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5. Kapitel Universitätsklinik

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„Notfall... bei den Nussknackern... privat!“, schrie Zerres über den Flur und versuchte damit das Getöse von herumlaufenden Patienten, Schwestern, Besuchern und umher geschobenen Betten zu übertönen. Bekker, Oberarzt und zuständig für die Neurochirurgie, nickte zum Zeichen, dass er verstanden habe.

„Fangen Sie schon mal an und nehmen sie einen von den AiPlern dazu. Peters müsste frei sein. Muss eben kurz zum Chef rein und komme sofort nach.“ Er öffnete eine Tür, ohne eine Antwort abzuwarten, und verschwand. Zerres machte kehrt und schritt eilig mit wehendem Kittel Richtung Operationstrakt.

‚Mist‘, dachte er, ‚natürlich, immer am Freitagnachmittag. Ich habe seit vierzig Minuten Feierabend, verdammt noch mal. Kann der Bekker nicht gleich in den OP gehen, der Chef kann doch warten, oder strickt er wieder an seiner Karriere – dämliche Wissenschaftsscheiße!‘ Eigentlich mochte er Bekker. Der machte zwar genauso Karriere wie der Rest der habilitationsgeilen Bagage, aber nicht auf dem Rücken von anderen. Außerdem war er zwar für die Neurochirurgen zuständig, hatte aber ebenso wenig Bereitschaftsdienst wie er. Wenn er schlau war, würde er sich schnellstmöglich den diensthabenden Oberarzt herbei pfeifen.

Zerres war angefunkt worden, als er auf dem Weg zu seinem Schrank in der anästhesiologischen Umkleide gewesen war. Normalerweise wurde nach sechzehn Uhr der erste Hausdienst alarmiert, aber der schien anderweitig festzustehen, offenbar bei den Herzchirurgen mit einer Notmaschine. Die bekamen den Hals auch nie voll. Gut möglich, dass der diensthabende Oberarzt dort auch feststand, dann war Bekker gekniffen. Erst einmal aber hatte es Zerres als einen der Neuroanästhesisten getroffen.

Zerres war nichthabilitierter Altassistent mit mehr als fünfzehn Jahren Anästhesieerfahrung, ausschließlich an der Uni. Dadurch kannte er so ziemlich alles, was die operative Medizin zu bieten hatte, von der kombinierten Herz-Lungen-Transplantation bis zum Sechshundert-Gramm-Frühgeborenen mit angeborenem Herzfehler.

Er zog die grüne OP-Kleidung an und verstaute seine weißen Sachen im Schrank. Wertsachen nahm er mit – es kam viel weg in letzter Zeit, auch aus doppelt gesicherten Schränken. Er betrat den Flur, der bogenförmig die ersten zwölf Operationssäle umspannte. Von hier gelangte man in den jeweiligen Einleitungsraum, wo die Patienten vom Anästhesisten für die Operation vorbereitet, im Jargon ‘verrohrt‘ wurden. Die leitende Anästhesieschwester, eine aufgetakelte Kunstblondine undefinierbaren Alters, kam ihm entgegen.

„Saal sechs“, sagte sie kurz, „junger Patient mit Ruptur gefährdetem Aneurysma. Scheint schon zu bluten, jedenfalls geht’s dem echt dreckig. Seine Eminenz ist auch schon da. Wünsche viel Vergnügen.“

Sie rauschte davon. Der Operateur war demnach bereits vor Ort, und zwar der Chef der neurochirurgischen Klinik persönlich. Zerres fluchte innerlich. Auch das noch. Kritischer Patient und ungeduldiger Operateur, der Albtraum eines jeden Anästhesisten, vor allem wenn der Operateur Professor Dr. med. Dr. h.c. mult. Ernst Brücher hieß. Nach Zerres Meinung, und damit stand er nicht alleine, war Brücher ein cholerischer Menschenschinder und Überbleibsel einer Medizinepoche, in der Klinikchefs absolute Macht besaßen, außerhalb jeglicher Kritik standen und außerhalb des Rechts sowieso. Patienten und Klinik waren für sie persönliches Eigentum, das sie nach Gutsherrenart verwalteten. Mitarbeiter wurden systematisch ausgepresst und bis aufs Blut drangsaliert. Für tausende geleistete Überstunden erhielten sie von Ihrem Chef, dessen Millionen zum großen Teil von ihnen verdient worden waren, nichts! Zum Jahresende gab es einen warmen Händedruck und eine schwülstige Belobigung. Eine Weihnachtsfeier, wenn’s hoch kam, natürlich von einer Firma gesponsert.

Brücher war bereits sechsundsechzig Jahre alt. Als weltweit anerkannte Kapazität seines Fachgebiets verfügte er über beste politische Verbindungen in nah und fern, und keiner hatte es bisher gewagt, ihm die Emeritierung, was hieß, den Rücktritt als Chef der Klinik und als Inhaber des neurochirurgischen Lehrstuhls anzutragen, obwohl er diskrete Zeichen beginnender Senilität aufwies. Sein Dienstvertrag war ohne Umstände von fünfundsechzig auf achtundsechzig Lebensjahre verlängert worden, gegen den Trend.

Operateure haben durch die Art ihrer Tätigkeit einen höheren Verschleiß, als dies für konservative Fachgebiete zutrifft. Das liegt zum einen an der enormen körperlichen Belastung. Zum anderen muss sich ein Chirurg, wie kein anderer Arzt, unmittelbar mit Fehlschlägen und Misserfolgen auseinandersetzen. Starke Persönlichkeiten wachsen daran. Andere versuchen den Druck abzuwälzen. Aus einem latenten Gefühl der Ohnmacht entstehen je nach Charakter und familiärer Prägung des Einzelnen, Resignation oder Aggression, mit der Folge permanenten Machtmissbrauchs, unterstützt und gefördert durch ein inkompetentes, devotes Umfeld.

Die kommunalen und konfessionellen Kliniken begrenzten die Chefarztverträge in den operativen Fachgebieten schon lange auf ein maximales Dienstalter von zweiundsechzig Jahren. Doch an den Universitäten tickten die Uhren anders. Hier blühten Günstlings- und Vetternwirtschaft wie in der Politik, von der letztendlich alle wesentlichen Entscheidungen kamen.

Zerres schlüpfte in den Vorbereitungsraum. Der Patient war auf dem OP-Tisch gelagert. Heike, die zuständige Anästhesieschwester, hatte bereits eine Infusion sowie EKG und Pulsoxymetrie zur Messung der arteriellen Sauerstoffsättigung angelegt.

‚Braves Mädel‘, dachte Zerres. Der Patient, ein athletischer Mann in den Dreißigern, blickte an die Decke und stöhnte leise.

„Guten Tag“, ein Blick auf das Deckblatt der Karteikarte, „Herr Menzel. Mein Name ist Zerres. Ich bin Facharzt für Anästhesie und werde gleich mit der Narkose beginnen. Dr. Bekker, der Oberarzt kommt in wenigen Augenblicken nach und wird sie dann weiter betreuen. Sie wurden schon von einem Anästhesisten aufgeklärt, und haben eine Einwilligung unterschrieben, nehme ich an?“ Das war eine rhetorische Frage. Zerres hatte die Karteikarte durchgesehen und festgestellt, dass der Patient bereits seit mehreren Stunden im Haus war.

„Nein, glaube nicht“, ächzte der Patient, „muss das denn sein? Sorry, aber ich habe verfluchte Schmerzen!“ Zerres war dicht vor einem Wutanfall, beherrschte sich aber.

„Sag mal, Heike“, er wendete sich der Schwester zu, „wann ist der Patient eigentlich zur OP angemeldet worden?“

„Gar nicht. Den haben sie ohne Anmeldung von der Station in den OP gekarrt. Die OP-Leute hatten auch keine Ahnung.“ In diesem Moment betrat ein weiterer grün gekittelter Mensch den Vorbereitungsraum. Es war Dr. Weiss, einer der jüngeren neurochirurgischen Oberärzte, der sofort Geschäftigkeit verbreitete.

„Geht’s denn voran?“ fragte er ohne jede Begrüßung. Zerres kochte innerlich, blieb aber ruhig.

„La rue, die Ruhe, l’avenue, die große Ruhe“, sagte er, „nachdem ihr Euch einen ganzen Tag Zeit für die Diagnose genommen habt, wird doch noch ein halbes Stündchen für die Aufklärung und die Vorbereitung des Patienten übrig sein, gell?“

„Das wird der Chef aber gar nicht gerne hören.“ Weiss hatte einen falschen, süßlichen Tonfall. Er sagte ‚der Chef‘, als spräche er vom Herrn aller Reußen.

„Welchen Chef meinen Sie?“ fragte Zerres mit gespielter Ahnungslosigkeit, „ich glaube, es gibt im Klinikum mindestens dreißig solcher Spezies.“ Er hatte begonnen, die nötigsten Befunde aus den Patientenunterlagen in das Narkoseprotokoll zu übertragen und es für den Patienten zur Unterschrift vorzubereiten.

„Wir sind hier in der Neurochirurgie, Herr Zerres“, Weiss wurde förmlich, „und hier gibt es nur einen Chef. Können sie nun bitte meine Frage beantworten. Schließlich ist das hier eine dringliche Indikation“, er senkte die Stimme und trat näher, „Rupturgefahr. Was das heißt, wissen Sie doch – oder?“ Zerres war es leid. Er straffte sich und trat dicht an den anderen heran, wobei er darauf achtete, dem Patienten den Rücken zuzudrehen. Die Hände hatte er zu Fäusten geballt.

„Hör zu, Du Arschkriecher, ich hab’ schon Patienten mit intrakraniellem Aneurysma betreut, als Du das erste Mal einen hochgekriegt und Dir bei den Nutten im Stadtwald von Mammi‘s Taschengeld regelmäßig einen Tripper geholt hast. Ihr habt einen halben verfluchten Tag mit den üblichen überflüssigen diagnostischen Spielchen vertan, damit für die nächsten Kongresse auch genug aktuelle Angios und CT-Bilder vorhanden sind. Der OP hatte bis vor zehn Minuten keine Ahnung von einem dringlichen Eingriff. Dein Chef, der es plötzlich so eilig hat, war über Mittag mehr als zwei Stunden bei seinen Rotariern. Ich hab’ ihn selbst vom Hof fahren sehen. Und jetzt bricht plötzlich die große Hektik aus.“ Lauter, förmlich, „Verlassen Sie“, offensichtlich hatte er sich wieder im Griff, „sofort den anästhesiologischen Vorbereitungsraum, oder...“, erneut in Rage, gepresst, leise, „es gibt was auf die Fresse!“

Das meinte er wörtlich, das wusste jeder, denn Zerres war berüchtigt für seine Wutanfälle, die vor keinem Titel haltmachten, wenn er sich im Recht fühlte. Man hatte ihn deswegen bereits einmal abgemahnt, aber Professor Fritsche, der Leiter der anästhesiologischen Klinik, hielt seine schützende Hand über ihn. Er schätzte Zerres als hervorragenden Anästhesisten und tadellosen Arzt, und schließlich konnte es nach seiner persönlichen Einschätzung nie völlig falsch sein, einem Chirurgen gelegentlich Schläge anzubieten. Das würde er natürlich niemals laut sagen, er war Diplomat. Weiss verließ den Raum, nicht ohne etwas Unverständliches vor sich hin zu murmeln.

„Ich gehe vor Zeugen davon aus, dass sie mit den notwendigen anästhesiologischen Maßnahmen einverstanden sind, dazu gehören auch das Legen von Kathetern in Venen und Arterien sowie gegebenenfalls die Transfusion von Fremdblut und seinen Bestandteilen. Sollten Sie eine detaillierte Risikoaufklärung wünschen, nicken sie bitte.“ Zerres hatte sich mit gedämpfter Lautstärke erneut dem Patienten zugewandt, der versuchte den Kopf zu schütteln. Auf Zerres Frage antwortete er nicht. Statt dessen fragte er mit gepresster Stimme,

„Hatten Sie vorhin Bekker gesagte? Der Oberarzt Dr. Peter Bekker?“

„Ja“, sagte Zerres, „kennen Sie ihn?" ,,Unser Schmuckstück“, fügte er launig hinzu. Der Patient versuchte zu nicken, stöhnte aber nur.

‚Dem Jungen geht’s wirklich schlecht‘, dachte Zerres, ‚wie kann man einen solchen Patienten nur so lange liegenlassen? Verdammt, was ist das für ein Scheißbetrieb hier.‘ Er entschloss sich ohne weitere Formalitäten anzufangen, nahm die Maske des Beatmungsgerätes in die Hand, hielt sie dicht über das Gesicht des Patienten und blickte zu der Schwester, die mehrere bis zum Anschlag aufgezogene und mit verschiedenfarbigen Etiketten beklebte Injektionsspritzen wie einen Blumenstrauß in der Hand hielt. Sie sah ihn an und wartete auf das Kommando zur Narkoseeinleitung. Er drehte den Sauerstoffregler auf. Die Maske war jetzt ganz dicht über Mund und Nase des Patienten, und am Gerät zeigten sich die typischen Kurven eines normalen Atemzyklus: Atemwegsdruck, Atemzugvolumen, Sauerstoff- und Kohlendioxydkonzentration in Ein- und Ausatemluft. Zerres beugte sich zum Ohr des Patienten und gab der Schwester ein Zeichen, mit der intravenösen Applikation zu beginnen. Seine Stimme hatte einen weichen Klang, als er flüsterte:

„Wir helfen Ihnen jetzt. Die Schmerzen sind gleich vorbei. Haben Sie keine Angst, es wird alles gut. Bald sind sie wieder der Alte.“ Das war gelogen, was Zerres nicht ahnen konnte.

Das Hospital

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