Читать книгу Das Hospital - Benno von Bormann - Страница 15
13. Kapitel
Universitätsklinik
ОглавлениеEndlich zu Hause. Bekker schloss die Haustür auf, tapste im Dunkeln ins Wohnzimmer und setzte, noch bevor er Licht anmachte, den Anrufbeantworter auf dem Beistelltisch neben dem alten braunen Ledersofa in Gang. Das Band war leer. Keine Meldung von Birte und den Kindern. Sie hätte wenigstens anrufen können, ob die Reise gut verlaufen war. Das war rücksichtslos. Was hatte sie nur? Inzwischen war genügend Zeit gewesen, um über alles nachzudenken. Sie musste ihn verstehen. Warum meldete sie sich nicht? Er musste endlich mit jemandem reden, der ihn verstehen und der zu ihm halten würde. Er würde ihr alles erklären. Sie war stur und fanatisch in ihrer Fürsorge für die Familie.
Die Familie! Das war schließlich auch er. War er niemand? Musste man sich um ihn keine Sorgen machen? Immer nur die Kinder! So war es wohl. Wie es in ihm aussah, interessierte niemanden.
Das war weinerliches Selbstmitleid, aber Bekker fühlte sich von allen verlassen. Er hatte für seinen besten Freund das Selbstverständlichste von der Welt getan und sich um ihn gekümmert. Ungenügend, wie sich nun herausstellte. Dass der Zeitpunkt nicht passte, weil sie gerade in den Urlaub fahren wollten, was zählte das? Jürgen hatte sich seine Erkrankung nicht ausgesucht. Jetzt lag er im Koma und er, Bekker, war seine einzige Lobby. Bekker war zutiefst davon überzeugt, dass es sich eben so verhielt und nur er den wehrlosen Patienten vor weiterem Unheil und weiterer Willkür schützen konnte.
Aber was war mit ihm selbst. Wer schützte ihn? Wer hielt ihn fest? Er konnte das alleine nicht durchstehen. Erneut wollte Selbstmitleid ihn überwältigen. Er sah auf. Draußen war tiefe Nacht. In der großen gläsernen Schiebetür spiegelte sich sein Bild, wie er mit seinem T-Shirt und den abgerissenen Jeans vornübergebeugt auf dem Sofa saß. Es kostete ihn Mühe, sich nicht gehenzulassen, nicht zu ertrinken in dem Gefühl schrecklicher Verlassenheit. Ja, er brauchte Birte und die Kinder, musste wissen, dass sie auf seiner Seite waren und ihn unterstützten.
,Ich liebe Euch doch‘, dachte er, ‚ich liebe meine Familie. Ich sorge für sie, und wenn es hart auf hart kommt, bin ich immer für sie da.‘
Das war der Knackpunkt, denn was ‚hart auf hart‘ bedeutete, bestimmte er. Er wusste natürlich, dass es eine solche Situation normalerweise nicht geben würde, schon gar nicht in der Familie von Birte Bekker. Es war seine ganz persönliche Ausrede, sein Persilschein sich selbst gegenüber, mit der er sich einzureden versuchte, er wäre gar kein so schlechter Vater. Bekker zog die Füße auf das Sofa und dachte nach.
War er ein schlechter Familienvater? Das kam auf die Kriterien an. Die von Birte waren sicherlich hoch, auch wenn sie sich im Verlauf ihrer Ehe einige Illusionen abgeschminkt haben mochte. Es gab Väter, die viel seltener bei ihrer Familie waren als er. Industrielle mit Dependancen im Ausland, die permanent in der Welt herumreisten, oder Techniker und andere Spezialisten, die im Ausland Brücken bauten oder Kraftwerke. Die waren manchmal Monate weg. Oder Seeleute.
Für Bekker waren das Beispiele, dass man ein guter Familienvater sein konnte, auch wenn man nicht in jeder freien Minute zu Hause hockte, um mit Frau und Kindern die heile deutsche Familienwelt zu zelebrieren. Er liebte seine Familie. Er liebte seine Frau, auf seine Weise. Er war loyal und treu. Birte war die erste und die einzige Frau, zu der er je die magischen drei Worte gesprochen hatte, ‚Ich liebe Dich‘.
Birte hatte ihn eine Weile hingehalten. Nicht aus Kalkül oder wegen taktischer Erwägungen. Sie wusste sehr früh, dass sie ihn lieben würde, für immer. Gleichzeitig spürte sie seine Zerrissenheit, sein unstetes Wesen, wenn es um tiefe Gefühle ging, und seine latente Unzufriedenheit. So sehr sie ihn haben wollte, als Mann, als Gefährten, als Vater ihrer Kinder, sie wollte von ihm geliebt werden. Und sie wollte, dass er gewisse Regeln akzeptierte. War dies nicht möglich, würde sie verzichtet haben. Auch Bekker empfand etwas Besonderes für sie, wenngleich er es anders beschrieben hätte. Es gab schließlich keinen Gradmesser für Liebe, kein untrügliches Zeichen. Vierzig Grad Fieber waren vierzig Grad Fieber. Aber Liebe? Jeder verstand etwas anderes darunter.
Liebe konnte man nicht erkaufen oder erzwingen und nicht erbeten. In dem, was der Mensch tat, offenbarte sich die Liebe Gottes, in nichts anderem. Albert Schweitzer hatte einmal gesagt,
„Das einzig Wichtige im Leben sind Spuren von Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir ungefragt weggehen und Abschied nehmen müssen.“
*
Es ist eine mühsame und einsame Reise, obwohl die kleine Expedition immerhin sechzehn Menschen, davon zwei Kinder, umfasst. Unterhalten kann er sich eigentlich nur mit dem jungen Novizen, der ihn unbedingt hatte begleiten wollen auf diesem ungewissen und gefahrvollen Weg ins Unbekannte. Die Indianer sind vom Stamm der Irokesen und alle irgendwie untereinander verwandt. Ihr Anführer hat seine beiden Frauen mit sich. Ein Privileg, das den anderen nicht zugestanden ist. Ihnen gehören die beiden Kinder, zwei halbwüchsige, hübsche Jungen mit klaren, dunklen Augen.
Sie fahren in vier Booten, immer Fluss aufwärts in einer atemberaubenden eisklaren Landschaft. Der Winter hat eingesetzt, und in den Nächten erstarrt alles im Frost. Manchmal sind die Ufer zu beiden Seiten so weit entfernt, dass man meint, sie trieben im Meer oder in einem unendlichen See. Im Boot der Priester rudern zwei der Indianer, die jeden Tag wechseln. Sie alle sprechen nur in ihrer Sprache, die er zwar versteht, aber nicht gut genug sprechen kann, um eine wirkliche Konversation zu führen. Was sollte er mit diesen Wilden auch besprechen? Sie werden ihn ins Land der Huronen bringen, damit er dort Gottes Wort verkünden kann.
Es ist ein gefährliches Unternehmen, und der oberste Jesuit im Camp, von dem sie gestartet sind, hatte viele Felle und einen ganzen Ballen Tabak geben müssen, um die Eskorte zusammenzubringen. Die Huronen sind als kriegerisch und unvorstellbar grausam bekannt. Sie häuten ihre Gefangenen bei lebendigem Leibe, wofür Ihre Medizinmänner scharfkantige Muscheln benutzen, die sie am Ufer der Flüsse finden. Es wird berichtet, dass die so Gequälten oft noch viele Tage leben, bevor der Tod sie erlöst. Schwer zu sagen, wie sich seine Begleiter verhalten werden, wenn es zu einem Zusammenstoß kommen sollte. Er macht sich darüber keine Gedanken. Sie sind nicht fürs Kämpfen bezahlt, und er braucht sie auch nicht dafür. Jesus hatte die Gewalt geächtet, den Jüngern verboten für ihn zu kämpfen als es zum Sterben ging. Dies ist seine Mission, und er dankt Gott für die Gnade, ihm dienen zu dürfen, indem er Licht in die Finsternis einer heidnischen Welt bringt.
Die Tage gehen dahin, keiner zählt sie. Sie gleiten über das lautlose Wasser, vorbei an weichen, grünen Ufern, wechselnd mit schroffen Felsüberhängen und riesigen Wasserfällen, deren Gischt das Ufer in einem weißen, unwirklichen Nebel versteckt. Über allem spannt sich ein unendlicher Himmel mit Sternen des Nachts, die so nah sind, dass man sie auf seinem Lager würde betten können. Sie begegnen niemandem, außer wilden Tieren, die sie am fernen Ufer ziehen sehen, oder dem Adler, der zwischen ihnen und der Sonne seine Bahn zieht. Wenn es dämmert, gehen sie an Land, an einer Stelle, die der Anführer für geeignet hält und von wo sie im Falle eines Angriffs schnell genug zu ihren Booten gelangen können.
Die Indianer sitzen an ihren Feuern, während er ein eigenes unterhält, an dem er mit dem Novizen sitzt und sein Essen bereitet. Sie beten zusammen, und sie sprechen über vieles. Über das rauhe, wundervolle Land, über die Liebe Gottes und seine Schöpfung, vor der die Werke der Menschen so unendlich klein erscheinen. Nie erwähnt einer die Gefahr, in die sie sich begeben. Das liegt in Gottes Hand. Sie alle sind in Gottes Hand. Morgens drängt er stets zum Aufbruch, aber oft müssen sie verweilen, da der Anführer beschließt zu jagen, um für den Abend und vielleicht den nächsten Tag frisches Wildbret zu haben.
„Früh morgens ist das Wild besonders gut aufzuspüren“, sagt er. Dabei verweist er manchmal auf die Hilfe eines indianischen Gottes der Jagd, verbessert sich aber schnell unter dem strengen Blick des Jesuiten.
„Unser aller Gott, der Herr, wird eine gute Jagd für uns haben.“ Tatsächlich sind viele Tiere am frühen Morgen durch die nächtliche Kälte erstarrt und zu langsam in ihrer Flucht.
Eines Morgens sind sie wieder alle zum Jagen aufgebrochen. Obwohl es zum ersten Mal heftig geschneit hat und die Bäume sich unter der weißen Last biegen, laufen auch die Frauen und die beiden Kinder mit den Jägern. Selbst der Novize hat sich angeschlossen. Er ist stark und geschickt mit Pfeil und Bogen. Vor einigen Tagen hat er einen anrennenden Keiler mit dem kurzen Jagdmesser niedergestochen. Seitdem behandeln ihn die Indianer nicht mehr mit der üblichen Geringschätzigkeit. Der Jesuit bleibt als Einziger zurück und nützt die Einsamkeit für ein ausgiebiges Gebet zu seinem Herrn, denn er spürt, dass sie ihrem Ziel nun nicht mehr fern sind.
Die Eindringlinge bemerkt er erst, als es fast zu spät ist und man durch die Sträucher bereits ihre bemalten Leiber und Gesichter sehen kann. Instinktiv wirft er sich zu Boden, bleibt regungslos liegen und hält den Atem an. Trotz der eisigen Kälte bricht ihm der Schweiß aus.
Schließlich kriecht er soweit er kann, fort von der noch züngelnden Feuerstelle, bleibt dann liegen, erschöpft, gegen die kalte Erde gepresst und zu Gott flehend, sie mögen ihn nicht entdeckt haben. Erst viele Minuten später wagt er sich zu drehen, bleibt dabei jedoch dicht über dem Boden. Schließlich, getarnt durch dichtes Gestrüpp, sieht er sie. Es müssen Huronen sein, denn sie gleichen exakt den Beschreibungen. Sie sind größer als seine Begleiter und von etwas dunklerer Hautfarbe. Ihre grelle Bemalung macht ihm klar, dass sie nicht in friedlicher Absicht gekommen sind. Er versucht ihre Zahl zu bestimmen und schätzt sie schließlich auf über zwanzig. Es sind ausschließlich Krieger, das ist an ihrem Schmuck und ihrer Bemalung zu erkennen. Ihre Oberarme sind nackt, trotz der Kälte.
Sie beginnen, nachdem sie das Lager ausgiebig inspiziert und alles Wertvolle an sich genommen haben, Deckung zu suchen, ganz offensichtlich in Vorbereitung eines Überraschungsangriffs auf diejenigen, die diese Feuerstelle hergerichtet haben. Fieberhaft überlegt der Priester, wie er die Rückkehrer warnen könnte. Doch es gibt keine Chance. Er selbst hat Glück, dass sie ihn noch immer nicht entdeckt haben, zumal zwei von ihnen sich in seiner unmittelbaren Nähe hinter dichtem Gestrüpp niederkauern. Still betet er zu Gott, fleht um seinen allmächtigen Schutz, zuerst für die anderen und dann auch für sich. Obwohl er sich in der Hand des Herrn weiß, schnüren Angst und Panik ihm die Kehle zu. Sein Herz will zerspringen, und er muss kämpfen, nicht zu wimmern oder unter sich zu lassen.
Wenig später kommen die Jäger zurück. Sie lassen keine besondere Vorsicht walten, ahnen mit keinem ihrer so gut entwickelten Sinne die drohende Gefahr. Der Angriff trifft sie unvorbereitet, und nach wenigen Minuten ist der aussichtslose Kampf vorbei. Die Hauptfrau des Anführers fällt als erste zu Boden. Ein Pfeil fährt ihr von der Seite durch den Hals, bildet ein Kreuz mit ihrem Kopf, ihrem Leib und ihren Schultern. Schreiend bricht sie zusammen. Das Gesicht verzerrt in Schmerz und Todesangst, liegt sie hilflos auf dem Rücken. Die anderen werden bis auf einige wenige, die man zu Gefangenen nimmt, niedergemacht. Auch der Novize stirbt. Ein Speer durchbohrt ihm die Brust noch bevor er das Messer am Gürtel berührt hat. Alles ist blitzschnell gegangen.
Die Kinder haben sie nicht sofort getötet. Sie klammern sich an den Vater, der gefesselt auf dem Boden sitzt. Man reißt sie an den Haaren weg von ihm. In diesem Moment beginnt er zu singen, ein heidnisches Lied in hohen fremden Tönen, dessen Stakkato sich an den umliegenden Hügeln bricht oder auf der dunklen Fläche des nahen Flusses lautlos verhallt. Er steigert sich. Mehr und immer mehr. In ihm ist eine ungeheure Kraft, die ihn fortträgt in ein Land, wohin ihm niemand folgen kann. Sein Gesang erstirbt nicht, als sie seinen Kindern das Messer an die Kehle setzen, und auch dann nicht, als sie wenig später mit durchschnittener Kehle vor ihm im Schnee verbluten wie frisch gejagtes Wild.
Die Frau im Todeskampf hat das Sterben ihrer Kinder gesehen und versucht mit äußerster Kraft sich aufzurichten, um zu ihnen hin zu kriechen. Doch sie ist längst zu schwach. Wie ein böses fremdes Wesen frisst sich das Blut der Kinder durch den Schnee hin zu ihr, und ihr Entsetzen und ihre Verzweiflung steigen ins Unermessliche.
Der Priester hat in seinem Versteck alles mit angesehen. Plötzlich, von einem Moment auf den anderen, verlässt ihn seine Furcht, als sei ein starker, schwerer Vogel, der eben noch schmerzhaft in seine Schulter gekrallt war, zurück in den Himmel geflogen.
Er verlässt die sichere Deckung. Ohne Eile und ohne die Mörder zu achten, die für einen Moment überrascht zurückweichen, geht er aufrecht zu der Sterbenden. Er kniet neben ihr nieder. Als seien sie beide allein auf der Welt, bettet er ihren Kopf auf seinen Mantel und streicht über ihre Wange. Er hat kein Weihwasser aus einem goldenen Becken. Mit Schnee, der in seiner Hand schmilzt, zeichnet er das Kreuz auf ihrer Stirn, segnet sie und gibt ihr das heilige Sakrament.
Während der kalte Wind durch die dürren Äste fegt und die Feinde, gestützt auf ihre blutigen Waffen, ungläubig auf die Szene starren, empfiehlt er sie mit tröstenden, liebevollen Worten der Gnade des allmächtigen, gütigen Gottes. Die sterbende Frau, eine Wilde, die Mond und Sonne anbetet, sieht ihn an. Angst und Entsetzen weichen aus den aufgerissenen Augen. Sie lächelt, ein freies, erlöstes Lächeln, und mit einem Ausdruck tiefen Glücks auf ihren Zügen stirbt sie. Neben ihr kniet der Priester im Schnee, und sein Gebet dankt dem Herrn für seine Gnade. Für einen kurzen Moment ist vollkommene Stille, als sei all das Schreckliche zu Eis geronnen, um so auf ewig zu verharren.
Die furchtbaren bemalten Krieger springen auf den Priester zu, packen ihn.
*
Bekker setzte sich schweißgebadet im Bett auf. Fast fühlte er die harten Hände, die an seinen Armen zerrten.
Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor drei Uhr nachts. Er legte sich zurück und dachte nach. Vor seinen Augen waren die Landschaft, die Sonne, der endlose Horizont. Auf seiner Haut der eisige Wind. An Schlaf war nicht zu denken, sein Herz pochte. Je mehr er nachdachte, desto klarer wurde ihm, was ihn so aufwühlte.
Bekker war Romantiker und er glaubte an die Vorsehung. Für ihn hatten jedes Leben einen entscheidenden Moment, ein Finale, das wie ein Brennglas alles Stattgehabte auf einen einzigen Punkt konzentriert. Das Auf und Ab, die Freuden, Spannungen und Mühseligkeiten waren der Weg dorthin. Nicht mehr, nicht weniger. Für diesen Jesuiten in der Wildnis Nordamerikas, viele tausend Meilen von der Heimat entfernt, waren die Tröstung und Segnung einer sterbenden Heidin dieses Ziel. Dafür hatte er gelebt, ohne es je zu wissen, nicht einmal in seiner qualvollen Todesstunde. Aber Gott hatte es so gefügt und ihn dafür einen langen, beschwerlichen Weg gehen lassen. Die Menschen sollten wissen, dass er, Gott, allen gehörte. Bekker war davon zutiefst überzeugt.
Er drehte sich zur Seite. Auf einmal fühlte er sich erleichtert, als hätte man alle Last von ihm genommen. Das Leben war kompliziert, aber schön. So schön.