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12. Kapitel Universitätsklinik

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Die Tür zu Fritsches Sekretariat war angelehnt. Bekker trat ein, durchquerte die beiden Räume der Sekretärinnen und einen Untersuchungsraum. Er öffnete ohne anzuklopfen die Tür zum Büro seines Chefs.

„Kommen Sie nur herein.“ Fritsches Ton war nicht mehr so schroff wie noch vor kurzem in der OP-Umkleide. Er deutete auf die üppige Sitzecke mit schwarzen Ledersofas und edelstahlgefasstem Glastisch am Ende des großen Raumes, unmittelbar vor einer mahagoni farbenen Bücherwand, die sich bis unter die Decke erstreckte und voll war mit wichtig und wertvoll wirkenden Buchrücken. Bekker blickte verstohlen an sich herunter. Seine Kleidung war in diesem Ambiente fehl am Platze.

„Nun setzen Sie sich.“ Fritsche kam hinter seinem Schreibtisch hervor, an dem er sich gerade eine seiner geliebten Pfeifen gestopft hatte, und die er nun auf seinem Weg zu der Sitzgruppe geübt anzündete. Er setzte sich, behielt dabei die kurz geschwungene Pfeife im Mund und nahm die Brille von der Nase, um sie umständlich zu putzen. Bekker kannte dieses Manöver. Fritsche wollte Zeit gewinnen, und Bekker fragte sich wozu. Er hatte eine kurze und drastische Zurechtweisung erwartet und nicht, dass man ihm Platz anbieten würde und sich zum Smalltalk niedersetzte. Aber das dicke Ende würde noch kommen, da war er sicher. Immerhin, Fritsche hatte sich offensichtlich erst einmal für die väterliche Variante entschieden, und Bekker war froh darüber. Sein Nervenkostüm lag blank. Er wusste, dass es ihm zunehmend schwerfallen würde, weiterhin mit ungerechtfertigten Vorwürfen und Anschuldigungen umzugehen.

Unter der Dusche im Umkleideraum, bevor er zu Fritsche ging, hatte er sich bereits das Szenario ausgemalt. Fritsche würde auf ihn losgehen, ihn beschimpfen und auffordern, alles zu unterlassen, was die neurochirurgische Versorgung des Patienten in ein falsches Licht bringen könnte. Ja, ‘falsches Licht‘, würde es heißen. Eine unverrückbare Wahrheit würde plötzlich relativiert werden. Die Vokabeln waren immer dieselben. ‘Besondere Umstände, Erfahrung, ungewöhnliche Komplikation, nicht vorhersehbar, schicksalhafter Verlauf‘ und einiges andere. Bekker kannte alle diese Phrasen, hatte sie unter verschiedensten Umständen gehört und selbst diskutiert, und tatsächlich entsprachen sie oft genug der Wahrheit. Der Wahrheit, dass der Mensch nicht alles wusste, ob er Arzt, Elektriker oder Pastor war. Ärzten unterliefen die gleichen Nachlässigkeiten wie anderen Menschen, gelegentlich mit fatalen Folgen. Allerdings hatte der Medizinbetrieb vielerlei sinn- und wirkungsvolle Sicherheitsmechanismen entwickelt, damit ein Fehler innerhalb der üblichen Routine nicht zur Katastrophe wurde.

Bekker akzeptierte seine Welt. Er wusste, dass immer wieder Dinge geschahen zum Nachteil anderer, die nicht geschehen durften, und dennoch, so widersinnig es war, als eine Art natürliche Ausfallrate zu akzeptieren waren. Die Sicherheit für die Patienten, gemessen an der Unmenge invasiver diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen, alle mit einem definierten immanenten Risiko, war extrem hoch. Dennoch unterschied Bekker für sich stets zwischen vermeidbaren und unvermeidbaren Fehlern. Der Arzt, der im dramatischen Notfall die falsche Entscheidung traf, in bester Absicht zwar und um ein Leben zu retten, tötete den Patienten womöglich. Dennoch war sein Fehler unvermeidbar, da die Zeit zum Abwägen oder zur Beschaffung weiterer Entscheidungshilfen fehlte. Sein Handeln war im Ergebnis ein Desaster und gleichzeitig aller Ehren wert. Anders die abgewogene, kalkulierte, riskante Entscheidung aus Halsstarrigkeit, Rechthaberei oder unter wirtschaftlichen und organisatorischen Zwängen, die ein hohes Risiko für die Patienten durchaus in Kauf nahm. So kam es zu vermeidbaren Fehlern, die in Bekkers Augen unentschuldbar waren. Ein solcher vermeidbarer Fehler hatte wahrscheinlich die Gesundheit seines besten Freundes ruiniert, und er hatte zugesehen. Er konnte nichts mehr ungeschehen machen, aber er konnte dafür sorgen, dass seinem Freund die bestmögliche Therapie und vor allem Gerechtigkeit zukam. Gerechtigkeit – was war das eigentlich im konkreten Fall? Fritsche riss ihn aus seinen Gedanken.

„Herr Bekker, ich hoffe, Sie haben sich beruhigt und sind ein wenig zugänglicher als innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden.“ Bekker sah dem anderen ins Gesicht, als wolle er darin lesen, was gemeint war. Was sollte das heißen ‘zugänglich‘? Er fuhr sich durchs Haar. Plötzlich fühlte er sich müde und ausgelaugt. Und nutzlos.

„Ich weiß, mein ganzer Auftritt, heute Nacht und vorhin, war etwas, hmm, sagen wir mal ungeordnet. Aber ich hatte gute Gründe und ehrlich gesagt wundere ich mich über Ihre pauschalen Vorwürfe.“ Bekker sprach zögerlich und ärgerte sich über seine Wortwahl. Er wollte Fritsche nicht provozieren, sondern ihn überzeugen, dass etwas Ungeheuerliches geschehen war. Ein schrecklicher Fehler durch den Leiter einer der renommiertesten deutschen Kliniken für Neurochirurgie, mit unabsehbaren Folgen für einen bis dato gesunden jungen Mann. Ein Fehler, der sich nicht würde vertuschen lassen. Fritsche musste ihm unvoreingenommen zuhören, denn er schien nur einseitig informiert.

„Herr Fritsche“, Bekker saß kerzengerade, auch um die Müdigkeit zu bekämpfen, und sah dem anderen geradewegs in die Augen, „ich weiß, es ist Samstag und Sie haben bestimmt wenig Zeit. Andererseits haben Sie mich zu diesem Gespräch aufgefordert, und ich bin sicher, Sie werden mir Gelegenheit geben, meinen Standpunkt vorzutragen.“ Warum so geschraubt? Herrgott, wo war seine berühmte Unbeschwertheit. Stattdessen schwitzte er und fühlte sich in der Enge. Fritsche zeigte keine Reaktion. Er hielt Bekkers Blick fest und auf seiner Stirn zeigte sich eine gerade Falte.

„Ich muß allerdings von vorne anfangen. Bitte hören Sie mir in Ruhe zu und lassen Sie mich alles erzählen. Ich will versuchen, das Unwesentliche wegzulassen. Ich weiß, Sie sind zornig, aus Gründen, die ich nur ahnen kann. Die ich aber, offen gesagt, ganz sicher nicht verstehe und auch nicht akzeptiere. Ich bin, so denke ich, nicht irgendwer für Sie, Herr Fritsche.“ Bekkers Sicherheit begann zurückzukehren und auch seine Empörung über das, was geschehen war. Er vergaß, dass er noch vor wenigen Momenten wie ein ertappter Schuljunge in seinen verdreckten Klamotten auf dem edlen Ledersofa Platz genommen hatte, bemüht, nur nichts zu beschmutzen.

„Ich bin nun seit beinahe acht Jahren an dieser Abteilung, habe alle Stationen in verantwortlicher Position durchlaufen, vertrete Sie regelmäßig in der Klinik und in der Fakultät und bin damit eine wesentliche Speiche im Räderwerk Ihres Instituts. Dies verhält sich so, weil Sie es wollten, Herr Fritsche, und ich will nicht begreifen, dass nun wegen eines Vorfalles, über den Sie offensichtlich keine ausreichenden Informationen besitzen, alles falsch gewesen sein soll und Sie mir einen Tritt geben.“ Im Kontrast zu seinen bitteren Worten lächelte Bekker plötzlich. Er hatte das Kinn, ohne es zu merken, kampfeslustig vorgereckt. Er war wieder zurück im Ring, und Fritsche hatte es registriert.

„Doch es geht nicht um mich. Wirklich nicht! Es geht um einen jungen Mann, Sportler, erfolgreicher Jungunternehmer, Ehemann und außerdem mein bester Freund.“ Seine Stimme wollte brechen. Er holte tief Luft. Jetzt bloß nicht weich werden.

„Ach ja, und das wichtigste, Privatpatient.“

„Bleiben Sie sachlich, Herr Bekker. Erzählen Sie Ihre Version. Ich bin bereit zuzuhören, aber bleiben Sie bei den Fakten und lassen Sie die dämliche Polemik.“ Fritsche war erstaunlich ruhig. Wenn er immer noch verärgert sein sollte, so ließ er es sich nicht anmerken. Sein Blick ruhte prüfend, beinahe ein wenig melancholisch auf seinem Mitarbeiter.

Bekker war ihm der Liebste von allen, vielleicht weil er vieles hatte, das ihm selbst fehlte. Aber davon wusste niemand, nicht einmal die leitende Sekretärin, der er mehr anvertraute als seiner Frau. Natürlich hatte auch Bekker keine Ahnung. Wahrscheinlich hätte er es auch gar nicht wissen wollen. Er war nicht interessiert, was andere über ihn dachten. Vielleicht, um sich seine Illusionen zu bewahren.

Bekker lehnte sich zurück und begann zu erzählen. Begann mit der gemeinsamen Jugend, dem Sport, den Verrücktheiten. Das Werben um die gleiche Frau ließ er aus. Dann Jürgen Menzel und seine Kopfschmerzen. Schließlich die Einweisung in die Uniklinik und die niederschmetternde Diagnose intrakranielles Aneurysma.

„Nach sechs Stunden Diagnostik“, sagte Bekker bitter, „eigentlich hat da die ganze Schweinerei schon angefangen.“ Er ignorierte Fritsches mahnenden Blick.

„Ja, Herr Fritsche, bereits da hat es angefangen, die Ignoranz, die Menschenverachtung. Riesig viel Zeit haben Sie gehabt, die Herren Nussknacker. Während dem Jürgen, der armen Sau, fast der Schädel weggeflogen ist vor Schmerzen und die Diagnose längst feststand, ist Brücher zu den Rotariern gefahren zum gemütlichen Brunch. Zerres hat erzählt, in welchem Zustand er den Patienten im OP vorgefunden hat. Wo man ihn übrigens ohne Anmeldung hin gekarrt hatte, nachdem die Diagnoseorgie abgeschlossen war. Soviel zu den berühmten Absprachen; aber das nur am Rande.“ Bekker erzählte alles. Die Hirndruckzeichen in der Nacht. Die Vorbereitung zur Operation. Wie er, überzeugt, alles nähme seinen regelhaften Gang, todmüde nach Hause gefahren war.

„Ich hätte nicht gehen dürfen. Ich sag das nicht nur aus der Retrospektive. Es ist auch keine Selbstzerfleischung. Ich versuche einfach nur, ehrlich zu sein, auch wenn’s nicht rühmlich ist für mich. Ich habe das Krankenhaus mit einem mulmigen Gefühl verlassen. Sie wissen ja, Intuition ist nicht meine schwächste Seite.“ Zum ersten Mal lächelte Fritsche freundlich. Da hatte Bekker wahrhaftig Recht. Er war gelegentlich zwar chaotisch und anstrengend, aber seine Intuition war phänomenal.

„Der Kerl hat einen Riecher, so was kann man nicht lernen. Ich kann mich nicht erinnern, dass er bei einer kritischen Fragestellung schon mal daneben gelegen hätte“, sagte Fritsche in vertrautem Kreise, wenn es gelegentlich um seine Mitarbeiter ging, und das sollte etwas heißen, denn Fritsche hielt sich selbst für den Besten und sprach nicht gern über herausragende Qualitäten von anderen. Schließlich das Telefonat mit Tanaka am nächsten Morgen. Der Japaner war eigenartig gewesen, hatte auf viele Fragen gar nicht oder nur sehr knapp geantwortet.

„Spätestens da hätte ich etwas merken müssen, Herr Fritsche. Ich kenne Tanaka ziemlich gut. Sie haben doch auch eine Meinung über ihn, oder? Er war ganz anders als sonst. Irgendwie extrem angespannt. Dabei hat er gar keine großen Gefühlsvariationen drauf, der ist eigentlich immer gleich. So wie all die Jungs aus Japan.“ Fritsche war genau der gegenteiligen Meinung und hielt Bekkers Ansicht für grenzenlos naiv, sagte aber nichts.

„Dann der ‘reversible’ Hirndruck.“ Bekker schlug sich an die Stirn, „so ein Schmarren, so ein ausgemachter Schwachsinn. In der Schwesternschule würden sie einen für so eine Story auspfeifen. Ich muss Ihnen ja wohl nichts über intrakranielle Blutung und Hirndruck erzählen? Ich kann mich selbst nicht verstehen. Aber ich hab’s glauben wollen. Ich wollte meine Familie endlich einmal nicht enttäuschen und hab’ dafür einen Patienten im Stich gelassen.“

Wieder hatte Bekker zu kämpfen. Er schwieg. Es war eigentlich eh alles erzählt. Es gab nichts hinzuzufügen. Er wartete, dass Fritsche sich äußern würde. Wenn nicht, dann hatte er sich offensichtlich für die politische Lösung des Problems entschieden. Die hohen Herren würden die Sache gemeinsam auskungeln. Relativieren als schicksalhaften Verlauf. Dann stand Bekker allein, als Michael Kohlhaas, als Eiferer oder Querulant.

Fritsche sagte immer noch nichts und schaute an Bekker vorbei. Wind war aufgekommen und schlug eines der geöffneten Fenster gegen die Fassung. Fritsche stand auf, es zu schließen. Er zog die Gardinen vor und ließ die hereinbrechende Dämmerung draußen. Anschließend kehrte er nicht an seinen Platz zurück, sondern setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Offensichtlich hatte er sich entschieden. Bekker wertete sein Verhalten als Hinweis, dass das vertraute, offene Gespräch beendet sei.

Fritsche zündete erneut seine Pfeife an. Als er schließlich zu sprechen anfing, war es so leise, dass Bekker Mühe hatte, ihn zu verstehen.

„Herr Bekker, wie lange sind Sie jetzt in der Neurochirurgie. Als Oberarzt, meine ich.“

„Ziemlich genau vier Jahre.“

„Vier Jahre. Ganz schön lang. Normalerweise lasse ich die Oberärzte in kürzeren Intervallen zwischen den operativen Kliniken rotieren. Zwei Jahre war eigentlich immer das Äußerste. Wissen Sie, warum ich bei Ihnen eine Ausnahme gemacht habe?“

„Sicher nicht, weil ich mit Herrn Brücher so besonders gut harmoniere“, sagte Bekker trotzig. „Ich mochte ihn von Anfang an nicht, um ehrlich zu sein“, fügte er hinzu, da er eine solche Frage erwartete. Und, um seiner Äußerung die Arroganz zu nehmen, „Das beruht wohl auf Gegenseitigkeit.“

„Da sind Sie im Irrtum, Herr Bekker. Brücher ist zwar alles andere als ein angenehmer Mensch, aber er schätzt Sie außerordentlich. Das ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Ich weiß es von Dritten. Mir gegenüber würde er natürlich niemals zugeben, dass er Respekt vor der Leistung eines Anästhesisten hat. Unmöglich! Aber wissen Sie, das ist auch ein bisschen ein Generationsproblem. Brücher stammt aus einer Zeit, als es die Anästhesie bestenfalls als notwendigen, lästigen Zustand gab, nicht jedoch als gleichberechtigtes klinisches Fach. Sind wir mal ehrlich, Bekker, hier unter uns. Die ersten Anästhesisten waren, gemessen an dem, was die Chirurgen bereits draufhatten, nicht gerade große Leuchten. Da gab es schon ein deutliches Kompetenzgefälle, aus dem sich viele Vorurteile entwickelt haben. Das hängt dem Verhältnis zwischen Anästhesie und schneidenden Fächern, aber nicht nur denen, bis heute nach. Wie gesagt, alles historisch bedingt. Brücher hat sich an die neue Entwicklung nie gewöhnen können. Sein großer Ruf als Neurochirurg und Wissenschaftler war sicherlich nicht dazu geeignet, seine Bereitschaft für Kollegialität und Kooperation zu schärfen.“ Bekker nickte, aber es war keine Zustimmung. Stattdessen sagte er,

„Und damit ist alles entschuldigt? Ist es das, was Sie mir sagen wollen? Das Drangsalieren von Schwächeren, die Geringschätzung anderer Fachgebiete und die Ignoranz gegenüber allem, was der hohe Herr für unwichtig hält? Alles Generationssache?“

Bekker hielt mit seiner Abscheu nicht hinterm Berg, ärgerte sich aber über seinen Ton. Dennoch, Anstand und Führungsqualitäten waren zeitlos. Sie waren keine Generationsfrage. Das war alles Gerede. Er wusste genau, wo dieses Gespräch sich hinwendete. Seine berühmte Intuition hatte eingesetzt. Noch während er über den Fall Jürgen Menzel berichtete, ahnte er im tiefsten Inneren, dass Fritsche und er in dieser Sache nicht auf der gleichen Seite stehen würden.

„Lassen Sie mich gefälligst zu Ende sprechen.“ Fritsche reagierte ungnädig auf die Unterbrechung.

Bekker lehnte sich ergeben zurück. Er wusste eh, was nun kam, kannte lediglich die Wortwahl nicht und nicht die Variante der eingesetzten Logik. Aber im Ergebnis war alles vorhersehbar. Es würde nun die Story kommen vom großen Neurochirurgen, der so vielen Patienten Leben und Gesundheit wiedergegeben hatte. Der durch seine bahnbrechenden wissenschaftlichen Erkenntnisse ganze Generationen von Neurochirurgen in ihrer segensreichen Tätigkeit beflügelt und bestimmt hätte, und der nun, am Ende seiner Laufbahn, eine kleine Nachlässigkeit begangen hätte, deren Beurteilung zudem noch gar nicht abgeschlossen war. Natürlich, da war der Patient. Aber so war das Leben. Es gab Opfer, unvermeidbare Opfer. Die physiologische Ausfallrate, Sie wissen doch, Herr Bekker. Sorry. Durfte man dafür das Leben einer solchen Persönlichkeit, die so segensreich für die Menschen gewirkt hatte, zerstören?

Bekker gähnte verstohlen. Er hätte genauso gut nach Hause gehen können und spielte für einen Moment mit dem Gedanken, einfach aufzustehen und sich zu verabschieden. Doch die Achtung, die er Fritsche trotz allem entgegenbrachte, ließ ihn ruhig auf seinem Platz sitzen bleiben.

„Wie bereits gesagt, Brücher ist zuweilen ein äußerst unangenehmer Mensch. Zugegeben. Ich kann mich mit seinen Methoden, persönliche Interessen durchzusetzen, aber auch mit seiner Art der Menschenführung in keiner Weise identifizieren. Ich denke, das habe ich hinlänglich bewiesen.“

Bekker nickte stumm. Das stimmte. Fritsche war der einzige im ganzen Klinikum, der den Mumm hatte, sich mit dem alten Kotzbrocken, aber auch anderen Provinzfürsten des deutschen Universitätsbetriebes anzulegen. Da hatte es teilweise heftig gekracht. Fritsche duldete kein Mobbing gegen seine Mitarbeiter und legte sich dafür mit jedem an. Ob aus grundsätzlichem Gerechtigkeitssinn oder weil dies seinem Selbstverständnis für sein Fachgebiet und damit für sich selbst entsprach, hätte niemand sicher beurteilen können. Das war letztendlich auch nicht wichtig. Bekker respektierte ihn dafür, nein, er bewunderte ihn sogar. Vielleicht saß er deshalb noch auf dem Ledersofa in seinem Büro.

„Sei’s drum, Herr Bekker, Brücher ist eine Institution. Nicht von ungefähr. Ich habe ihm deshalb für die letzten Jahre ‘seinen‘ Anästhesisten gelassen, nämlich Sie. Nicht aus Sympathie, aber aus Respekt. Er hat zu einer Zeit, als gewisse Operationen am offenen Schädel noch als Husarenstück galten, richtungsweisende Techniken entwickelt, die heute jeder erfahrene Neurochirurg anwenden kann. Die Sicherheit für die Patienten hat sich damit vervielfacht. Haben Sie eine Idee, was das für Patienten mit gutartigen Hirntumoren oder Hämangiomen oder intrakraniellen Missbildungen bedeutet?“ Er registrierte Bekkers Ablehnung und seine Verschlossenheit.

„Sie wissen es ganz offensichtlich nicht.“ Fritsche hob zum ersten Mal, seitdem sie beisammen saßen, die Stimme und schlug mit der Hand auf die Schreibtischplatte.

„Ja, verflucht noch mal, das mit Ihrem Freund hätte nicht geschehen dürfen. Es ist leider genau, wie Sie sagen, nämlich ein offensichtlicher, verdammter Fehler. Rational nicht zu erklären. Ich zermartere mir, seitdem ich den Fall kenne, also seit ein paar Stunden, den Kopf darüber, wie so etwas möglich ist, komme aber zu keinem Ergebnis, glauben Sie mir. Es war zudem genügend Zeit vorhanden, einen ersten Blackout, den man ja noch konzedieren könnte, zu korrigieren.“

Bekker fühlte einen Wackerstein in seinem Magen. Ja, alle Zeit der Welt hätte man gehabt, alle. Nichts wäre dem Patienten passiert, wäre nur einer dagewesen, der das Heft in die Hand genommen hätte. Gegen alle Widerstände. ‘Zum Wohle des Patienten‘, hieß es nicht so? Aber da war niemand gewesen, und er hatte zu Hause in seinem Bett gelegen. Fritsche blieb Bekkers stumme Selbstzerfleischung verborgen.

„Aber nichts! Bis zum frühen Nachmittag ist der Irrsinn fortgesetzt worden, auf höchste Anordnung. Müller ist in der Sache hundertprozentig ihrer Ansicht. Er hat es zwar nicht gesagt, aber seine Körpersprache war ein offenes Buch. Jedenfalls für mich. Brücher hat Müller bei der Revision lediglich assistiert. Nach einer halben Stunde ist er schon wieder abgetreten, obwohl ein Ende des Dramas nicht abzusehen war zu diesem Zeitpunkt. Sie haben kein Wort miteinander gesprochen, nicht ein einziges. Die Stimmung war eisig, da hat’s einen gefroren. Aber das alles ändert nichts. Es ist passiert, Bekker, es ist passiert. Beginnen Sie Ihre Abwägungen mit dieser Erkenntnis, mag sie noch so bitter sein. Es ist passiert! Sie haben es nicht verhindert. Haben es nicht verhindern können“, fügte er schnell hinzu. „Ich weiß, dass ich Sie in diesem Moment nicht erreiche. Ganz gleich, was ich jetzt sage, es klingt in Ihren Ohren schal. Für Sie bin ich ein Opportunist, ein Verräter. Ist mir völlig klar. Trotzdem, hören Sie mir wenigstens zu. Wir leben jetzt. Was war, ist gewesen, unwiederbringlich, selbst die Worte, die ich gerade spreche, sind in der gleichen Sekunde bereits Vergangenheit. Nichts lässt sich festhalten. Nichts lässt sich ungeschehen machen. Nicht das Schöne. Das ist gut. Nicht das Schlechte. Das ist schlimm. Manchmal so schlimm, dass Menschen daran verzweifeln.“

Fritsches Stimme war auf einmal weich, ungewöhnlich für den kalten, kopfgesteuerten Technokraten, den er der Welt gerne vorspielte. Bekker horchte auf in seinem Eishaus, in das er sich seit ein paar Minuten zurückgezogen hatte. Fritsches Stimme hatte etwas Flehentliches. Bekker hob den Blick. Sein Gegenüber, meilenweit entfernt an seinem Schreibtisch, konnte er nur schemenhaft erkennen. Das Zimmer war in zunehmendes Zwielicht getaucht, da Fritsche kein Licht gemacht hatte, trotz der einsetzenden Dunkelheit.

„Die Zukunft kennen wir nicht, und obwohl wir genau wissen, dass wir sie nicht wirklich beeinflussen können, belastet sie uns. Ist es nicht verrückt, dass die meisten Menschen all ihre Kraft, all ihre Gedanken an die Zukunft verschwenden und die Gegenwart ignorieren? Herr Bekker, alles um das ich Sie heute bitte, ist, meinen Rat anzunehmen. Schlafen Sie über die ganze Sache. Tun Sie nichts Unüberlegtes. Brücher ist nicht irgend jemand. Sie können den körperlichen Schaden, den ihr Freund erlitten hat, nicht ändern, indem Sie einen aussichtslosen Feldzug gegen einen hoffnungslos überlegenen Gegner beginnen. Aber Sie können viel für Jürgen Menzels zukünftige körperliche und mentale Entwicklung tun. Das steht fest, auch wenn wir beide noch nicht wissen, wie groß der zerebrale Defekt ist. Das müssen die nächsten Tage und Wochen zeigen. Gehen Sie die Sache pragmatisch an, mag Ihre Wut auch noch so groß sein. Wut ist ein schlechter Ratgeber. Sie Bekker sind die beste Lobby für die Zukunft Ihres Freundes. Schon wieder die Zukunft, sehen Sie.“

Bekker wusste, dass Fritsche für einen Moment lächelte, auch wenn er sein Gesicht in der Dunkelheit nicht sehen konnte.

„Natürlich wird man die Sache nicht unter den Tisch kehren können. Aber man muss es nicht an die große Glocke hängen. Es gibt Schlichtungsstellen, die fachkundig und emotionslos arbeiten. Ausgesprochen qualifizierte und weitgehend unabhängige Institutionen, soweit so etwas heutzutage möglich ist.“ Sein Realitätssinn war Fritsche immerhin noch nicht abhanden gekommen, dachte Bekker.

„Dort wird man einen Kompromiss aushandeln. Ein Mann wie Brücher ist bestens abgesichert, und die Haftpflichtversicherer folgen überwiegend den Empfehlungen der Kommission und ihren Experten. Ihr Freund und seine Frau werden sehr, sehr viel Geld bekommen. Da verbürge ich mich. Geld, das sie dringend benötigen. Für die Rehabilitation, die Weiterführung oder Liquidierung der Firma. Eventuell die Pflege. Tut mir leid, aber auch daran muss man denken. Wie ich die Sache einschätze, steht zu befürchten, dass Ihr Freund nie mehr allein zurechtkommt.“

Es war heraus, in aller Deutlichkeit, das erste Mal, seitdem sie zusammensaßen. Fritsche sah die medizinische Seite ebenso wie Bekker. Eher noch schlimmer. Nur bei der Beurteilung der Hintergründe wollte er sich offenbar bedeckt halten. Zumindest verfolgte er eine gänzlich andere Strategie.

„Das Gericht ist die schlechteste Lösung. Ich weiß, was in Ihnen vorgeht. Sie wollen Gerechtigkeit. Sie wollen die Bestrafung des Mannes, der nach Ihrer Einschätzung, Ihrer ganz persönlichen Einschätzung“, Fritsche ließ keinen Zweifel, dass nicht jeder Bekkers Meinung teilen musste, zumindest nicht in dieser Konsequenz und keinesfalls offiziell, „die Gesundheit und Unversehrtheit ihres Freundes auf dem Gewissen hat. Ein schwerer Vorwurf. Durch einen angestellten Arzt der Universitätsklinik erhoben gegen einen ihrer Ordinarien, eine weltweit renommierte Kapazität auf seinem Gebiet, einen Mann mit enormem Einfluss in der Universität und auch außerhalb.“

Fritsche malte ein vollkommen realistisches Szenario. Er übertrieb kein bisschen. Bekker wusste, dass es sich haarklein so verhielt.

„Glauben Sie allen Ernstes, Herr Bekker, es fände sich in Deutschland oder anderswo im deutschsprachigen Ausland ein einziger anerkannter Fachmann, der als Gutachter gegen Brücher auftritt? Es wird Gefälligkeitsgutachten hageln. Am Ende ist der Patient selbst schuld gewesen. Die Anständigen werden die Begutachtung ablehnen, wegen Befangenheit oder angeblicher Überlastung. Aber die anderen – wie gesagt. Hören Sie auf zu träumen. Ein solcher Prozess wird ein Begräbnis erster Klasse für die Karriere und die Zukunft – schon wieder die Zukunft, wir kommen einfach nicht daran vorbei – eines gewissen Herrn Dr. Peter Bekker, aufstrebender anästhesiologischer Oberarzt mit besten Chancen. Peng! Das wird so schnell gehen, dass Sie es kaum wahrnehmen. Selbst ich könnte das nicht verhindern. Und Ihr Freund und seine Familie gehen womöglich leer aus. ‘Schicksalhafter Verlauf‘, Sie wissen doch. Vielleicht ein paar Mark von der Regenbogenpresse. Nicht der Rede wert im Vergleich zu dem, was die Versicherung zahlen wird. Zahlen muß, wenn der Anwalt und die Berater der Familie“, ein vielsagender Blick durch die Düsternis des Raumes, „es geschickt anstellen und vor allem kaltes Blut bewahren.“

Bekkers Ablehnung war spürbar, auch wenn er noch nichts kommentiert hatte. Fritsche versuchte seinen Standpunkt mit unstreitigen Sachargumenten zu untermauern.

„Machen Sie einen Haftpflichtschaden aus der ganzen Sache. Brücher wird sich zieren, aber er wird zustimmen. Natürlich hat er kein Interesse, durch einen Prozess vor die sensationslüsterne Öffentlichkeit gezerrt zu werden. So verrückt es klingen mag, aber Ihrer Beider Interessen sind ganz ähnlich gelagert. Ein Prozess nützt niemandem, außer den Rechtsanwälten. Oder glauben Sie allen Ernstes, vor Gericht gäbe es Gerechtigkeit?“

Fritsche tastete nach der Stehlampe und machte in dem inzwischen stockdunklen Raum das Licht an. Er spähte hinüber zu Bekker, der aufmerksam zugehört hatte und sich jetzt räusperte.

„Es ist in jedem Fall nett, dass Sie sich so bemühen, Herr Fritsche.“ Das war keine Floskel. Bekker meinte es ehrlich.

„Ich weiß, dass Sie mir helfen wollen, und dass es Ihnen nicht nur darum geht, einen Skandal abzuwenden. Aber ich bin grundsätzlich anderer Ansicht. Unrecht hat immer eine Wurzel und beginnt dort, wo man wegsieht oder vertuscht, seien die Argumente dafür auch noch so schlüssig. Recht, mag dieser Begriff durch die menschliche Gesellschaft inzwischen auch noch so pervertiert sein, folgt keiner opportunistischen Logik. Recht ist unteilbar und sollte eigentlich unser höchstes Gut sein. Sollte! Um es zu erhalten, so wie ich es verstehe, müssen schmerzhafte Auseinandersetzungen in Kauf genommen werden. Ich habe nicht vor, Herrn Brücher zu vernichten. Das kann ich gar nicht.“ Es war offensichtlich, wie schwer es ihm fiel, den Namen auszusprechen.

„Glauben Sie mir, Rachegefühle sind mir fremd. Aber ich werde mich dafür einsetzen, dass ein Gericht sagt, hier ist Schuld. Hier wurde ein verhängnisvoller Fehler begangen, gegen alle Regeln der Medizin und gegen den Widerstand fachkundiger Ärzte vor Ort. Hier wurden gegen jede Vernunft falsche Maßnahmen durchgesetzt. Nicht mittels überragender Kompetenz, sondern ausschließlich durch Machtmissbrauch in einem erstarrten, anachronistischen hierarchischen System, das zu derartigen Katastrophen geradezu einlädt. Dafür werde ich als Zeuge zur Verfügung stehen, und wenn ich ganz allein bin. Brücher hat ein Verbrechen gegen seinen Eid begangen, den man außer ihm wohl niemandem durchgehen lassen würde. Alles spricht dafür, dass er damit durchkommt. Ich will und werde all meine Kraft einsetzen, dass dies nicht geschieht.“

Bekker spürte Fritsches Enttäuschung beinahe körperlich.

„Tut mir Leid, Herr Fritsche. Wirklich. Ich werde Sie auch in keiner Weise in Bedrängnis bringen und nichts von Ihnen erwarten. Nur Fairness, aber da habe ich keine Sorge.“ Er stand auf. Das Gespräch war für ihn beendet. Er erwartete, dass Fritsche dies respektierte.

„Ich hab’ Sie lang genug aufgehalten und gehe jetzt nach Hause.“ Er fasste in die Hosentasche.

„Oh je, ich hab’ ja gar keine Schlüssel“, und mehr zu sich selbst, „Hoffentlich ist mein Vermieter zu Hause.“ Fritsche hatte seine Ernüchterung bereits wieder im Griff. Er war ebenfalls aufgestanden und nahm seinen Mantel, der an einem Haken hinter ihm aufgehängt war.

„Schon okay, Herr Bekker, ich fahr Sie heim, und vorher besuchen wir Ihren Vermieter. Ansonsten ruf’ ich übers Handy einen Schlüsseldienst. Haben Sie Geld?“ Bekker nickte.

„Ja, zu Hause.“ Sie gingen nebeneinander durch die hohen Flure des altehrwürdigen Gebäudes. Als Sie im Auto saßen, sah Fritsche Bekker von der Seite an. Er tat ihm Leid, und gleichzeitig beneidete er ihn glühend, auch wenn er das niemals zugeben würde. In einer spontanen Geste legte er kurz die Hand auf die Schulter seines Mitarbeiters.

„Keine Angst, keine weiteren Indoktrinationen. Ich hoffe aber, Sie überlegen sich alles noch einmal sehr genau. Wenn Sie sich entschieden haben, sagen Sie es mir als erstem. Ich werde Sie nicht weiter bedrängen. Meine Meinung kennen Sie, aber ich werde nie ihr Feind sein. Merken Sie sich das.“ Bekker fühlte eine kurze, heiße Welle von Dankbarkeit, die ihm für einen Moment die Kehle zuschnürte. Sie waren nicht auf der gleichen Seite, soviel war klar. Aber Fritsche würde ihn nicht fallenlassen. Das war mehr, als der Rest dieses Tages für ihn bereit gehabt hatte.


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