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11. Kapitel Universitätsklinik
Оглавление„Wo soll’s denn hingehen?“ Der Taxifahrer hatte sich halb zu dem verschwitzten Mann umgedreht, der im Fond seines Wagen Platz genommen hatte und seit einer Minute vor sich hin stierte, ohne etwas zu sagen. Bekker schrak auf, als wäre er gerade aufgewacht.
„Ach ja, Entschuldigung. Bitte zur Universitätsklinik. Haupteingang Chirurgie. Clemensstraße, na, Sie wissen schon, oder?“ Der Fahrer hatte sich bereits umgedreht und den Anlasser betätigt. Natürlich wusste er, wo die Chirurgie der Unikliniken war. Seine Schwiegermutter wurde dort seit mehreren Wochen behandelt. Darmkrebs. Sah nicht gut aus, was die Ärzte so sagten.
„Ist was passiert?“ gab er sich leutselig. Der Mann auf dem Rücksitz seines Wagens machte einen verstörten Eindruck, und er versuchte, ihn ein bisschen aufzumuntern. Wahrscheinlich ein Unfall in der Familie. Der sah aus, als käme er gerade vom Sportplatz oder einem Gartenfest mit Kindern.
Bekker sagte nichts, da er nicht hingehört hatte. Er war mit sich selbst beschäftigt, hatte angefangen nachzudenken. Er saß jetzt also im Taxi auf dem Weg zur Klinik. In weniger als zehn Minuten würden sie da sein. Und dann? Würde er in das Gebäude stürmen, Excalibur aus der Scheide reißen und eine feurige Spur der Vergeltung durch die hohen Gänge des altehrwürdigen Gebäudes ziehen? Würde er persönlich die zweifelsohne lebensrettende Operation beginnen, unterstützt nur von einer treuen Nonne, die als einzige zu ihm hielt?
Er lächelte. Die verrücktesten Assoziationen kamen ihm in den Sinn, und die Gedanken schlugen in seiner aufgewühlten Seele Purzelbäume. Ja, tatsächlich, was genau wollte er eigentlich hier? Er hatte keine Ahnung. Ihm wurde klar, dass er keinerlei Rechte besaß und viel wichtiger, dass er von den nächtlichen Ereignissen eigentlich gar keine Kenntnis haben konnte. Tanakas Auskünfte, sein verzweifelter Anruf waren vertraulich gewesen, absolut vertraulich. Offiziell ging es dem Patienten Jürgen Menzel blendend. Was also wollte er hier? Wenn er für seinen Freund etwas tun wollte, musste er überlegt vorgehen. Ein Eklat nützte niemandem. Im Gegenteil, man würde ihn in die Schranken weisen, möglicherweise suspendieren. Fritsche würde ihm in keinem Fall den Rücken stärken, würde es nicht können, nicht wollen. Unter solchen Umständen.
Welchen Umständen eigentlich? Je näher sie der Klinik kamen, desto deutlicher wurde er sich der Tatsache bewusst, dass er keinerlei Plan hatte, auf keinerlei Eventualitäten vorbereitet war. Er begann seine Gedanken zu ordnen. Tanakas Beurteilung der medizinischen Fakten stand für ihn außerhalb jeden Zweifels. Daran musste er jetzt keinen einzigen Gedanken verschwenden. Dem Japaner war der Anruf schwer genug gefallen. Er hatte sich aus Gewissensgründen dazu entschlossen. Als exzellenter Fachmann wusste er genau, wovon er sprach. Möglicherweise hatte er als Folge seines inneren Widerstreits sogar noch untertrieben.
Bekker sah auf die Uhr. Die Zeit raste. Er musste sich als erstes einen Überblick verschaffen. Vielleicht war ja inzwischen bereits etwas geschehen. Ihm fiel ein, dass Müller heute Dienst hatte. Der würde bei einer solchen Situation in keinem Fall tatenlos zusehen, das war vollkommen ausgeschlossen. Müller hatte sich in jeder Beziehung von seinem Chef abgenabelt und war auf dem Sprung eine leitende Position an einer anderen Klinik zu übernehmen. Mehrere Universitäten buhlten derzeit um ihn. Er brauchte Brücher nicht und würde keine Rücksicht nehmen. Eine solche Fehlentscheidung und alles, was daraus für die Beteiligten erwachsen konnte, würde er nicht mittragen.
Bekker grübelte. Normalerweise wechselten die Oberärzte ihren Bereitschaftsdienst am Wochenende gegen zehn Uhr morgens. Tanakas Anruf aber war erst gegen Mittag erfolgt. Also war Müller gar nicht im Dienst. Hatte vielleicht ein Tausch stattgefunden, womöglich auf Brüchers Betreiben hin? Oder hatte er den Dienstplan der Neurochirurgie nicht richtig im Kopf? Wäre Müller seit vormittags im Dienst, wäre längst etwas passiert. Da fiel ihm ein, dass Tanaka ausdrücklich erwähnt hatte, Müller sei im Dienst, allerdings ab nachmittags. Warum erst nachmittags? Das war ungewöhnlich. Bekker schüttelte den Kopf. Es würde eine ganz banale Ursache haben. Er sah schon Gespenster. Es hieß jetzt kühlen Kopf bewahren.
Das Taxi hielt vor dem Haupteingang. Bekker fasste in die Hosentasche. Verdammt, die falsche Hose. Er hatte gar kein Geld dabei. Dies waren seine alten Schmuddel-, Kinder-, Reise-Jeans. Heiß geliebt, eingerissen und immer wieder geflickt. Das Geld war in seiner Lederjacke, und die mit Birte und den Kindern auf dem Weg nach Rom.
„Moment“, an den Fahrer gewendet, „ich hole eben Geld. Bin einfach losgerannt, als ich erfahren habe...“, er sprach nicht weiter und ließ den Fahrer in der romantischen Illusion, es handele sich um einen plötzlichen, spannenden Notfall. War es ja eigentlich auch. Der Fahrer nickte verständnisvoll und griff zur Zeitung auf dem Beifahrersitz, um zu warten. Bekker rannte die steinerne Zufahrt zur Eingangstür hoch. Gott sei Dank, Pfleiderer, einer von den jüngeren Pförtnern, hatte Dienst. Den konnte er problemlos anpumpen.
Pfleiderer verwickelte ihn gelegentlich in Fachgespräche. Entweder hatte er gerade etwas in der Zeitung gelesen, oder in seiner Familie gab es einen nach seiner Meinung rätselhaften Krankheitsfall. Bekker war immer freundlich und interessiert, womit er seinem Gesprächspartner das Gefühl gab, ernstgenommen zu werden. So machte er es eigentlich immer. Er war so erzogen, und es entsprach seinem Naturell. Eigentlich liebte er alle Menschen, nur für seine eigene Familie reichte es nicht.
„Aber Herr Doktor, wie sehn denn Sie aus! Ich denke, Sie sind im Urlaub.“ Pfleiderer sah auf den vor ihm liegenden Plan, der stets die aktuellen diensthabenden Ärzte des Gesamtklinikums auswies, ihre Pipernummern, privaten Telefonnummern und seit neuestem auch ihre Urlaubszeiten, zumindest für die in leitender Funktion. Was das sollte, wusste niemand so recht. Der Dekan hatte es eines Tages angeordnet und forcierte auf diese Weise, zumindest indirekt, den allgemeinen Unersetzlichkeitswahn. Für Bekker war es überflüssige Wichtigtuerei. Dabei reflektierte er nicht, dass er selbst ein maßgebliches Element dieses Irrsinns war.
„Hab’ ein Taxi warten“, murmelte er hastig, ohne auf die Frage einzugehen, während Pfleiderer schon die Geldbörse zückte. Er war derartige Ansinnen gewohnt. Die Herren Doktores vergaßen so allerlei, und nicht immer ging es um Geld. Pfleiderer war gerne hilfreich. Eine Hand wäscht die andere. Bekker zahlte das Taxi mit einem Riesentrinkgeld, weil er auf das Wechselgeld nicht warten wollte. Als er zurück in die Klinik hastete, musterte er mit einem Blick den ‚Prominenten-Parkplatz‘, wie die Klinikangehörigen die reservierten Stellplätze direkt neben dem Eingang nannten und wo Klinikleiter und diensthabende Oberärzte ihre Wagen bequem abstellen konnten. Es standen nur wenige Autos auf ihrem Platz. Zwei erkannte er sofort. Sie gehörten Fritsche und Brücher. Auf dem Platz für den neurochirurgischen Oberarzt stand ein nagelneues T-Modell. Das war ganz sicher nicht Weiss’ Auto, denn der fuhr einen gebrauchten 911er, darüber hatten sie sich kürzlich erst unterhalten. Also musste es Müllers Wagen sein. Gott gebe, dass er es ist, ging es Bekker in diesem Moment durch den Kopf, während er die Tür erneut aufstieß.
„Ich zahl’s morgen zurück“, rief er dem Pförtner im Vorbeigehen zu und nahm ihm damit die Chance, ein Gespräch zu eröffnen. Auf halber Treppe blieb er für einen Moment stehen. Es war wenig Publikumsverkehr, die Besuchszeit war lange vorbei. Bekker steckte das verschwitzte T-Shirt in die Hose und versuchte mit den Fingern, so gut es ging, die Haare zu ordnen. Den Schlüssel zu seinem Büro hatte er natürlich auch nicht, ebenso wenig den zu seinem Haus. Das war jetzt egal, entschied er. Was machten Fritsche und Brücher hier? War das Zufall? Er dachte nicht weiter darüber nach, wusste, dass er eh nicht mehr zurück konnte.
Er öffnete vorsichtig die Tür zur neurochirurgischen Intensivstation. Der Flur war leer. Aus dem Stationszimmer klangen Stimmen, ruhige, unaufgeregte Stimmen. Sie mischten sich mit den vertrauten Geräuschen rhythmisch schnaufender Beatmungsgeräte. Wie ein Einbrecher schlich Bekker auf Zehenspitzen zu Jürgen Menzels Zimmer und trat ein. Das Bett war leer und frisch bezogen. Bekker machte auf dem Absatz kehrt und stand im nächsten Augenblick im Stationszimmer. Die Besatzung der Intensivstation bestand heute lediglich aus einer examinierten Krankenschwester, Martina Zech, sowie zwei Schülerinnen und einem Studenten im Praktischen Jahr. Man hatte sich gerade gemütlich zum Essen niedergelassen. Der Tisch stand voll mit allerlei Aufschnitt, Tomaten und Gurken. Ein großer Korb quoll über mit Semmeln und geschnittenem Brot.
„Wo ist der Patient?“ fragte Bekker entgeistert in die Runde. Er lehnte sich gegen den Türrahmen, hatte plötzlich weiche Knie. Lieber Gott, Nein!
„Welcher Patient, Herr Oberarzt?“ fragte Martina Zech, nicht weniger entgeistert. Sie war eine dralle Rothaarige in den späten Dreißigern, geschieden, kinderlos. Nicht hässlich, nicht hübsch, irgendwo dazwischen, immer perfekt geschminkt, die Fingernägel meist schrill lackiert. Vielen erschienen vor allem diese langen, sorgfältig lackierten Fingernägel widersinnig, bei der Knochenarbeit auf einer Intensivstation.
Bekker hatte sich oft gefragt, wie sie es schaffte, die Patienten aus der Scheiße zu ziehen, zu waschen und neu zu betten, ohne dass ihr Outfit oder Ihre Frisur etwas abbekamen. Aber sie war tüchtig, und Bekker mochte sie deswegen und respektierte sie. Als Frau interessierte sie ihn wenig, auch wenn er nach wie vor gerne ein freundliches Auge auf einen hübschen weiblichen Hintern legte. Aber sie war nicht sein Typ. Bekker stand nicht auf Frauen mit dicken Oberarmen, die im Bett schrien und schwitzten. Martina Zech starrte Bekker immer noch an, auf den Lippen viele Fragen, die sie jedoch nicht aussprach. Sie hatte heute Ihren ersten Tag im Dienst nach einer Freiwoche und war über die nächtlichen Ereignisse nicht im Detail informiert. Vor allem nicht über die besondere Beziehung des anästhesiologischen Oberarztes Dr. Bekker zu dem neurochirurgischen Patienten Jürgen Menzel.
„Menzel“, stieß Bekker hervor, „Jürgen Menzel, Box drei, Hirnblutung nach Kraniotomie, gestern.“
„Ach so“, gedehnt, „der Patient vom Chef.“ Martina Zech betonte diesen Sachverhalt mit dem typischen Unterton, der Patienten in unterschiedliche Besitzkategorien einteilt. So wie man sagen würde, ‚Warum interessieren Sie sich für dieses Auto? Das gehört doch dem Scheich von Kuwait.‘ Es war eine Art subalterner Arroganz, mit der im Rahmen der täglichen Machtspiele innerhalb des Klinikums klargestellt wurde, wer wo was zu sagen und zu bestimmen hatte. Vor allem aber, wem ein bestimmter Patient ‘gehörte‘.
Tatsächlich fiel dieser Begriff permanent, wörtlich oder sinngemäß. Dieser Patient gehört den Herzchirurgen, oder er gehört den Unfallchirurgen oder Onkologen und so weiter. Dies war eine Feststellung, oft genug eine Warnung, von dem Kranken die Finger zu lassen, es sei denn, man wurde ausdrücklich aufgefordert, eine Meinung abzugeben. Auf den einzelnen Fall zugeschnittene Sachkompetenz war oft genug zweitrangig innerhalb dieses bizarren Gefüges aus Anspruchsdenken, Ignoranz und Größenwahn. Nicht selten landeten Patienten aufgrund ihrer eigenen Unkenntnis oder durch blanken Zufall in einer Fachabteilung, die für das eigentliche Grundleiden in keiner Weise kompetent war. Machte nichts. Der Patient ‘gehörte‘ der Klinik, die ihn, aus welchen Gründen auch immer, als erstes in die Finger bekam. Der Bauchchirurg operierte die Gefäßanomalie ‘seines‘ Patienten mal eben mit, der Urologe entfernte die Gallenblase auf seinem Weg zur Prostata, und manch ein Patient staunte, dass offensichtlich nicht nur die Ärzte im Fernsehen Spezialisten für alles waren.
Ein ‘Patient vom Chef‘ war die maximale Steigerung des Besitzanspruches, eine Art Unberührbarer, nur zugänglich speziell autorisierten Personen, ‘denen mit den geweihten Händen‘, wie Bekker das gerne spöttisch nannte. Ein Privatpatient wurde Spezialisten anderer Fachrichtungen nur in größter Not vorgestellt und an andere Kliniken bestenfalls unter Waffengewalt abgegeben, oder wenn der Patient ausdrücklich darauf bestand, was man in der Regel durch geschickte Manipulation seiner Ängste zu verhindern wusste.
Bekker starrte verständnislos auf die Schwester, die sich, ohne weitere Erläuterungen, erneut ihrem Brunch zugewendet hatte, offenbar in der felsenfesten Überzeugung, der so unwillkommen Hereingeplatzte sei nun ausreichend informiert und würde seiner Wege gehen, ohne den gemütlichen Brunch weiter zu stören. Bekker fühlte, wie ihm der Kamm schwoll. Er ging neben der rothaarigen Schwester in die Knie, so dass er ihr von unten ins Gesicht blickte. Er war kreideweiß, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
„Hör zu, Mausi,“ sagte er, ohne die Stimme zu heben, „ich habe eine freundliche Frage gestellt und ich will nicht mehr als eine Antwort, freundlich oder unverschämt, das ist mit so egal wie der Kuh der Sonntag, nur eine Antwort. Wo ist mein Freund Jürgen Menzel? Seit gestern Patient auf dieser verdammten Station. Du kennst doch deine Patienten“, immer noch flüsterte er, so dass die beiden anderen kaum etwas verstanden, „oder wird erst diniert und dann werden die Patienten versorgt? Nach dem Nachtisch, und wenn nichts Wichtigeres ansteht?“ Er stand auf, und im selben Moment bereute er, was er gesagt hatte. Er fuhr sich durch die Haare und war wieder der unstete Junge in seinem verschwitzten Freizeitoutfit, voller Sorge um seinen besten Freund. Martina Zech war über und über rot geworden, und für einen Moment hatte es ihr die Sprache verschlagen, was nicht häufig vorkam. Sie holte tief Luft, aber Bekker kam ihr zuvor.
„Tut mir leid“, murmelte er, und fasste sie an der Schulter, als wolle er verhindern, dass sie wie eine Furie aufsprang, „verflucht nochmal, tut mir leid! Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Irgendwie ein bisschen viel seit gestern.“ Er griff sich einen freien Stuhl und setzte sich, die Wand zum Flur unmittelbar im Rücken. „Hab’ gerade meinen Urlaub geschmissen, weil“, er brach ab. Er dachte plötzlich an Birte und die Kinder. Für einen Moment musste er gegen die Verzweiflung kämpfen, die ihn überkommen wollte. Er schwieg, und es ließ nach. Was ging das alles die Leute an? Wen interessierte es, wie er sich fühlte? Auch die Pose des Staatsanwaltes stand ihm nicht zu, etwa, ‚Ich stehe hier, weil der Patient Jürgen Menzel offensichtlich Opfer eines Behandlungsfehlers geworden ist‘. Statt dessen hob er die Schultern und murmelte,
„Na ja, der Jürgen und ich, wir sind schon zusammen in die Schule gegangen“, und beinahe trotzig, „Ich kann doch nicht einfach in Urlaub fahren, und er liegt hier...“ Wieder beendete er seinen Satz nicht. Er sprach nicht zu den Anwesenden, sondern zu seiner Familie weit weg im Flieger nach Rom, aber das wusste hier natürlich keiner.
„Ich bin einfach in Sorge“, ergänzte er schließlich vage und fügte schnell hinzu, „Die Familie des Patienten auch.“
„Die Familie sitzt bereits seit mehr als einer Stunde im Zimmer vom Chef“, sagte die Schwester spitz, wobei sie ‘Familie‘ betonte. Offensichtlich hatte sie ihre Sprache wiedergefunden.
„Die Frau“, ergänzte sie schließlich, und machte Bekker klar, dass seine Rolle als Anwalt der Angehörigen nicht verfing. Dennoch wurde ihr Ton freundlicher. Sie hatte nichts gegen Bekker. Er war von den ungezählten Oberärzten auf der universitären Überholspur einer der ganz wenigen, die bei ihr nicht unter der Rubrik ‚skrupelloses, karrieregeiles Arschloch‘ abgelegt waren. Er war wirklich der Letzte, mit dem sie Streit haben wollte, auch wenn sie nicht verstand, worüber er sich so aufregte.
„Ihr Freund ist im OP“, sagte sie kurz, „schon seit mehr als zwei Stunden. Wegen einer Nachblutung. Hatte wohl ziemlich viel Druck in der Birne. Oberarzt Müller operiert ihn. Der Chef war nur am Anfang ein paar Minuten drin. Seitdem kümmert er sich um die trauernde Witwe.“ Sie konnte sich diese neuerliche Spitze nicht verkneifen, schwieg aber sofort, denn sie sah Bekker an, sah sein Entsetzen und seine Angst. Der letzte Rest von Wut verflog. Statt dessen überkam sie eine warme Welle von Sympathie mit diesem verrückten Kerl in seinen abgerissenen Jeans und dem verschwitzten T-Shirt, der wegen seines Freundes offenbar den lang geplanten Urlaub hatte sausen lassen und Hals über Kopf in die Klinik zurückgekehrt war. Seine Familie war sicher begeistert von dieser Entscheidung. Jeder in der Klinik wusste, dass Bekker ein extremer Workaholic und selten zu Hause war. Wahrscheinlich riskierte er gerade seine Ehe. Martina Zech stand auf und fasste Bekkers Arm in einer plötzlichen Geste.
„Mensch, Bekker“, sagte sie leise, „stay cool, baby.“ Sie strich wie unabsichtlich über seinen Rücken. „Sie sind im neurochirurgischen Bereich im Zentral-OP“, sagte sie, „Ihr Chef ist, glaube ich, höchstpersönlich dabei.“
„Danke“, sagte Bekker. In der Tür drehte er sich noch einmal verlegen um, „Tut mir leid, ehrlich.“ Damit war er weg.
Als Bekker die Personalschleuse zum zentralen Operationstrakt betrat, stieß er beinahe mit seinem Chef, Professor Fritsche, zusammen, der den Raum soeben verlassen wollte.
„Ach nee, der Herr Bekker!“ Fritsches Ton war wenig freundlich. Es klang, als habe er einerseits Bekkers Erscheinen erwartet und sei andererseits verärgert darüber, dass er nun tatsächlich aufgetaucht war.
„Was machen Sie denn hier, Sie Unglücksrabe? Reicht es denn nicht, was sie bisher angerichtet haben? Warum sind sie, verdammt noch mal, nicht in den Urlaub gefahren? Bis zu Ihrer Rückkehr hätte ich hier sicher alles geregelt gehabt.“ Bekker reichte seinem Chef verlegen die Hand.
„Hallo, Herr Fritsche.“ Er stockte, weil er nicht recht wusste, was er sagen sollte. Musste er sich tatsächlich dafür rechtfertigen, dass er in seiner freien Zeit, sogar in seinem Urlaub, nach einem Patienten sah? Und was sollte das heißen, ‚Was Sie angerichtet haben?’ Was hatte er angerichtet? Was gab es ‚zu regeln‘? Bekker hatte in seiner Sorge um den Freund alles verdrängt, was in den letzten vierundzwanzig Stunden vorgefallen war.
Langsam dämmerte es ihm. Er hatte wohl für einigen Aufruhr gesorgt. Hatte die ehernen Gesetze einer deutschen Universitätsklinik missachtet. Er dachte nicht lange darüber nach und hatte weniger denn je Interesse daran, ausgerechnet jetzt politische Sachverhalte zu diskutieren. Der große neurochirurgische Guru war verärgert. Na und? Bekker konnte sich beim besten Willen nichts vorwerfen. Für sein Verhalten gab es vielmehr gute Gründe. Warum machte sein eigener Chef eine solche Welle und wandte sich gegen ihn? Fritsche war selbst kein Klosterschüler und würde das alles sehr gut verstehen, wenn er ihm die ganze Geschichte erzählt hatte. Aber dafür war jetzt wirklich keine Zeit. Bekker versuchte seine Ungeduld zu zügeln, brachte aber nur ein lahmes,
„Ach wirklich?“ hervor, und dann, ungeduldig,
„Wie geht es dem Jürgen? Ich meine dem Patienten, dem Herrn Menzel?“ Es kostete ihn Mühe, Ruhe zu bewahren. Am liebsten hätte er geschrien und Fritsche an den Schultern gefasst und ihn geschüttelt.
„Es war eine Nachblutung, sagen Sie schon. Das war heute Nacht schon klar. Ich bin ein solcher Idiot. Wäre ich bloß nicht nach Hause gefahren. Die haben mich gelinkt, Brücher vorne dran. Warum haben die das getan? Ich versteh’s einfach nicht. Wirklich, ich würde jedes vernünftige Argument akzeptieren.“ Bekker holte tief Luft und versuchte seine Emotionen zu zügeln. Es waren Fragen und Suggestionen zugleich, und sie richteten sich in verzweifelter Hoffnung an den Älteren, Erfahreneren, der wissen musste, wie die Sache stand.
„Gott sei Dank, dass Müller heute Dienst hat.“ Er brach unvermittelt ab, da er das konsternierte Gesicht seines Gegenübers registriert hatte. Fritsche hatte mit zunehmendem Ärger zugehört. Als er antwortete, ging er mit keinem Wort auf Bekkers Unterstellungen und Fragen ein, erwähnte auch den Patienten nicht mit einer Silbe.
„Jetzt hören Sie einmal zu, Sie verbohrter Mensch. Wissen Sie eigentlich, was hier los ist? Glauben Sie, Brücher und ich sind an einem Samstag im OP, weil’s uns zu Hause langweilig ist? Oder weil wir uns für unersetzlich halten, wie gewisse andere Leute in ihrer maßlosen Selbstüberschätzung? Zur Notfallversorgung außerhalb der Dienstzeiten gibt es in beiden Kliniken glücklicherweise kompetente und vernünftige Oberärzte.“ Er betonte das Wort ‘vernünftig‘ so unmissverständlich, dass Bekker sofort begriff, dass er selbst nach Fritsches Einschätzung dieser besonderen Spezies nicht angehörte. Er stand äußerlich geduldig vor seinem Vorgesetzen, obwohl es ihn mit jeder Faser danach drängte, sich vor Ort vom Stand der Dinge zu überzeugen. Doch Fritsches helle, kalte Augen hatten ihn da festgenagelt, wo er stand.
„Gut, Herr Bekker, da Sie nun schon einmal hier sind, offenbar in der festen Überzeugung, ohne Sie ginge es nicht weiter in dieser Klinik, gehen Sie in den OP und stellen Sie fest, dass alles regelrecht verläuft und der Patient optimal versorgt wird.“ Fritsche hob die Stimme. Er straffte sich ein wenig, und sein Blick ging in einer Geste eindeutiger Missbilligung an Bekker vorbei.
„Das wäre übrigens auch ohne ihren peinlichen Auftritt heute Nacht, auf einer fremden Station“, er wiederholte, als müsse er sichergehen, dass Bekker ihn auch verstand, „auf einer fremden Station!, so vor sich gegangen. Ganz nach den klassischen Regeln der Versorgung von neurochirurgischen Patienten. Neurochirurgische Patienten!“ Erneut wiederholte er sich mit Nachdruck.
„Der diensthabende Oberarzt, Herr Schaum, macht die Narkose. Ich darf Sie bitten, seine Anordnungen zu respektieren, auch wenn der Patient Ihr Freund ist. Sie sind offiziell im Urlaub und wären normalerweise gar nicht hier. Vergessen Sie das bitte nicht. Das Ganze wird für uns alle, vor allem aber für Sie, ein Nachspiel haben, soviel muss selbst Ihnen klar sein. Ich werde heute noch lange im Büro sein. Bitte kommen Sie nachher zu mir hinein, vorausgesetzt, Sie haben nichts Dringenderes vor.“ Das war ätzende Ironie, aber Fritsches Miene ließ keinen Zweifel, dass er Bekker zum Rapport erwartete. Er verließ die Umkleide ohne ein weiteres Wort.
Bekker atmete auf, erleichtert, als die Tür sich endlich hinter dem anderen geschlossen hatte. Er zog in größter Hast grüne OP-Wäsche an, und ließ seine eigene Kleidung achtlos an einem der Haken zurück, die für Besucher angebracht waren. Keiner nahm von ihm Notiz, als er so geräuschlos wie irgend möglich die Schiebetür zum neurochirurgischen OP öffnete, wobei er bewusst auf die Betätigung der elektrischen Automatik verzichtete, da er das unbestimmte Gefühl hatte, nicht willkommen zu sein. Lediglich die Anästhesieschwester bemerkte ihn, aber er legte einen Zeigefinger auf den Mund, und so sagte sie nichts, sondern wendete sich wieder dem Patienten zu.
Professor Schaum, der diensthabende Anästhesist und leitende Oberarzt der anästhesiologischen Klinik, stand mit dem Rücken zu ihm am Fußende des Patienten, wo das Beatmungsgerät und das gesamte Monitoring aufgebaut waren. Den Patienten konnte man nicht erkennen, denn er war komplett mit sterilen Tüchern abgedeckt. Der Brustkorb hob und senkte sich darunter im stetigen, eintönigen Rhythmus des Beatmungsgerätes.
Bekker stellte sich einige Schritte seitlich von der Tür an die Wand des großen Raumes, bemüht, weiterhin unbemerkt zu bleiben. Von seinem Standort hatte er einen vagen Blick auf das Operationsfeld, allerdings nur dann, wenn der Operateur sich nach der Seite wendete, um von der instrumentierenden Schwester etwas entgegenzunehmen oder ein Instrument zurückzureichen. Ansonsten sah er wenig. Allerdings spürte er die allgemeine Anspannung. Müller operierte mit einem der neurochirurgischen Assistenten, ein junger Mann, den Bekker nicht kannte. Das Reservoir des Saugers war fast voll. Das waren etwa dreieinhalb Liter. Allerdings wurde bei derartigen Operationen viel mit Kochsalzlösung gespült, um dem Operateur eine einwandfreie Sicht auf das Operationsfeld zu gewähren. Bekker erkannte in dem großen Glasgefäß etliche Blutgerinnsel mit der typischen schwärzlichen Marmorierung alten Blutes, das der Operateur beim Öffnen des Schädels offenbar ausgeräumt hatte.
Er ließ den Blick ziellos durch den Raum schweifen und begann in Ruhe, die Details zusammenzufügen. Er hatte Zeit, konnte im Moment nicht das geringste tun. Wenn Martina Zech sich nicht vertan hatte, dann dauerte die Operation bereits mehr als zwei Stunden. Das war für eine Revision verdammt lang. Schließlich musste der Schädel nicht mehr auf gesägt werden. Eine arterielle Blutung spritzte und war schnell zu finden. Dann die Blutstillung mit ein paar Nähten oder durch Verkochen von Gefäßstümpfen, und das war’s dann schon. Alles in allem dauerte so etwas bei einem erfahrenen Operateur wie Müller eine dreiviertel Stunde. Maximal! Die Operation aber war zweifellos noch längst nicht zu Ende. Das Gehirn lag offen, und selbst aus seiner Position konnte Bekker erkennen, dass sich auf der Oberfläche immer wieder frisches Blut sammelte. Langsam aber stetig. Dunkles venöses Blut. Auch das noch. Der Druck in den Venen reicht gerade aus, dass Blut aus einem verletzten Gefäß herausläuft. Es ist daher schwierig die Blutungsquelle zu finden, besonders in der Tiefe und ganz besonders am Gehirn. Man konnte nicht, wie bei einem offenen Bauch, einfach ein paar Organe zur Seite räumen. Müller war also in echten Schwierigkeiten.
Für Bekker bestand kein Zweifel mehr. Durch eine arterielle Blutung nach der ersten Operation war der Patient viele Stunden lang zunehmend einem erhöhten Hirndruck ausgesetzt. Schließlich der viel zu spät erfolgte Entlastungseingriff mit Verletzung von Hirngewebe bei tiefer venöser Blutung. Das überstand niemand ohne bleibende Schäden. Das konnte man drehen und wenden wie man wollte. Sein Freund Jürgen Menzel, die Sportskanone, der Schwarm aller Frauen, würde einen schwerwiegenden Hirnschaden davontragen. Durchaus möglich, dass er als sabbernder Krüppel endete, der zeitlebens auf fremde Hilfe angewiesen war.
Bekker versuchte, sich auf das aktuelle Geschehen zu konzentrieren. Es half nichts, sich jetzt mit der Zukunft verrückt zu machen. Jürgen Menzel benötigte eine optimale Betreuung, wenigstens jetzt, nachdem so vieles bereits versäumt worden war. Aber was half das alles noch? Sie alle, Müller, das Anästhesieteam und er standen am Ende der Kette. Das Gesetz des Handelns lag nicht mehr bei ihnen. Der aktuelle Zustand des Patienten diktierte das Geschehen. Er, Bekker, das wurde ihm nun schmerzlich bewusst, konnte gar nichts tun. Seine Chance etwas für den Freund zu tun, seine Unversehrtheit zu retten war dagewesen. Heute Nacht hatte er sie gehabt, die Chance, aber er hatte versagt, hatte den Freund, den besten den er je hatte, im Stich gelassen. Er hätte die Intensivstation nicht verlassen dürfen, er hätte nicht nach Hause fahren dürfen. Er erinnerte sich genau an das ungute Gefühl letzte Nacht.
‚Lieber Gott, warum hab’ ich das getan‘, dachte Bekker. Er hatte es geahnt, ganz tief im Innern. Aber er hatte sich einlullen lassen. Einlullen lassen wollen, weil es ihn nach Hause zog. Und aus Bequemlichkeit. Birte, die Kinder, der Urlaub. Ärger hatte er vermeiden wollen. Ärger, den er nun doch hatte – reichlich. Spätestens morgens, als er von den nächtlichen Ereignissen erfahren hatte, dass die Operation abgeblasen worden war, es dem Patienten angeblich blendend ging, obwohl er noch beatmet war, da hätte er reagieren müssen. Müssen! So etwas gab es nicht. Aber erneut hatte er sich willfährig belügen lassen. Wieder aus Bequemlichkeit. Er war schuldig. Er hatte den Freund verraten. Er war ein beschissener, feiger Opportunist und unterschied sich in nichts von denen, die er verachtete.