremdblut ausgekommen.“

„Gut“, sagte Bekker, „dann werden wir ja wohl ausnahmsweise mal wieder gelobt. Gebe Gott, dass keine Nachblutung auftritt. Sie wissen ja, der Teufel ist ein Eichhörnchen. Zum Tagesgeschäft. Wir haben drei freie Intensivbetten. Wie sieht’s mit den Begehrlichkeiten aus?“ Sein Blick ging in die Runde. Alle Patienten des Operationsprogramms waren am Vortag gesehen und untersucht worden. Dabei wurde festgelegt, wer nach Beendigung des Eingriffs nicht auf eine Normalstation gelegt werden konnte, sondern die erste Nacht oder auch mehrere Tage auf der operativen Intensivstation überwacht und behandelt werden musste. Bekker stand auf, um in sein Büro zu gehen. In der Tür des Besprechungszimmers blieb er kurz stehen.

„Herr Ünal, sind Sie so gut und sagen mir Bescheid, wenn mein Patient da ist, ich komme dann sofort hoch. Bis gleich.“ Ünal nickte und die Mannschaft schwärmte aus Richtung Zentral-OP, um mit der täglichen Arbeit zu beginnen, damit die Patienten pünktlich zum geplanten OP-Beginn vorbereitet waren und in Narkose lagen.

Wenige Minuten später betrat Bekker den OP eins der allgemeinchirurgischen Klinik. Der Patient war soeben eingeschleust, auf dem OP-Tisch gelagert und in den Saal gefahren worden.

„Guten Morgen, Herr Kreß“, sagte Bekker freundlich. Er hatte die grüne Gesichtsmaske noch nicht vor das Gesicht geknüpft, um dem Patienten das Gefühl der Anonymität und des Ausgeliefertseins zu nehmen.

„Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen und das Frühstück hat geschmeckt.“ Das letzte war als Scherz gemeint und kam auch fast immer so an. Nur einige wenige Patienten reagierten verstört. Andere wiederum antworteten, „Ja, mit Spiegeleiern und Schinken“.

Auch das war eines von mehreren kleinen Ablenkungsmanövern, um den Patienten die Angst zu nehmen, was auch meistens gelang. Bekker registrierte wohlwollend, dass die Studentin, die seine Frühvisite auf der Intensivstation mitgemacht hatte, tatsächlich im OP erschienen war. Er wandte sich ihr kurz zu.

„Sehen sie sich alles genau an. Was Sie in der Anästhesie lernen, können Sie immer gebrauchen, ganz gleich, in welcher Spezialdisziplin Sie einmal landen.“ Irgendwie klang das ein wenig abschätzig, obwohl Bekker keine besondere Fachrichtung erwähnt hatte.

„Also ganz von vorne. Als erstes wird immer ein großlumiger venöser Zugang gelegt, das, was der Laie ehrfurchtsvoll ‚Tropf‘ nennt. Großlumig, damit etwas durchgeht, wenn’s nötig sein sollte. Außerdem ein Katheter in die Arterie am Handgelenk zur Druckmessung. Dann der rückenmarksnahe Schmerzkatheter. Das ist eine essentielle Maßnahme, mit der wir die Phase nach der Operation für den Patienten erheblich erleichtern und damit letztendlich den Krankheitsverlauf verbessern und verkürzen.“ Die Studentin nickte. Sie hielt ehrfurchtsvollen Abstand zum Geschehen. Bekker winkte sie heran.

„Ein bisschen helfen müssen sie uns aber schon. Hier wird jeder beschäftigt.“ Wieder zum Patienten:

„Wir haben ja gestern alles soweit besprochen. Ich sage Ihnen jetzt Schritt für Schritt, was wir machen. Es gibt keine Überfälle, versprochen.“

„Ich weiß Bescheid“, sagte der Patient, „Sie müssen an meinen Rücken.“ Er wollte sich aufzusetzen.

„Moment!“ Bekker hielt ihn an der Schulter fest. Der Patient hatte auf seine Anordnung hin vor etwa dreißig Minuten eine Beruhigungstablette eingenommen. Davon schlief man zwar nicht ein, aber das Reaktionsvermögen war deutlich eingeschränkt. Seitdem in Bekkers Gegenwart einmal eine vierzigjährige Frau bei dem gleichen Manöver aus sitzender Position mit einem Kreislaufkollaps vom Operationstisch gefallen war, hatte er einen tiefsitzenden Respekt vor ähnlichen Vorfällen.

Der Patientin war damals wie durch ein Wunder nichts passiert. Eine Platzwunde an der Stirn, sonst nichts. Geklagt hatte sie trotzdem und Schmerzensgeld erhalten, was Bekker als recht und billig empfand. Seitdem gab es eine Anweisung, dass für die Anlage eines Peridural-Katheters immer ein dritter Helfer anwesend sein musste, der keine andere Aufgabe hatte, als den Patienten festzuhalten. Das Auftauchen der Studentin passte. Sie würde heute der dritte Mann sein. Der Patient wurde nun mit vereinten Kräften hingesetzt, so dass er in der Lage war, seine Wirbelsäule maximal zu beugen. Stefanie Kahle hielt ihn fest, konnte aber seitlich über seine Schulter sehen, sodass ihr nichts entging.

„Das ist ein Service, Herr Kreß“, Bekker behielt den leichten Plauderton bei, denn das Hantieren und Pieksen an der Wirbelsäule machte gelegentlich auch starke Männer schwach, „bereits morgens in den Armen schöner junger Frauen liegen, so gut hätte ich’s auch gerne.“ Stefanie Kahle spürte, wie sie unter der Gesichtsmaske errötete. Sie hatte den Unterton in Bekkers Stimme deutlich wahrgenommen.

„So, dann wollen wir mal.“ Bekker begann mit der üblichen Prozedur. Dabei erklärte er Schritt für Schritt jeden Handgriff, bis der Katheter lag, festgenäht und verbunden worden war.

„Sehen sie Herr Kreß, das war doch keine Hexerei und damit haben sie das Schlimmste eigentlich schon hinter sich.“ Immer noch nutzte Bekker jede Möglichkeit, von der bevorstehenden Operation abzulenken, denn die war wahrhaftig keine Kleinigkeit.

Erstaunlicherweise fürchteten die meisten Patienten vor allem die Narkose, weniger den operativen Eingriff. Narkosen hatten für den Laien etwas Mystisches. Es war sicherlich das unterschwellige Unbehagen vor dem absoluten Kontrollverlust und die damit verbundene Sorge, nicht mehr aufzuwachen. Jeder hatte schon einmal irgendeine Gruselgeschichte über eine zu ‘schwere‘ oder ‘falsche‘ Narkose gehört oder gelesen. Die Medien nutzten die Angst der potentiellen Patienten, und das war genau genommen Jeder, um angebliche oder tatsächliche Fehler von Narkoseärzten auflagesteigernd auszuschlachten.

Bekker war stets aufs Neue erstaunt aber auch frustriert, wenn er mit derartigen Ängsten konfrontiert wurde, unabhängig davon, dass er die individuelle Situation verstand und ernst nahm. Alle sprachen vom mündigen Bürger, vom aufgeklärten Patienten. Das Internet war voll mit einer Fülle medizinischer Informationen für jede Gelegenheit.

Es gab Patientenschutzbünde und Medienkampagnen; dazu Fernsehsendungen noch und nöcher. Alles wurde breit getreten. Kurioserweise aber herrschten über moderne Narkoseverfahren, selbst bei differenzierten Patienten Vorstellungen wie in der Steinzeit. Tatsache war, dass der Patient, wenn, in der Regel an den Folgen des operativen Eingriffs starb und nicht durch die Narkose. Das wiederum hatte in den meisten Fällen mit dem Gesamtzustand des Patienten oder der Grundkrankheit zu tun, die letztendlich limitierend waren, ob ein operativer Eingriff verkraftet wurde. So sah Bekker es als seine Aufgabe an, die Patienten stets aufs Neue darüber aufzuklären, wie schonend und sicher die heutigen Narkoseverfahren waren, und dass gerade die Narkose und das damit verbundene Monitoring sie vor vermeidbaren Komplikationen schützte.

Der Patient schlief. Alle Katheter und Sonden waren gelegt, das umfangreiche Monitoring angeschlossen. Wie auf ein Stichwort betrat wenige Augenblicke später Dr. Herbert Bach, leitender Oberarzt der allgemeinchirurgischen Klinik, den Operationssaal. Er sagte freundlich guten Morgen in die Runde und begrüßte Bekker mit Handschlag, „Können wir?“

Bekker nickte, ebenso die instrumentierende OP-Schwester, die auf speziellen Tischen die sterilen Instrumente fein säuberlich aufgebaut und sortiert hatte. Bach würde mit der Operation beginnen und, wenn alles sauber präpariert und vorbereitet war, seinen Chef, Professor Kunze, hinzu rufen. Er ging in den Waschraum, um mit dem Ritual der Händedesinfektion zu beginnen. Bach war ein hochaufgeschossener, etwas fülliger Mann in den späten Vierzigern, der stets ein wenig nach vorn gebeugt war, weshalb er, um nicht zu kippen, das Gewicht auf die Fersen verlagerte, was ihm einen schwankenden Gang gab. Er war ein freundlicher, stets verbindlicher Mensch, der sich bemühte, die wenig angenehme Atmosphäre, die zwischen Anästhesie und Allgemeinchirurgie herrschte, zu entkrampfen. Bekker und sein Chef verstanden sich nicht besonders gut, was sich auf das interdisziplinäre Klima auswirkte.

*

Als Bekker seinerzeit die Chefarztposition am städtischen Klinikum antrat, war Kunze bereits seit mehr als vier Jahren in Amt und Würden. Er war ein Chirurg vom alten Schlage, der erwartete, dass der Anästhesist Männchen machte und parierte. Von der Universitätsklinik, an der er sich habilitiert hatte, war er es so gewohnt.

Bekker hatte Erfahrung mit diesen Typen. Kunze war ein Choleriker, aber er konnte operieren, und das zählte mehr als Punkte auf der Charmetabelle. Es lag an Bekker die Grenzen abzustecken; das tat er ohne Theater und die an deutschen Krankenhäusern üblichen Muskelspiele. Konflikte löste man nicht im Dauerclinch mit albernem Rumgebrülle und beleidigenden Briefen, sondern mit Arbeiten auf höchstem Niveau, permanenter Kooperationsbereitschaft und einer klaren fachlichen Strategie. Erst wenn sein Fachgebiet seine Unverzichtbarkeit in der täglichen Arbeit unter Beweis stellte, konnte es Respekt von anderen erwarten.

Den Mitarbeitern schärfte er ein, „Es geht um Patienten und nicht um unsere Befindlichkeit. Natürlich ist man irgendwann zermürbt von der mangelnden Wertschätzung und den Sticheleien, aber vor dem Jammern kommt die Leistung. Wenn Sie Leistung bringen, dann können Sie sich beschweren“.

Dennoch verging im ersten Jahr kaum eine Woche ohne Eklat. Kunze versuchte Bekker zu traktieren und zu schikanieren, wo immer sich eine Gelegenheit bot. Der direkten Konfrontation wich er aus. Seine Visiten auf der operativen Intensivstation waren berüchtigt, denn er brüllte ohne Ansatz und ohne wirklichen Grund. Es genügten ein fehlender Laborwert, eine zu volle Drainage oder auch eine fachliche Frage, die ihm nicht passte oder die er nicht beantworten konnte. Die von Bekker für die Intensivstation eingesetzten Ärzte, ein Oberarzt und ein Assistent, bereiteten die chirurgischen Visiten stets mit besonderer Akribie vor. Auch blieben Sie sachlich und höflich, wie eisig die Atmosphäre auch sein mochte. Einschüchtern allerdings und beschimpfen, wie vor Bekkers Zeit, ließen sie sich nicht. Sie wussten, dass Bekker sie deckte, solange sie sich korrekt verhielten und kompetent arbeiteten.

Es war typisch für Kunze, den die Visite moderierenden Anästhesisten von einem Moment zum anderen zu ignorieren als wäre er Luft, wenn ihm etwas nicht passte. Obwohl seine Mitarbeiter nicht über alles informiert sein konnten, sprach er nur noch mit ihnen. Dabei äußerte er sich, meist in abfälliger Form, auch über den anästhesiologischen Kollegen, während dieser daneben stand, achtete jedoch darauf, dass Bekker außer Reichweite war. Stellte dieser ihn zur Rede, schickte Kunze mit Vorliebe andere vor.

„Aber Herr Bekker“, hieß es dann verschwörerisch, und es hätte nur noch gefehlt, dass er Bekker den Arm um die Schulter legte, „Sie müssen nicht alles glauben. Sie wissen doch, wie die Mitarbeiter sind. Denen können Sie nicht trauen. Die wollen uns doch nur gegeneinander ausspielen. Aber ich werd’ mir den“, er nannte den Namen einer seiner Mitarbeiter, „mal richtig vorknöpfen.“ In so einem Moment verfluchte sich Bekker für seine Vorwürfe, denn nun würde es ein vollkommen Unbeteiligter ausbaden. Nach einem Jahr gab Kunze auf. Die Zusammenarbeit war zwar weiterhin von vielen Nickelichkeiten geprägt, aber die gezielten Manöver gegen die anästhesiologische Klinik unterblieben.

*

Bekker hatte begonnen, das Anästhesie-Protokoll vorzubereiten. Jegliche Veränderung der relevanten Parameter, Blutdruck, Herzfrequenz, Beschaffenheit des EKGs, EEG, Drucke des sogenannten kleinen Kreislaufs, Urinproduktion und etliches mehr wurde im Fünf-Minuten-Takt registriert und dokumentiert. Ein sauber und nachvollziehbar angefertigtes Protokoll konnte, wenn’s zum Schwur kam, die Karriere retten. Gutachter hatten meistens nicht mehr zur Hand, als die Dokumentation. Bekker versuchte das seinen Mitarbeitern immer wieder einzubleuen, vor allem denen mit „Sauklaue“, deren Protokolle zwar vollkommen korrekt angelegt, jedoch für einen Dritten nicht lesbar waren.

„Das kann Sie Kopf und Kragen kosten“, sagte Bekker in der Frühbesprechung immer wieder. Meist wedelte er dann mit einem Musterbeispiel an schlampiger Protokollführung.

„Sie können alles richtig, ja perfekt gemacht haben – fehlerlos sozusagen. Wenn der Gutachter ihre Schrift nicht lesen kann und aus Ihren Hieroglyphen nicht schlau wird, dann verwendet er das gegen Sie. Was das bedeutet, wissen Sie hoffentlich. Dann kommt es zu dem, was die Juristen Beweislastumkehr nennen. Nicht der Patient hat zu beweisen, dass er durch Ihre Schuld zu Schaden gekommen ist, sondern Sie müssen beweisen, dass es nicht so ist. Und das nur, weil Sie ein bisschen Mühe gescheut haben. Also bitte, dokumentieren Sie sauber und leserlich. Protokolle sind Dokumente.“

Die Operation hatte begonnen. Es würde ein langer Vormittag werden. Der Patient war bereits etliche Male voroperiert, und es konnte eine Weile dauern, bis Bach und die beiden Assistenten, die inzwischen hinzugekommen waren, soweit waren. Bekker war es recht. Er hatte sich mit Kunze so gut es eben ging arrangiert, konnte aber auf ihn verzichten.


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