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3. Kapitel
Städtisches Klinikum

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„Der Chef ist da!“ Es war fünf Uhr fünfzig. Bekker stand in grüner OP-Kleidung auf dem Flur der Intensivstation und ließ wie jeden Morgen den Blick über Schränke und Boxenwände streifen, während er auf den diensthabenden Arzt wartete. Kein Fleck, keine schiefe Tür würden ihm entgehen.

„Guten Morgen, Herr Professor.“ Melanie Müller, Assistentin im dritten Ausbildungsjahr, trat ihm stets mit einem Anflug von Erröten entgegen. Sie roch frisch geduscht, was Bekker als angenehm empfand. Er gab ihr die Hand, verlor aber keine Begrüßungsfloskeln. Aus der Umkleide kam eine junge Frau mit kurzen blonden Haaren, ebenfalls in OP-Kleidung. Sie war offensichtlich sehr schlank, denn das grüne Oberteil warf Falten und hing auf einer Seite über ihre Schulter, sodass der Träger eines weißen BHs sichtbar wurde. Sie hatte ein puppenhaftes, dezent geschminktes Gesicht mit einer kleinen aufwärts gerichteten Nase, um die sich reichlich hellbraune Sommersprossen versammelt hatten.

„Entschuldigen Sie, Herr Professor, ich bin leider zu spät“, sagte sie und reichte Bekker eine schmale, kühle Hand.

„Zu spät wofür?“ fragte er belustigt zurück, denn er konnte sie nicht einordnen, hielt ihre Hand aber ein bisschen länger fest als nötig.

„Oh Verzeihung“, sie wurde rot. ‚Süß‘, dachte Bekker. „Mein Name ist Stefanie Kahle. Ich bin Studentin im Praktischen Jahr mit Wahlfach Anästhesie. Ich hatte mich noch nicht vorgestellt. Sie waren Freitag nicht da, und ...“.

„Kein Problem“, sagte Bekker. Er legte keinen Wert auf Formalitäten. „Schön, wenn die Anästhesie mit so hübschen Menschen aufgefrischt wird.“ Im selben Moment wurde er sich seiner Taktlosigkeit gegenüber der anderen jungen Frau bewusst, „wie sie beide“, ergänzte er schnell. Die Müller warf ihm einen schrägen Blick zu. Sie war alles andere als eine Schönheit. Eher etwas bott, wie man hier gerne sagte, um stabile Staturen freundlich zu umschreiben. Dennoch war sie eine interessante Erscheinung mit einem slawischen Gesicht, das von langen, glatten schwarzen Haaren eingerahmt wurde und das ein großer roter Mund dominierte. Bekker fand sie sexy. Jetzt legte er freundlich den Arm um ihre Schulter, um sie in die Richtung der ersten Patientenbox zu dirigieren.

„Also Melanie, dann woll’n wir mal.“ Das war keine Vertraulichkeit; es hieß soviel wie ‚Wir ziehen an einem Strang. Ich steh’ nur zufällig hier. Du bist genauso wichtig.‘

„Die Kollegin hat heute ihren ersten Tag in der Anästhesie, also wollen wir es ihr nicht so schwer machen, oder?“ Normalerweise schätzte Bekker den exakten, knappen, klar strukturierten Vortrag. Alle Mitarbeiter wussten das, und die Diensthabenden bereiteten die Visite entsprechend vor. Jetzt hieß es, Umschalten auf Unterrichtsstil.

Melanie Müller war genervt. Sie hatte gehofft, die Visite mit dem Chef schnell abzuwickeln, damit sie mit den Schwestern der Nachtschicht noch gemütlich frühstücken konnte. Jetzt musste sie für dieses dürre Huhn lange Erklärungen abgeben. Bekkers Blick beim Auftauchen der Studentin war ihr nicht entgangen.

„Patient Seeger“, startete sie lustlos, „männlich“ – ‚ach nee‘, dachte Bekker belustigt –, „dreiundsechzig Jahre, Zustand nach abdominellem Aortenaneurysma bis in die Leisten, erster postoperativer Tag nach Anlage eine Y-Prothese auf die beiden Iliacae. Wissen sie, worum es geht?“ Sie hatte sich der Studentin barsch zugewendet, doch plötzlich lächelte sie. Es half ja nichts. Man konnte die jungen Leute nicht immer wie Falschgeld behandeln. Jeder hatte mal angefangen und war dann über vernünftige Erklärungen und Erläuterungen froh gewesen. Letztlich profitierten die Patienten davon.

„Nicht genau“, kam die zögerliche Erwiderung. Die Assistentin blickte zu Bekker, der kurz nickte.

„Der Patient leidet seit Jahren an einer zunehmenden Erweiterung der Bauchschlagader, Aorta. Diese Aussackung nennt man Aneurysma. Irgendeine Idee, wie so etwas entsteht?“ Bekker schmunzelte; das war eine exakte Kopie seines Stils. Er hielt nichts vom Dozieren und Belehren, sondern gestaltete seinen Studentenunterricht stets als Frage-und-Antwort-Spiel.

Der Mensch behält nur das im Gedächtnis, was er sich selbst erarbeitet hat; jedenfalls war das Bekkers Meinung.

„Na ja, zum Beispiel bei Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Nikotingenusskommt es zu degenerativen Veränderungen der Gefäße. Ein Aneurysma entsteht über Jahre als eine Aussackung mit dünnen Wänden, an denen zunehmend Kalk und Gerinnsel abgelagert werden.“

„Stimmt genau“, Melanie Müller nickte anerkennend und fuhr fort.

„Risikofaktoren bei diesem Patienten sind Bluthochdruck, seit zwanzig Jahren bekannt, mehr oder weniger adäquat eingestellt bei mäßiger Compliance des Patienten, Nikotin seit über fünfundvierzig Jahren, mehr als zwanzig Zigaretten täglich – gibt er zu.“ Zu Deutsch hieß das, es sind wesentlich mehr.

„Ansonsten das Übliche, wie bei allen Gefäßwracks.“ Das war nun sehr salopp, was Bekker gar nicht schätzte, aber er ließ es durchgehen.

„Fein“, sagte Bekker. ‚Bis hier‘, hieß das, aber auch, ‚Okay ‘. Klar war, dass nun der akute Verlauf gefragt war.

„Intraoperativ einige Male eingeschränkte Pumpleistung des Herzens, vor allem während des zentralen Clampings“, sie unterbrach wegen des fragenden Blicks der Studentin. „Clamping, zu Deutsch Klemmen, ist das Abklemmen der Aorta oberhalb des Aneurysmas, also zwischen Herz und der krankhaften Gefäßerweiterung. Dadurch erhöht sich der Widerstand, den das Herz überwinden muss, um Blut in die untere Körperhälfte zu befördern.“ Mit Blick auf die Studentin, „Ist denn während des Abklemmens überhaupt noch eine Durchblutung nach unten zu erwarten?“

„Es gibt normalerweise genügend Umgehungskreisläufe über kollaterale Gefäße“, kam die prompte Antwort, „wenn die jedoch auch sehr stark verkalkt sind, ist das wohl problematisch.“

„Das ist absolut richtig“, sagte Bekker, „was ist mit dem Rückenmark? Kann das durch eine abdominelle Abklemmung geschädigt werden?“ Die Studentin schwieg. Melanie Müller blickte gelangweilt geradeaus, als mokiere sie sich über die Banalität der Frage. Tatsächlich grübelte sie fieberhaft und hoffte, dass ihr Chef die Diskussion nicht an sie weitergeben würde. Bekker las ihre Gedanken und tat nichts dergleichen. Auch darin unterschied er sich deutlich von vielen Chefarztkollegen.

„Es gibt eine Arterie, die ganz oben aus der Aorta kommt und wesentliche Anteile des Rückenmarks versorgt. Das ist die Arteria radicularis magna, genannt nach ihrem Entdecker ‘Adamkiewiczsche Arterie‘; komplizierter Name.“ Bekker legte großen Wert auf eine Ausbildung ‘über den Tellerrand‘, wie er das nannte.

„So gesehen besteht keine Gefahr fürs Rückenmark. Es gibt jedoch eine Variabilität der Arterie, sehr selten zwar aber extrem relevant. In weniger als 1% der Fälle entspringt sie unterhalb der Nierenarterien, so dass durch ein abdominelles Clamping ihre Blutzufuhr unterbrochen wird. Was hat das für Konsequenzen, Mädels – na?“ Die Frage war rhetorisch.

„Querschnitt“, sagten die beiden jungen Frauen beinahe gleichzeitig und Bekker nickte.

‚Danke, Chef‘, dachte die Assistentin, ‚bist doch kein übler Kerl.‘ Bekker hatte einmal eine Zeitlang ein Auge auf sie geworfen, aber es war nichts passiert, was nicht an ihr gelegen hatte.

„Ich glaube, wir müssen ein wenig zulegen. Bitte Frau Kollegin“, er schaute Melanie Müller freundlich an. Sie beschrieb knapp und so einfach wie möglich den nächtlichen Verlauf und dass die Beatmung vor etwa zwei Stunden beendet werden konnte.

„Patient ist neurologisch o.B.; er ist müde, aber geordnet, zeitlich und örtlich orientiert. Schmerztherapie über thorakalen Periduralkatheter.“ ‚Mein Gott, nicht schon wieder‘, dachte sie im gleichen Moment, ‚hätte ich doch den dämlichen Katheter nicht erwähnt‘, aber Bekker war heute nicht zu bremsen. "Periduralkatheter?"

„Katheter, der in die Nähe des Rückenmarks gelegt wird, um so Schmerzen zu bekämpfen“, kam die Antwort von der Studentin.

Die Assistentin verdrehte die Augen. Der Chef würde jetzt doch wohl nicht noch erklären, wie man diesen verdammten Katheter legte. Das konnte das Mausi sich nun wirklich im OP ansehen, wo es alle naslang stattfand. Bekker las erneut ihre Gedanken und wandte sich der Studentin zu.

„Ich habe gleich einen Patienten mit einem ausgedehnten abdominellen Eingriff, Krebs der Bauchspeicheldrüse. Dem lege ich vor der Narkoseeinleitung einen Periduralkatheter. Kommen Sie nachher mit hinein, dann zeige ich’s Ihnen. Vorher lesen Sie im Pschyrembel nach, was eine Whipplesche Operation ist, darum geht’s nämlich – okay?“

‚Die neue Favoritin‘, dachte die Assistentin mit einem Anflug von Häme, aber auch ein wenig Eifersucht. Doch das war ungerecht, und sie wusste es. Natürlich hatte Bekker eine Schwäche für attraktive junge Frauen, aber weder bevorzugte noch bedrängte er sie. Intelligenz und die Fähigkeit, Zusammenhänge logisch zu entwickeln, waren für ihn ebenso wichtig wie ein angenehmes Äußeres. Die Studentin hatte genickt und schien erfreut. Jedenfalls tat sie so. Melanie Müller schickte sich an, mit weiteren Details fortzufahren, aber Bekker war zufrieden.

Das konnten Laien nicht annähernd ermessen. Da war dieser Patient mit einer Fülle von Risikofaktoren und seinem großen Aortenaneurysma, das unbehandelt über kurz oder lang gerissen wäre mit sekundenschnellem Verbluten. Der operative Eingriff umfasste die Eröffnung des gesamten Bauchraumes mit Durchtrennung des vorderen und hinteren Blatts des Bauchfells und einem mehr als einstündigen Abklemmen der Hauptschlagader, der ‘Nord-Süd-Achse der Blutversorgung‘, wie Bekker das gegenüber seinen Studenten nannte. Und nun lag der Frischoperierte kaum fünfzehn Stunden später in seinem Bett und blinzelte ihn müde, zufrieden und vollkommen schmerzfrei an. Im Lauf des Vormittags würde man ihn bereits auf die Normalstation verlegen, und in zehn Tagen war er zu Hause.

Bekker erinnerte sich noch gut an die Zeit, als Patienten für einen derartigen Eingriff erst gar nicht akzeptiert wurden. Heute waren das Routineeingriffe. Aufwändig zwar, aber dennoch Routine, und die moderne Anästhesie mit ihren ausgefeilten Möglichkeiten der Überwachung und Kreislauftherapie, der Schmerzbekämpfung und der Intensivmedizin, hatte ganz maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklung.

Auch wenn Bekker die moderne Medizin in vielen Bereichen äußerst kritisch sah, erkannte er auch ihren Segen. Ein solcher Verlauf erfüllte ihn stets aufs Neue mit Freude und Dankbarkeit. Hier waren sie, die wirklich wichtigen Fortschritte der klinischen Medizin – leider wurde viel zu wenig darüber geredet, sodass es nicht ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangte. Wurden Organe - möglichst viele gleichzeitig - transplantiert, waren die Medien außer Rand und Band. Ob langfristig auch nur ein Patient solche Prozeduren überlebte und wenn ja, wie es mit ihm weiterging interessierte niemanden. Von einer vernünftigen Analyse der Kosten-Nutzen-Relation ganz zu schweigen. Wenn aber Überlebenschance und Lebensqualität einer ganzen Bevölkerungsgruppe nachhaltig gebessert wurde, krähte kein Hahn danach.

Bekker benetzte seine Hände mit Alkohol aus einem der zahlreichen Wandspender, trat ans Bett und schlug die Decke zurück. Vorsichtig tastete er auf den Bauch neben dem Verband. „Bin ganz vorsichtig“, murmelte er. Alles war weich, keinerlei Abwehrspannung – einwandfrei. Der Patient öffnete die Augen und lächelte schief.

„Guten Morgen, Herr Professor, Sie schlafen wohl nie?“ Bekker errötete ein wenig, ging aber nicht darauf ein. Er hielt nichts von der Heroisierung des Arztberufes, der ewigen Mär vom nimmermüden Doktor. Er wusste es besser und hatte überdies von manchen seiner Kollegen und sich selbst eine viel zu schlechte Meinung.

Er deckte den Patienten ordentlich zu, fasste unter der Decke an die beiden Knöchel und nickte zufrieden, „beide warm und schlank.“ Martina Müller erwartete seine übliche Floskel über die Fesseln von Frauen und Pferden, aber diesmal kam nichts.

„Darmgeräusche?“ fragte Bekker. Die Assistentin schüttelte den Kopf.

„Na ja, noch ein bisschen früh“, meinte er.

*

Bekker war ein Spätentwickler. Auf dem Gymnasium hatte er zwei Klassen wiederholt. Mit Zwanzig machte er Abitur. Da die Durchschnittsnote für das Medizinstudium bei weitem nicht ausreichte, schrieb er sich in der Tiermedizin ein, die damals ohne Numerus clausus auskam. Mit dem ernsthaften Studieren hatte er es ohnehin nicht eilig. Bekker war Außenstürmer eines Eishockeyteams in der ersten Liga und Mitglied der Nationalmannschaft und fürs Studieren viel zu beschäftigt. Er war ein schneller und rücksichtsloser Spieler. Seine Reaktion und seine Spielübersicht waren phänomenal. Sein großer Traum, die Teilnahme am olympischen Turnier, erfüllte sich nicht, da er sich während der Vorbereitung verletzte und zu Hause bleiben musste. Mitten im sportlichen Erfolg und immerhin bereits fünfundzwanzig Jahre alt, beendete er seine sportliche Karriere von einem Tag auf den anderen und begann wenig später mit dem Medizinstudium.

Von nun an hatte er es eilig. Nach genau zehn Jahren war Bekker Facharzt für Anästhesie und bald darauf Oberarzt an einer Universitätsklinik. Er fand daran nichts Besonderes. Kaum war ein gestecktes Ziel erreicht, trieb ihn die Ungeduld zu weiteren Ufern. Permanent war er auf der Suche nach dem besonderen Kick, fand ihn aber nie. Hatte er früher das sorglose Leben eines verwöhnten Jungen wohlhabender Eltern geführt, so war er nun rastlos, schlaflos und für sein privates Umfeld anstrengend.

Viele Jahre hatte er keine feste Freundin – er hielt sich selbst für bindungsunfähig und gefiel sich darin. Er liebte die Frauen, traute ihnen aber nicht, so wie sie ihm nicht trauen konnten. Die Kontakte zum weiblichen Geschlecht waren daher auf das Notwendige beschränkt, bei hoher Frequenz und einem latenten Gefühl des Verdrusses, das er nicht einzuordnen wusste. Nähe ließ er nicht zu; er hasste es, wenn Frauen bei ihm übernachten wollten oder ihn nicht aus ihrem Bett ließen.

Bei Kollegen und Mitarbeitern indes war er überwiegend wohlgelitten. Als Kind aus gutem Hause hatte er tadellose Manieren und war ohne jeden Dünkel, weshalb ihn vor allem die einfachen Leute liebten. An der Uni galt er als Exot, denn er war ein nobler Charakter. Bei der Feier zu seinem fünfunddreißigsten Geburtstag war einer der Kollegen, Dr. Dalal, ein dicker Inder und seit mehr als zehn Jahren Oberarzt der chirurgischen Klinik, plötzlich aufgestanden, um eine Laudatio auf ihn zu halten, die Zunge gelöst von mehreren Gläsern schweren Rotweins.

„Lieber Bekker, bilde Dir nicht ein, dass ich jetzt in die übliche Lobhudelei ausbreche, bloß weil Du auf dem Weg bist, ein alter Knacker zu werden.“ Er nahm einen tiefen Schluck. „Ich will Dir vielmehr endlich einmal sagen, warum Du hier fehl am Platze bist, völlig fehl.“ Er lallte bereits ein wenig, und einige der Gäste tauschten irritierte Blicke aus. „Du befindest Dich, mein lieber Bekker“, alle nannten ihn Bekker, manche kannten nicht einmal seinen Vornamen, obwohl sie ihn duzten, „falls Du es noch nicht bemerkt haben solltest, an einer deutschen Universitätsklinik. Ihr Deutschen seid ja so tüchtig und so gründlich – Prost.“ Wieder trank er. „Und ehrgeizig! Und an so einer Uni geht’s ab, oder? Da wird getrickst und geschoben, dass es nur so kracht. Anwesende sind ausdrücklich nicht gemeint.“ Er wippte auf den Zehenspitzen und ein wenig Rotwein schwappte auf den Teppich.

„Huh, Sorry – ach egal. Also Bekker, was willst Du hier? Du hast an einer Deutschen Universitätsklinik weiß Gott nichts verloren. O ja, Du bist ein toller Hecht und schreibst eine nobelpreisverdächtige Arbeit nach der anderen. Ha, ha, kleiner Scherz. Spaß beiseite, Leute. Ich meine es ernst. All dies unbenommen, fehlen Dir die wirklich wichtigen Eigenschaften für eine deutsche Karriere. Nicht böse sein, liebe Leute. Bin ja nur ein betrunkener alter Indianer.“ Er lachte, und die anderen lachten mit. Das war ‘mal etwas anderes.

„Du bist also an einer Deutschen Universität, um die höheren Weihen zu erfahren. So ist es doch? Aber wie soll das gehen? Du verleumdest keine Kollegen, kriechst dem Chef nicht von morgens bis abends in den Arsch, vögelst keine Schwesternschülerinnen, Hebammen und andere Abhängige, stiehlst und fälschst keine Daten, bescheißt die Verwaltung nicht mit getürkten Überstunden, arbeitest tatsächlich jeden Tag im OP und schreibst auch noch einen Haufen Paper nebenher. Was also, verflucht noch mal, willst Du eigentlich hier? Willst Du uns zeigen, was für Pflaumen wir sind? Oder was für Scheißkerle? Ich habe meine eigene Lösung zu dem Rätsel. Entweder bist Du ein verdammt anständiger Kerl oder ein besonders raffinierter Schuft. Jedenfalls bist Du mein Freund, komm her, laß Dich abknutschen – aber nur wenn ich ein Stück von Deinem Heiligenschein abbekomme.“

Er umarmte den Verdutzten, und die Gäste johlten und trampelten. Bekker war der Auftritt im ersten Moment peinlich. Öffentliches Lob machte ihn verlegen. ‚Wenn Du wüsstest‘, dachte er nur.

Seinen Werdegang trieb er konsequent voran. Er war unpolitisch, unbestechlich und schaffte es, sich aus den üblichen Eifersüchteleien und Ränkespielen des Universitätsbetriebes konsequent herauszuhalten. Er war hilfsbereit, freundlich zu jedem und verabscheute die opportunistischen Emporkömmlinge, die ihm auf Schritt und Tritt begegneten, zutiefst. Wegen seiner unbedingten Zielstrebigkeit galt er als Karrierist, was ihm schmeichelte und lieber war als das Image des sorglosen Müßiggängers aus früheren Tagen. Es passte zu ihm, dass er das Eishockeyspielen, vor nicht langer Zeit noch sein Lebensinhalt, vollkommen aufgegeben hatte. Er schaute sich die Spiele nicht einmal im Fernsehen an. Diese Zeit war vorbei. Basta!

*

Das zweite Boxenbett war mit einer älteren Patientin belegt. Beatmet, tracheotomiert, Bauchlage.

„Frau Speth, zweiundsiebzig Jahre.“ Melanie Müller machte eine kurze Pause, um Bekker die Möglichkeit zu geben, die Vorstellung abzukürzen.

„Ich kenne die Patientin“, sagte der. Die Leidensgeschichte der Frau sollte nicht zum wiederholten Mal in epischer Breite vorgetragen werden.

„Zustand nach Perforation des Dickdarms in Höhe des Sigmas wegen eines bösartigen Tumors. Laparotomie, äh, Eröffnung des Abdomens mit OP nach Hartmann.“

Bekker rümpfte in einer unbestimmten Geste der Missbilligung kaum merklich die Nase, was der Vortragenden verborgen blieb.

„Nach Verlegung auf Normalstation Rückkehr auf Intensiv am siebten Tag mit akutem Bauch. Die Operation kam leider etwas spät – ist aber kein Vorwurf. Die Symptomatik hängt bei alten Menschen ja bekanntermaßen ziemlich nach.“ ‚Brav‘, dachte Bekker belustigt. „Massive kotige Peritonitis. Patientin ist zunehmend septisch und hoch katecholaminpflichtig.“

Bekker war der Verlauf bestens bekannt, denn er war bei der zweiten Operation dabei gewesen und hatte die fünf Liter jauchige Brühe, die aus dem Bauch der Patientin in die Sauger gelaufen waren, noch in der Nase.

„Die Leber tut’s auch nicht mehr lange, sämtliche Syntheseparameter sind pathologisch. Das sieht schlecht aus.“

Was nach einer vorschnellen saloppen Prognose aussah, war nichts weiter als das Resultat logischen Denkens, weshalb Bekker nicht weiter kommentierte. Sie hatte völlig recht. Die Patientin war in seinen Augen bereits mausetot, auch wenn sie noch lebte. Sie lag dort mit ihren Schläuchen und Verbänden, ihrem aufgequollenen Gesicht und diesem unverwechselbaren Verwesungsgeruch als Ergebnis einer Medizin, die Bekker, der das alles schließlich anordnete, im tiefsten Inneren als pervers und unmenschlich empfand. Statt im Kreis von Menschen, die ihr nahestanden, in Würde zu sterben, lag sie hier als vermodertes Kunstprodukt therapeutischen Aberwitzes.

„Aha“, sagte Bekker. Nichts sonst. Obwohl er gern und gut redete, bevorzugte er gelegentlich die schweigsame Variante.

„Das größte Problem bei der Frau aber ist der Bauch, totenstill, maximal gebläht und hart wie Stein. Der ist nicht wirklich saniert. Was wir hier machen ist rein symptomatisch.“ Bekker war vollkommen ihrer Meinung, dennoch fragte er, „Was sagen die Chirurgen?“ Die Frage war rhetorisch.

„Na ja“, die Assistentin neigte den Kopf zur Seite, „die sind natürlich auch nicht glücklich. Aber eine weitere Operation scheidet aus. Technisch unmöglich. Andererseits wollen sie natürlich, dass wir volle Pulle weitermachen. Wahrscheinlich hoffen sie, dass die Lunge endgültig einbricht und wir eine nichtchirurgische Todesursache haben.“

Sie hatte Recht, und dennoch war ihr Urteil vorschnell. Operationen konnten schief gehen, gerade bei Tumorpatienten und gerade am Dickdarm. Andererseits, kein Operateur mit Blut in den Adern gibt gerne einen Patienten auf; mögen die Fakten noch so eindeutig sein.

Sie setzten die Visite fort. Außer einem jungen Mann, der gegen ein Uhr nachts mit einer Messerstichverletzung eingeliefert und sofort operiert worden war, kannte Bekker die restlichen Patienten. Alle Betten waren belegt, und es galt auszuwählen, wer verlegt werden konnte, um Platz zu schaffen für den akuten Tagesbedarf des operativen Betriebes.


Das Hospital

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