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2. Kapitel Städtisches Klinikum
Оглавление„Rein musser – zweiter Versuch!“ Frey grinste anzüglich unter der grünen Gesichtsmaske. Die Studentin schwitzte und hebelte den Griff des beleuchteten Metallspatels im Mund des Patienten mit beiden Händen. Der Patient hustete. Die künstliche Erschlaffung, herbeigeführt durch die intravenöse Gabe eines Relaxans, begann nachzulassen. Die Zunge quoll hervor und versperrte zusätzlich die Sicht in die Mundhöhle.
Es war ihre dritte Intubation überhaupt, und die beiden ersten waren völlig problemlos verlaufen. Allerdings waren das stets ältere Patienten ohne Zähne gewesen. Da ließ sich der Kehlkopfeingang immer gut einstellen. Jetzt war die Situation anders. Der Patient, ein muskulöser junger Mann, vorgesehen für einen Eingriff wegen eines Hodentumors, verfügte über ein makelloses Gebiss. Das Laryngoskop musste gegen die oberen Schneidezähne gestützt werden, um die Zunge herunterzudrücken und die Sicht auf die Stimmritze mit den beiden Stimmbändern freizugeben.
„Durch diese hohle Gasse muss er kommen“, war eine stereotype Floskel des anästhesiologischen Personals. Professor Peter Bekker, Chefarzt der anästhesiologischen Klinik, liebte literarische Zitate. Tatsächlich musste man in eine hohle Gasse: War die Zunge mittels Intubationsspatel aufgeladen, konnte man in der Regel ohne Zusatzmanöver die Stimmbänder sehen, zwischen denen der Beatmungstubus in die Luftröhre vorzuschieben war. Bei ausreichender medikamentöser Lähmung des Patienten, standen die Stimmbänder offen und das Einlegen des Tubus gestaltete sich problemlos. Wenn nicht, lagen sie dicht aneinander und der Tubus ließ sich nur unter Druck vorschieben. Nicht selten kam es bei solch einem rabiaten Vorgehen zu Verletzungen der Stimmbänder mit bleibenden Folgeschäden, von denen eine chronische Heiserkeit noch das Harmloseste war.
Der Patient presste und bewegte die Schultern. Die Studentin stocherte hilflos in seinem Mund herum und blasiger Speichel, vermischt mit Blut, füllte inzwischen die gesamte Mundhöhle aus und rann aus einem Mundwinkel über sein Ohr.
„Die Sauerstoffsättigung fällt ab“, sagte die Schwester gleichmütig, „dreiundneunzig Prozent.“ Sie war derartige Szenarien gewohnt.
„Jetzt hör mal auf herumzufuhrwerken, Häschen!“ Frey war nun nicht mehr witzig. „Absaugen, Maske, Sauerstoff – subito!“ Alle waren auf einmal hellwach. Frey nahm der Studentin den Spatel aus der Hand und saugte zähen, blutigen Schleim aus dem Rachen des Patienten. Die Sättigung fiel während dieses Manövers weiter ab.
„Fünfundsiebzig Prozent“, sagte die Schwester. Da war erstmals ein warnender Unterton. Frey blieb vollkommen ruhig. Alles schien Routine.
„Maske!“ Der Brustkorb des Patienten hob und senkte sich unter der assistierten Beatmung mit reinem Sauerstoff; gleich darauf hustete und presste er und versuchte mit den Armen zu rudern. Die Halsvenen traten dick hervor, und die Haut verfärbte sich violett.
„Der steht gleich auf und geht heim“, sagte Frey lakonisch. „Relaxieren, vierzig Esmeron, Trapanal zweihundertfünfzig. Gib Gas, wir haben alle Weihnachten noch was vor!“ Das Pressen ließ nach, der Patient erschlaffte zusehends. Die Sättigung war einhundert Prozent, die Gesichtshaut rosig. Frey drückte der Studentin die Beatmungsmaske in die Hand.
„Next try, Madam, ich kann’s nämlich schon. Ganz ruhig, mit Gefühl.“ Die Studentin umklammerte die Maske mit beiden Händen, während Frey den Beatmungsbeutel drückte. Ihre Hände zitterten und die Knöchel traten weiß hervor. Da musste sie durch. Frey hielt nichts davon, mitten im Galopp die Pferde zu wechseln. Der Patient war zu keinem Zeitpunkt einem tatsächlichen Risiko ausgesetzt. Erfahrung konnte man nur vor Ort gewinnen – das war durch keine Art der Simulation zu ersetzen. Anästhesie war eine Mischung aus Langeweile und Stress, und den musste man trainieren.
„Irgendwann stehst Du alleine da", dachte er, „sei froh für jede kritische Situation, in der noch einer hinter Dir steht. Auch wenn’s nicht der Herrgott ist."
Jetzt stand er hinter ihr, registrierte das gleichmäßige Piepen des Monitors, beobachtete den Patienten und beobachtete sie. Er roch ihren Schweiß, ihr Parfüm. Das grüne OP-Hemd war am Rücken und unter den Achseln nass und klebte am Körper. Der Verschluss ihres BHs zeichnete sich deutlich ab. Frey hätte gerne die Hände auf ihre Hüften gelegt.
Frey war altgedienter Oberarzt der anästhesiologischen Klinik, neunundfünfzig Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder. Er hatte im vergangenen Jahr sein dreißigjähriges Dienstjubiläum gefeiert. „Hat natürlich kein Schwein bemerkt“, moserte er abends in der Oberarztbesprechung, war aber tatsächlich etwas geknickt.
„Ooch, armes Häschen“, Bekker war blitzartig aufgesprungen, um den Tisch herum gelaufen und hatte dem Überraschten einen Kuss auf die Halbglatze gedrückt. Anschließend übergab er ihm mit einer kleinen Rede eine Flasche Champagner mit Schleife.
„No sex, we are British“, sagte Frey verlegen, aber trotzdem freute er sich, denn er spürte, wie’s gemeint war. So war er, der Chef.
*
Als Frey damals am städtischen Klinikum, ein Neubau mit immerhin 1000 Betten angefangen hatte, bestand die gesamte Anästhesieabteilung aus Chef, Oberarzt, zwei Assistentinnen auf Halbtagsstellen und siebzehn Anästhesieschwestern.
„Da hat der Bekker noch in die Windeln geschissen“, sagte er manchmal scherzhaft zu den jüngeren Schwestern. Mit dieser Mannschaft wurden immerhin mehrere tausend Operationen jährlich abgewickelt, allerdings nicht die chirurgischen Exzesse von heute. Er kam mit nagelneuem Staatsexamen dazu, tatsächlich aber als ahnungsloser Neuer, der am Anfang immer nur im Weg stand und lästig war. Anästhesisten machten Narkosen, nichts sonst. Die Patienten sahen sie nur vor und nie nach der Operation. Die Intensivmedizin entwickelte sich gerade erst und war den großen Zentren vorbehalten.
Seit damals hatte die Chirurgie eine rasante Entwicklung genommen und sich in viele spezialisierte Fachgebiete aufgeteilt. Was vor nicht so langer Zeit noch als riskantes Husarenstück galt, wie die Operation am offenen Herzen oder am Gehirn, war inzwischen Routine mit kalkulierbarem Risiko. Die Anästhesie hatte sich mitentwickelt und verfügte über ein breites klinisches Repertoire, um die operierten Patienten sicher durch den Eingriff und die unmittelbar postoperative Phase zu führen. Gestern noch geduldeter Helfer des Operateurs, wurde der Anästhesist zum gleichberechtigten Partner, was vielen Chirurgen bis heute nicht passte. Sie sehnten die alten Zustände herbei, als der ‚Gasmann‘ morgens zum Befehlsempfang antrat und sich abmeldete bevor er nach Hause ging.
„Hier hätten es auch heute noch einige gerne so, es hat sich gar nicht so viel geändert", dachte Frey gelegentlich frustriert, "wenn Bekker nicht wäre, würden wir alle morgens ganz schön stramm stehen vor den Messerschwingern." Die alten Zeiten hatten allerdings auch ihre guten Seiten – die Bezahlung war überdurchschnittlich und die Arbeit hielt sich in Grenzen, denn mit Ende des operativen Programms war der Job getan. Ein paar Patientenbesuche, meist nur als Einsammeln von Einverständniserklärungen, in Vorbereitung auf das Operationsprogramm des nächsten Tages. Das war’s. Selten, dass er nach drei Uhr nachmittags nach Hause gekommen wäre.
Heute war alles anders. Die Republik war flächendeckend mit Intensivstationen überzogen. Das Pendel schlug zurück. Was irgend ging, wurde gemacht.
Wie in den meisten Kliniken wurde die Intensivstation des Städtischen Klinikums durch Anästhesisten betreut. Damit war Bekker der Leiter der Einrichtung. Als Perfektionist und exzellenter Fachmann hatte er die Station im Lauf der Jahre maximal hochgerüstet. Keine der vielfältigen Möglichkeiten einer modernen Intensivmedizin fehlte. Die Chirurgen behandelten das Grundleiden, wie es in den Verträgen festgelegt war. Alles andere machte Bekker mit seinen Leuten. Sie legten die Beatmung fest, machten Luftröhrenschnitte zur Anlage eines Tracheostomas, filtrierten oder dialysierten, legten Drainagen in den Brustkorb, um die Lungen zu entlasten. Sie konzipierten Ernährungsregime und taten alles, um die vitalen, lebensnotwendigen Funktionen der Patienten zu erhalten oder zu verbessern. Schließlich waren alle Organe irgendwie zu ersetzen, zumindest vorübergehend, bis die Restitution begann und man sich mit den unterstützenden Maßnahmen ausschleichen konnte.
Bekker, eigentlich ein Protagonist der modernen Entwicklung in der Medizin, war mit der Zeit immer kritischer geworden. „Das Alter“, lachte er dann, aber das war Koketterie. Deutlich wurde er vor allem im Kreise seiner Studenten.
Seitdem Bekker die Universitätsklinik verlassen und die Leitung der anästhesiologischen Abteilung am Städtischen Klinikum übernommen hatte, kam er seinen Verpflichtungen als Hochschullehrer in der nahe gelegenen Universität nach, für die das Klinikum als akademisches Lehrkrankenhaus fungierte. Er hielt dort die Vorlesung ‚Medizinische und ethische Aspekte der Intensivmedizin‘. Die Veranstaltung, obwohl freiwillig und ohne Schein-Pflicht, war ein Renner und der Hörsaal stets bis auf den letzten Platz besetzt.
Bekker liebte diesen gelegentlichen Ausflug ins Akademische, zumal er davon überzeugt war, dass nur bei den angehenden Ärzten, den Intensivmedizinern von morgen, noch etwas zu bewegen war. Ansonsten hielt er den ganzen Medizinapparat für hoffnungslos verkrustet, reaktionär und definitiv irreparabel.
„Hilft nur ’ne Bombe“, sagte er gelegentlich im kleinen Kreis. Wegen seiner Brillanz und seines gelegentlichen Zynismus waren seine Auftritte eine gute Show mit hohem Informations- und Unterhaltungswert. Bekker war’s egal; stets kam er ohne weitschweifige Floskeln zur Sache.
„Ethik sollte in der Intensivmedizin einen überragenden Stellenwert haben, denn Ethik hat sehr viel mit Menschenwürde, Selbstbestimmung und Barmherzigkeit zu tun. Wohlfeile Begriffe, deren Umsetzung Sie überall suchen sollten, nur nicht auf einer Intensivstation.“
Das war seine stereotype Eröffnung des Themas.
„Sie werden fragen, ‘wie kommt der Kerl dazu, so etwas zu behaupten?' Ich will’s Ihnen erklären, subjektiv, versteht sich. Das Wichtigste vorab: Von der Intensivmedizin profitieren fast ausschließlich junge Patienten. Es gibt eine aktuelle Studie an Patienten, älter als 65 Jahre“, er nannte die Quelle, „die wegen einer lebensbedrohlichen Erkrankung intensivmedizinisch behandelt wurden. Nur ein Prozent gab an, anschließend wieder ein lebenswertes Leben geführt zu haben.“ Getuschel im Auditorium.
„Lassen Sie uns mit der Präzisierung von Begriffen beginnen; da besteht in unserem Fach Nachholbedarf. Der Arzt heilt Dieses und Jenes, heißt es. Das ist ein Märchen. Heilung kommt immer nur vom Körper selbst, und in diesen physiologischen Prozess können wir mit unseren bescheidenen Mitteln lediglich unterstützend eingreifen. Wir können Krankheiten aufhalten, etwa Infektionen durch die Gabe von Antibiotika, und so verhindern, dass aus der Erkrankung eines Organs eine Krankheit des gesamten Organismus wird. Wir können schief stehende Knochen reparieren und arthrotische Gelenke ersetzen. Wir transplantieren Herzen, Lebern, Lungen und was nicht alles, aber wir heilen nicht. Haben sie diesen Tatbestand im Hinterkopf, wann immer sie einem Patienten gegenübertreten.“ Er räusperte sich.
„Die Intensivmedizin vermag vieles, was nach außen sensationell anmutet. Beispiel Nierenversagen nach Unfall oder Verbrennung – kein Problem! Wir dialysieren oder hämofiltrieren das Blut, bis die Niere wieder anspringt, und das tut sie bei akuten Störungen in der Regel auch. Das akute Nierenversagen ist damit ein klassisches Beispiel für das, was ich Ihnen sagen will. Ein Organ wird in seinen Funktionen so lange ersetzt, bis es wieder funktioniert“.
„Herz und Lunge kann man stützen, medikamentös oder durch differenzierte Beatmung, was auch immer, aber heilen? Nein! Bei Leberzirrhose können sie nur noch transplantieren, also ersetzen. Merken Sie sich als ganz wesentlich, zur Heilung bedarf es eines Restpotentials der betroffenen Organsysteme. Verstehen Sie? Wir geben dem Körper im besten Fall eine begrenzte Zeit, seine Probleme selbst zu lösen, also zu heilen, indem wir bestimmte Aufgaben erkrankter oder gänzlich ausgefallener Organe ersetzen. Für die Intensivmedizin, die es ja überwiegend mit schweren, lebensbedrohlichen Funktionsstörungen zu tun hat, ist dies der wichtigste Aspekt überhaupt.“
Die Zuhörer, die ihn zum ersten Mal erlebten, begannen zu verstehen, worauf er hinauswollte. Auch, dass er sich nicht vor unbequemen Wahrheiten drückte, womit er zweifellos den Sinn seiner eigenen Arbeit bewusst in Frage stellte.
„Deshalb ist die Intensivmedizin vorrangig für junge Patienten da, nicht weil wir etwa eine Selektion nach gesellschaftlicher Wertigkeit betreiben.“ Bekker beugte sich provozierend vor und fixierte ein paar Zuhörer in den mittleren Reihen.
„Hand aufs Herz, die Jungen wären die Alten doch lieber heute als morgen los.“ Er bemerkte die Irritation in einigen Gesichtern und lächelte freundlich. „Es sind nun einmal fast ausschließlich die Jungen, die solche organspezifischen Konditionen mitbringen, das ist Fakt. Ich mache das übrigens weniger an Lebensjahren fest, als vielmehr am vielzitierten biologischen Alter. Fragen Sie mich also bitte nicht nach dem Verfalldatum des Individuums. Der vierzigjährige Kettenraucher hat sicherlich schlechtere Karten als der vitale Sechzigjährige ohne alle Vorerkrankungen. Unsere ganze Mühe, aber auch die Torturen, die wir den Patienten gelegentlich zufügen, und genau das tun wir“, er sagte bewusst nicht ‚zufügen müssen‘, denn das war nicht seine Überzeugung, „hat nur dann einen Sinn, nur dann eine ethische Rechtfertigung, wenn eine realistische Chance besteht, dass die natürlichen Körperfunktionen irgendwann zurückkehren. Dies setzt - hier wiederhole ich mich, weil ich hoffe, dass Sie es sich merken - einigermaßen funktionierende“, er vermied den Begriff ‘gesund‘ – was war schon gesund? „Organe vor dem Eintritt der Erkrankung voraus. Was aber ist die Realität? Wir haben die Intensivstationen zu gemüllt mit Insassen von Altersheimen.“
Bekker war kein Vergleich zu drastisch; wenn es wehtat, um so besser.
„Hier liegen sie nun in sündteuren Hightech-Betten, verkabelt, tracheotomiert, beatmet und künstlich ernährt. Katheter und Sonden, wo immer sich eine Körperöffnung gefunden hat. Wir lagern sie auf speziellen Matten, drehen sie alle 6 Stunden, um aus der Lungenfunktion das letzte heraus zu kitzeln und Druckgeschwüre zu vermeiden. Mehrmals täglich halten wir zusammen mit den Kollegen der zuständigen Fachgebiete schlaue Visiten ab, stehen murmelnd am Patientenbett, vertiefen uns in Kurven, Röntgenbilder und Messwerte aus dem Labor, hören auf Lungen und drücken auf Bäuche, registrieren die Mengen von Urin und Stuhlgang. Kurzum, wir erwarten von diesen halben Leichen die Rückkehr zu einer körperlichen Fitness, die sie seit dreißig Jahren nicht mehr hatten. Glauben sie mir, das Tanzen von Medizinmännern um einen Totempfahl ist wirkungsvoller.“
Bekker redete sich warm, die Studenten hingen an seinen Lippen.
„Diese alten Patienten, liebe Kolleginnen und Kollegen und Intensivmediziner der Zukunft, bringen durch die Bank die geschilderten Voraussetzungen für eine sinnvolle Anwendung der modernen Intensivtherapie nicht mit. Ausdrücklich Nein! Ausnahmen bestätigen die Regel. Aber, Angebot schafft Nachfrage. Warum sollte das in der Medizin anders sein?“
Er nahm einen Schluck aus dem bereitgestellten Glas mit Mineralwasser. Es wurde Zeit für ein plakatives Beispiel. Bekker wollte, dass man ihn wirklich verstand. Er mochte ein Zyniker sein, aber er hatte eine klare Botschaft. Die war ihm bitter ernst.
„Früher hat man den Pfarrer geholt, wenn die Oma nach vielen Dämmerjahren in der Altenaufbewahrung, Pardon, im Seniorenheim, die letzte Reise antreten wollte und anfing, Blut zu spucken. Heute kommt der Notarzt, und der hat meistens keine Ahnung und will vor allem nichts falsch machen. Also wird das alte Gerippe in die Klinik gekarrt. Hier hat sie eine zweite Chance auf Gnade, nämlich dass sie auf einen vernünftigen Arzt...Sie verstehen...Arzt! trifft, der sie mit Morphium in ein schönes stilles Zimmer legt und die Familie herbei pfeift, damit sie wenigstens einmal noch etwas für die alte Frau tut und ihr beim Sterben hilft.“ Bekkers Blick ließ für einen Moment das Auditorium los.
„Sterbende unterscheiden nicht die Hand des Barmherzigen und die des Pharisäers“, fügte er leise hinzu, so dass man ihn in den obersten Reihen nicht verstand. Für einen Moment verlor der Vortrag an Fahrt. Gleich darauf aber war er wieder der Alte.
„Doch auch diese Chance vergeht in der Regel ungenutzt“, Bekker lächelte maliziös, „oder haben sie schon mal einen Kliniker in der Notaufnahme getroffen, der das Messer im Köcher, Tubus und Katheter im Schrank lässt? Wenn ja, bitte ich um die Adresse.“
Bekker war für die wenig schmeichelhafte Einschätzung der eigenen Zunft bekannt. Sie hatte ihm reichlich Ablehnung und Anfeindung und sogar eine offizielle Ermahnung der zuständigen Ärztekammer eingebracht. Das alles scherte ihn wenig Er hatte große Hochachtung vor der Mehrzahl seiner Kollegen, ganz gleich welcher Fachrichtung , und seine ätzende Kritik machte auch vor sich selbst nicht halt. Mit der Schelte durch Medizinfunktionäre lebte er gut. Er empfand sie als Kompliment. Kassenärztliche Vereinigungen, Ärztekammern, Berufsverbände und die vielen Gesellschaften für dies und das und jenes waren für ihn Auffangbecken des Mittelmaßes, Einrichtungen für Wichtigtuer und ‚ausgelernte Arbeitslose‘, wie er das nannte, und an Überflüssigkeit nicht zu überbieten.
„So nimmt das Drama seinen Lauf. Die alte Frau, die da verängstigt, frierend und halb nackt auf der Trage liegt, ist zwar durchaus bei Sinnen, versucht auch ein paar Mal sich zu äußern, wird aber nicht gefragt. Was sie möchte oder nicht, was sie empfindet, ja selbst wie’s ihr geht, subjektiv!, interessiert kein Schwein. Pardon! Eine bühnenreife Szene, wenn’s nicht so traurig wäre.
Es folgen der übliche Röntgenmarathon, und wenn die Patientin dann immer noch lebt, auch noch die Anfertigung von EKG, Herzecho und allerlei anderem Blödsinn. Parallel dazu werden aus dem bisschen Kreislauf, der ihr noch geblieben ist, Batterien von Blutröhrchen befüllt. Bis das Opfer bleich ist wie die Wand, um im Labor eine weitgehend irrelevante Analyseorgie abzuhalten. Versteht sich, dass von den zirka einhundert Parametern maximal zehn wichtig sind. Den Rest guckt sich eh niemand an. Schließlich geht’s mit Karacho in den OP.
Der Rest ist bekannt. Dank einer hochwertigen Anästhesie überlebt das arme entrechtete Wurm auch die exzessivste chirurgische Ausweidung und landet, versehen mit tausend Schläuchen und Kathetern, auf der Intensivstation, vor deren Pforten schon die tränenfeuchte Verwandtschaft lauert, die ihre alte Oma nur noch von Bildern kennt.“
Er holte Luft, um etwas Zeit zu schinden, denn dieses Thema ging ihm ehrlich nah.
„Ich bin da sicher nicht gerecht und nicht objektiv, zugegeben, und es sind nicht alle gleich, Gott sei Dank! Aber gerade solche, die sich jahrelang um einen alten Angehörigen nicht gekümmert haben, verlangen nun, ‚alles zu tun, was in ihrer Macht steht, Herr Doktor‘, und halten ihre nassen Taschentücher in der Hand.“ Bekker lächelte ins Publikum, und es war ein böses, freudloses Lächeln.
„Alles zu tun, was in unserer Macht steht, heißt für unsere Oma de facto, dass wir ungefragt nicht nur ihr Leben, sondern auch ihr Leiden verlängern, denn was ein Mensch wirklich erlebt, was er tatsächlich mitbekommt, sei er mit Schmerz- und Beruhigungsmitteln abgefüllt bis zur Halskrause, wissen wir nicht.“ Bekker schlug aufs Pult.
„Wir wissen es nicht und wir werden es nie wissen, denn das wäre göttlich, und nichts ist von Gott weiter entfernt als der Mensch. Sie erinnern sich, ‚Jedoch der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn.‘ Diese Zeile wird ihnen eines Tages nicht mehr aus dem Kopf gehen, sollten sie als Arzt einmal auf einer Intensivstation landen. Zurück zu unserem Fall. Diese fiktive, aber typische Patientin hatte von Anfang an keine Chance zu überleben, vom Erreichen einer adäquaten Lebensqualität will ich gar nicht reden, wobei wir eigentlich gerade darüber reden müssten. Ethik – Sie erinnern sich!“ Gemurmel im Auditorium.
„Nun gut, die Patientin. Mit unserer Hilfe wird sie noch viele Tage oder Wochen am Leben sein, ohne je das Bewusstsein zu erlangen, ohne je lächeln zu dürfen oder zu weinen, ohne uns je für das, was wir ihr antun, zur Rechenschaft ziehen zu können, ohne je fragen zu dürfen, ‚Was macht Ihr mit mir? Warum?‘ All das verwehren wir ihr, die wir so gern von Ethik sprechen.“
Bekker achtete darauf sich nicht fortreißen zu lassen. Er war nicht auf der Kanzel, und sein Auditorium glaubte nur, was beweisbar oder schlüssig war. Daher schaltete er um und kam zum Kern der Sache zurück.
„Tut mir leid, wenn ich den einen oder anderen von Ihnen desillusionieren sollte, aber ich kann das Lied vom unermüdlichen, barmherzigen Samariter nicht singen. Den aufopferungsvollen und engagierten Einsatz der Schwestern, Pfleger und Kollegen auf den Intensivstationen will ich in keinem Fall schmälern. Sie sind aller Ehren wert und werden dafür von Gesellschaft und Politik im Stich gelassen und bei Problemen, welcher Art auch immer, in den Regen gestellt. Das ist jedoch nicht mein Thema. Sie fragen, warum ich das alles mitmache, wenn ich die Dinge so kritisch sehe? Das ist eine gute, eine verdammt gute Frage, und ich kann sie weder Ihnen noch mir selbst beantworten. Ich bin der Knecht eines untauglichen Systems, aber ratlos wie wir alle. Mea culpa!“
Seine Zuhörer, unter denen sich nicht selten ein paar Krankenschwestern und approbierte Ärzte befanden, waren sichtlich beeindruckt. Hochschullehrer pflegten eigene Schwächen und Gefühle auszuklammern. Bekkers Offenheit war ungewöhnlich.
„Zur Ehrenrettung aller Beteiligten – es geht ja wirklich nicht nur um mich – sollten wir jedoch etwas Wesentliches nicht vergessen. Wir stehen, ebenso wie die chirurgischen Kollegen, letztlich am Ende der Kette. Die Vernunft, die Barmherzigkeit, die Ethik müssen früher einsetzen. Spätestens beim Hausarzt, aber der hat üblicherweise ...“ Bekker sprach nicht weiter, er hatte für heute genügend Fettnäpfe bestiegen.
„Wir versuchen in engem Gespräch mit den Angehörigen, und die meisten, da möchte ich nicht falsch verstanden werden, sind zugewendet, engagiert und eine große Hilfe, dafür zu sorgen, dass solch aussichtslose Patienten nicht unnötig leiden müssen, dass Platz ist für Maß und Vernunft.“ Fragende Blicke, das war vermintes Terrain. Bekker war unbeirrt.
„Ich spreche nicht von Sterbehilfe, weder aktiv noch passiv, denn das ist nicht mein Thema. Daran mögen sich Berufsverbände und Juristen abarbeiten. Erfolglos wie wir wissen. Was können wir tatsächlich tun? Was ist ethisch? Es sind einfache Dinge: eine gute Schmerztherapie, die sich nicht groß um Nebenwirkungen schert – Suchtpotential bei Opiaten, dass ich nicht lache!, Lagerungsmaßnahmen und eine gute Körperpflege.“
Unsichere Blicke. „Wir sprechen hier nicht von Lidschatten, aber können Sie mir garantieren, dass ein Sterbender es nicht mitbekommt, wenn er stundenlang in der Scheiße liegt oder stinkt wie die Pest?“ Ein paar Krankenschwestern in den oberen Reihen nickten.
„Aber mehr als alles andere brauchen diese Kranken, auch die komatösen und beatmeten, Kontakt mit Menschen. Menschen, die am Bett sitzen, freundlich und beruhigend sprechen und die Hand halten. Dies ist aus meiner Sicht von überragender Bedeutung und eine wesentliche Aufgabe für die Angehörigen eines Kranken. Auch wenn ich mich wiederhole, vergessen Sie bitte nicht, wir haben keine Ahnung, was tief sedierte oder sterbende Patienten tatsächlich mitkriegen und empfinden. Aber auch die Angehörigen selbst benötigen Zeit und Zuwendung. Sie werden das vielleicht erst dann ermessen können, wenn sie in einer vergleichbaren Situation sind, was ich Ihnen und mir nicht wünsche.“ Es war sehr still im Auditorium.
„Niemals sollte ein Mensch alleine sterben. Ist der Fall nach allen medizinischen Kriterien aussichtslos, verständigen wir uns mit allen Beteiligten und wenn möglich, frühzeitig auf eine Begrenzung der Therapie. Das heißt im Klartext bei Verschlechterung des Zustandes alle lebensverlängernden Maßnahmen zu unterlassen. Das ist, jetzt sag‘ ich’s doch, eine humane, passive Form der Sterbehilfe, durchaus“, und um gezielten Fragen zu diesem Thema von vornherein aus dem Wege zu gehen, „Aber der juristische Aspekt interessiert mich in so einer Situation wirklich nicht!“ Er hielt kurz inne. „Wirklich nicht!“, wiederholte er mit Nachdruck. Das meinte er so und dazu stand er, das spürten alle.
„Juristen und Ethik schließen sich gegenseitig ebenso aus wie Rechtsprechung und Recht. Hier geht es um Gewissensentscheidungen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Und zu denen gehören Mut und Menschenliebe. Mit Menschenliebe und Mut Verantwortung zu übernehmen, werden Sie in jedem Fall ein besserer Arzt, als mit den tausenden von Daten, die Sie für Ihre diversen Examina aus idiotischen Fragenkatalogen extrahieren müssen.“ Er fügte hinzu, „Es sind natürlich nicht Ihre Fragenkataloge, sondern die eines verquasten Systems; erdacht von ahnungslosen Politikern und idiotischen Funktionären, die aus dem Medizinstudium einen Kreuzworträtselwettbewerb gemacht haben.“ Bekker streckte sich und sah in die Runde.
„Fassen wir zusammen. Wir sind mit der Intensivmedizin auf einem gefährlichen Weg, ohne dass ich ein Rezept parat hätte, wie man es grundsätzlich anders machen könnte. Der Fortschritt birgt viele Fallstricke, denn nicht alles, was machbar ist, sollte auch getan werden. Zumindest nicht bei jedem Patienten. Seien Sie wachsam und kritisch, und sehen Sie die Medizin nicht ausschließlich durch die naturwissenschaftliche Brille. Der Patient als Mensch, als denkende, fühlende Kreatur ist in einer Zeit der apparativen Hochrüstung zweitrangig geworden. Daran ist leider nicht zu deuteln. Lassen Sie sich nichts erzählen. Die Selbstbestimmung des Individuums in kritischen Situationen interessiert doch niemanden wirklich. Statt dessen wird viel darüber geredet, am liebsten in öffentlichen Foren vor laufenden Fernsehkameras. Sehen Sie der Wahrheit ins Auge. In der modernen Medizin wird das Dasein am Funktionieren von Organen festgemacht. Das aber kann es nicht sein. Das hat mit Ethik nicht das Geringste zu tun. Denken Sie darüber nach.“
Bei sich selbst dachte er nur, ‚Wir sind alle erbärmliche Feiglinge, skrupellose, angepasste Feiglinge!‘ Bekker neigte zu Exzessen. Tatsächlich hatte er permanente Motivationsprobleme und kämpfte mit lang anhaltenden Phasen tiefer Resignation, mit Wut, Verzweiflung und Depression. Laut und mit einem freundlichen Lächeln wandte er sich abschließend ans Auditorium,
„Meine erste Intensiv-Visite beginnt in der Regel täglich um sechs Uhr morgens. Sie wissen ja, wo unser Krankenhaus steht und sind jederzeit herzlich eingeladen. Sie müssen sich nicht einmal anmelden.“ Das konnte er leicht versprechen, denn es kam eh selten jemand.
„Ach ja“, der Hörsaal befand sich bereits in Auflösung, dennoch blieben die meisten stehen und wandten sich um. Einige wussten, was jetzt kam, „Kennen Sie den Unterschied zwischen einem Arzt und Gott? Nein? Nun, Gott bildet sich nicht ein, Arzt zu sein. Schönen Tag noch!“ Die Vorlesung war beendet.
*
Frey hatte alles im Griff. Er blieb hinter der Studentin, wobei er darauf achtete, Körperkontakt zu vermeiden. Sie machte Anstalten abzutauchen, in der Hoffnung, er würde auch die Intubation übernehmen.
„Hiergeblieben!“, fürsorglich, „also noch einmal mit Gefühl, Zunge aufladen, gut! Jetzt gleichzeitig heben und hebeln, gut. Versuche den Burschen mit dem Spatel hochzuheben, nicht zu viel Druck auf die Jacketkronen, gut. Was sehen wir? Wie heißt dieser Zipfel, der die Sicht versperrt? Epiglottis, bingo! Alles bestens.“ Er senkte den Tonfall. Das junge Mädchen schwitzte und zitterte. Der Einsatz des Intubationsspatels erfordert gelegentlich Kraft, die sie zunehmend verließ. Frey hatte Erbarmen. Er griff zu, die Stimmritze war nun gut zu sehen und weit offen, die Stimmbänder vollkommen erschlafft.
„Spaß muss sein, sprach Wallenstein.“ Sein Tonfall war unschuldig. Das übliche ‚und schob die Eier mit hinein‘ verkniff er sich heute. Geschafft! Sein Blick streifte die Uhr. Fast vierzig Minuten Verzögerung. Die Operateure würden begeistert sein. Bekker auch!