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10. Kapitel Universitätsklinik
ОглавлениеBirte und die Kinder saßen schon am Frühstückstisch, als Bekker frisch geduscht und noch im Bademantel dazukam. Der Flur stand voll mit Koffern, Taschen und Tüten.
„Ich glaube, die Kinder wollen ihre ganze Zimmereinrichtung mit in den Urlaub nehmen“, sagte er statt einer Begrüßung und drückte seiner Frau einen angedeuteten Kuss auf die Stirn. Sie sah kurz auf.
„Na, Langschläfer, auch schon da?“ Es war kurz vor halb neun, normalerweise äußerst spät für Bekker. Seine Zeit aufzustehen war selten nach fünf Uhr früh, womit er gelegentlich kokettierte, und nun war es eigentlich bereits ‚mitten am Tag‘.
„Bin immerhin schon gelaufen“, murmelte er, als müsse er sich rechtfertigen. Seinen Morgenlauf ließ er nie ausfallen. Manchmal geriet der etwas kürzer als geplant, aber egal, wie er sich fühlte, wie lang die Nacht gewesen war oder ob er etwas mehr als sonst getrunken hatte, gelaufen wurde immer. ‚Lass’ ich’s einmal ausfallen‘, soviel war ihm klar, ‚hör’ ich irgendwann ganz auf.‘ Und das wollte er auf keinen Fall. ‚Der Mensch soll einmal am Tag schwitzen‘, wer hatte das noch gesagt?
„Ich weiß, liebes Schatzi, in der Zeit habe ich Deinen Koffer gepackt“, entgegnete seine Frau süßsauer, aber ohne wirklichen Vorwurf. Bekker hasste es, Koffer zu packen. Außerdem vergaß er immer etwas. Er setzte sich zwischen die Kinder und langte nach den Semmeln. Birte räumte bereits ihr Besteck und ihren Teller zusammen. Irgendwie hatte Bekker das Gefühl, als habe sie es mit dem Aufbruch besonders eilig, obwohl sie noch viel Zeit hatten. Sie schien sich vor etwas zu fürchten, eine Störung, eine Verzögerung, der sie aus dem Weg gehen wollte. Das war wohl auch der Grund, warum sie sich bisher noch mit keinem Wort nach Jürgen und Ruth erkundigt hatte.
Birte mochte Jürgen sehr gern. Bekker argwöhnte manchmal, dass sie ein wenig in ihn verknallt war. Wenn sie mit ihm tanzte, dann Wange an Wange und ohne dass noch viel dazwischen gepasst hätte. Trotzdem hatte sie nicht gefragt, wie es ihm ging und was überhaupt los war. Als Bekker gegen drei Uhr morgens ins Bett gekommen war, hatte sie fest geschlafen. Aber sie waren gemeinsam aufgewacht und hatten beide noch ein bisschen gedöst, wobei sie auf dem Rücken lag und er auf der Seite, das Gesicht zu ihr gewendet. Dabei schob er eine Hand unter ihren nackten Po, wie er das bei dieser Gelegenheit immer tat, und sie beide liebten es, ohne je darüber zu sprechen. Es war eine zärtliche Geste, mit der er Nähe und Innigkeit suchte, als ob er eine Antenne ausrichtete.
Sie besprachen allerlei Belangloses, während die Kinder durcheinander quasselten und sich ausmalten, was sie am Strand und am ‚Schwimmingpuhl‘ alles anstellen wollten. Zenia war dreieinhalb Jahre alt, Jenny sechs. Sie würde nächstes Jahr in die Schule kommen.
„Sag mal“, fragte Bekker schließlich, „interessiert es Dich überhaupt nicht, was mit Jürgen ist und wie es Ruth geht?“ Birte sah hoch mit einer Mischung aus Schuldbewusstsein und Aggression.
„Ich hatte keinen Moment Sorge, dass Du’s mir verschweigen würdest“, antwortete sie spitz. Ihr Ton und ihr Blick irritierten ihn, und plötzlich fühlte er Empörung,
„Ach, ist ja auch egal“, sagte er mit einer Schärfe, die er im gleichen Moment bedauerte, „sind ja nur unsere besten Freunde. Er wäre fast krepiert, hat zwei Hirnoperationen innerhalb von wenigen Stunden hinter sich und liegt nun verkabelt und beatmet auf der Intensivstation, während seine Frau, die ja angeblich eine Deiner besten Freundinnen ist, sich die Augen ausheult und weder aus noch ein weiß. Aber wir haben natürlich Wichtigeres zu besprechen als solche Banalitäten.
,,Ach verdammt!“ Noch während er sprach tat ihm seine Tirade leid. Birte war aufgestanden und kam um den Tisch herum. Ihr Kinn zitterte und in ihren Augen waren Tränen, als sie neben seinem Stuhl in die Hocke ging und wortlos ihren Kopf in seinen Schoß legte. Das hatte sie schon lange nicht mehr gemacht. Bekker merkte, dass sie weinte und fühlte sich miserabel.
„Ach Birte, Du mein Liebes. Ich hab’s doch gar nicht so gemeint. Ich bin einfach manchmal grässlich. Verzeih mir. Komm, mein Schatz.“ Er hob sie hoch und sie setzte sich auf seinen Schoß. Es tat ihm so furchtbar leid. Sie war immer so lieb und so besorgt. Um die Kinder, um ihn und die Familie, um ihre Freunde. Eigentlich um die ganze Welt. Seine Vorwürfe waren so ungerecht. Wer weiß, was sie im Moment bewegte? Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter, damit er ihre Tränen nicht sieht. „Hör auf“, flüsterte sie undeutlich an seinem Ohr und schniefte dabei, „Du hast ja vollkommen recht. Ich bin so gefühllos, Peter.“ Sie klang bewegt und sehr ernst. Wenn sie ihn Peter nannte, war sie immer ernst. Sonst sagte sie ‚Bekker‘, wie alle anderen auch. Er wollte protestieren, aber sie legte einen Finger auf seinen Mund.
„Das war eine hässliche Bemerkung von mir, überflüssig und doof, saudoof sogar.“ Wieder fing sie an zu schluchzen, weinte schließlich still an seiner Schulter, konnte nicht weitersprechen. Bekker war wie vom Donner gerührt. Was in aller Welt war passiert? Hatte er in seiner grenzenlosen Selbstbezogenheit mal wieder etwas übersehen, irgendwelche Zeichen an der Wand nicht bemerkt? Das hier war jedenfalls nicht der übliche Streit um des Kaisers Bart. Birte hob den Kopf. Ihre Augen waren rot und sagten irgend etwas zu ihm, das er nicht verstand, das ihn aber beunruhigte.
„Ich kenn Dich doch, Peter. Natürlich weiß ich, dass mit Jürgen etwas Schlimmes passiert ist. Auch wenn es selbstsüchtig und schrecklich klingt, aber ich hab’ solche Angst um unsere Reise, und gleichzeitig schäme ich mich dafür in Grund und Boden. Wir waren drei Jahre nicht im Urlaub, sieht man von ein paar hektischen Kongressbesuchen ohne die Kinder einmal ab. Es geht ja auch wirklich nicht darum, dass ich mich in die Sonne legen will, sondern dass wir endlich einmal etwas als Familie gemeinsam unternehmen. Ein bisschen mehr als einmal im Monat in den Zoo gehen. Du kennst doch Deine eigenen Kinder kaum und umgekehrt. Die meisten Patienten haben mehr von Dir als die zwei. Für die bist Du der große Wohltäter mit dem Heiligenschein, für Zenia und Jenny bestenfalls eine Art regelmäßiger Besuch. Aber sie brauchen Dich, Peter. Mehr als alles andere. Schau doch nur, wie fremd und verstohlen sie Dich manchmal angucken.“ Sie traf seinen Nerv und fast hätte er mit geheult.
„Wenn Du ständig darauf aus bist, Verdienste um das Wohl der Menschheit zu erringen, dann fang hier an, bei Deinen Kindern. Wenn sie einmal anständige und freundliche Menschen werden, die andere mit Respekt behandeln, dann ist das eine Leistung, die durch nichts übertroffen wird. Allerdings kriegt man dafür keinen Orden. Verzeih, ich weiß, dass Du darauf nicht aus bist.“
Bekker hatte einen Kloß im Hals. Das Gespräch nahm eine Wendung, auf die er nicht vorbereitet war. Er antwortete nicht, wusste nicht, was er sagen sollte. Birte hatte Recht, tausendmal Recht. Gerade deshalb hatte er das seit langem fällige Grundsatzgespräch immer wieder weggeschoben, so wie er allem auswich, das seine bequeme, heile Welt stören konnte. Aber jetzt war es auf dem Tisch. Nicht gerade zum günstigsten Zeitpunkt, aber welcher Zeitpunkt war denn überhaupt günstig, wenn es um ein Problem ging, dem man inzwischen jahrelang aus dem Weg gegangen war?
„Hör zu, Schatz“, sagte er und nahm ihre Schultern, um sie ein wenig von sich weg zu halten, damit er ihr ins Gesicht sehen konnte. Sie wehrte sich zuerst, ließ es aber dann geschehen und sah ihn an.
„Erst ein Taschentuch“, sagte sie und lächelte ein liebevolles, inniges Lächeln. Bekker liebte sie in diesem Moment wie noch nie zuvor.
„Der perfekte Gentleman hat immer ein sauberes Taschentuch parat.“ Das hatte er doch gerade erst gehört. Sie war bereits dabei, sich zu beruhigen. Aber aufgeschoben war nicht aufgehoben bei ihr. Bekker wusste das. Er setzte erneut an, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. Offensichtlich war sie plötzlich an einer grundsätzlichen Auseinandersetzung nicht mehr interessiert. Zumindest nicht in diesem Moment.
„So, nun erzähl schon, Du Retter der Menschheit.“ Es waren weder Spott noch Sarkasmus in ihrer Stimme. Sie war stolz auf ihn, seine Arbeit und sein enormes Engagement, egal wie oft und wie heftig sie es verfluchte. Bekker erzählte, was sich gestern und in der Nacht zugetragen hatte.
„Die Symptome bestanden bereits seit Wochen. So klassisch wie im Lehrbuch, aber ich Hornochse bin nicht einmal im Traum auf die Idee gekommen. Es ist immer das gleiche. Bei sich selbst, bei Angehörigen und Freunden übersieht man die eindeutigsten Krankheitszeichen, als wäre da eine Sperre, die suggeriert, das kann alles nur bei anderen sein, aber nicht bei uns. Ich denke aber, jetzt ist alles in Ordnung. Heute Nacht, das war eine reine Routinemaßnahme bei einer Komplikation, die halt passiert und die jeder schon ein paarmal erlebt hat. Ist absolut beherrschbar, solange man rechtzeitig reagiert. Na ja, und wir haben’s ja sofort gemerkt.“
‚Du hast es gemerkt‘, dachte Birte, ‚bist mal wieder viel zu bescheiden, mein Lieber‘.
„Ich ruf’ eben noch in der Klinik an, damit ich beruhigt bin. Wir haben ja noch reichlich Zeit bis zum Abflug.“ Birte räkelte sich auf seinem Schoß, und Bekker spürte eine Erektion.
„Na mein Lieber, so beruhigt scheinst Du mir zur Zeit aber gar nicht zu sein.“ Sie rieb sich an ihm, und ihr Morgenmantel verrutschte über ihrem Busen. Bekker legte eine Hand auf ihre Hüfte und griff mit der anderen unter ihr Nachthemd. Birte Bekker hatte große, schwere Brüste. Ein wenig ramponiert von zwei Schwangerschaften mit jeweils ausgiebiger Stillzeit, aber immer noch voll und straff mit runden braunen Höfen, in deren Zentrum sich leicht erregbare, große Nippel befanden, die auch jetzt deutlich Wirkung zeigten.
„Was hältst Du denn von einem schmutzigen kleinen Quickie“, flüsterte er ihr ins Ohr, „meinetwegen in der Besenkammer oder im Fahrradkeller. Ich bin scharf wie ein Rasiermesser. Aua, rück mal ein bisschen zurück, sonst bricht er ab und der Höhepunkt des ganzen schönen Urlaubs ist futsch.“
„Beherrsch Dich Bekker, die Kinder.“ Gott sei Dank, sie nannte ihn nicht mehr Peter. Sie hatte Recht, es ging wirklich nicht. Trotzdem blieb sie noch einen Moment auf ihm sitzen und bewegte die Hüften als Zeichen, wie sehr auch sie ihn in diesem Moment begehrte. Sie küsste ihn tief, voller Inbrunst, wie schon seit langem nicht mehr. Für einen wunderbaren Moment waren sie ganz eins, ohne Probleme, ohne Spannungen, nur sie und ihre Liebe und die tiefe Sympathie, die sie füreinander empfanden, seitdem sie sich kannten. Dann sprang sie ab und ließ ihn mit seinem Ständer sitzen.
„Genug geflirtet, Herr Doktor, die Pflicht, die Pflicht! Du musst im Krankenhaus anrufen.“ Das war nicht aufgesetzt. Sie wusste, dass er anrufen musste und wollte es selbst auch. Er wollte wissen, dass es ihrem Freund Jürgen gut ging und sie beruhigt in den Urlaub fahren konnten. Sie nahm sich vor, Ruth Menzel vom Flughafen aus anzurufen, nachdem das Gepäck verladen und die Bordkarten ausgegeben waren. Die Kinder konnten dann mit ihrem Papa in der Abflughalle auf Entdeckungstour gehen und sie konnte endlich einmal wieder unbeschwert mit einer Freundin ratschen. Sie streckte sich. Was für ein herrlicher Tag! Auf einmal war alles Sonnenschein, und die Zukunft ein schöner, begehrenswerter Traum.
Bekker ging in die Küche, wo ein Wandtelefon hing, um dem Lärm der Kinder im Wohnzimmer zu entgehen. Es war jetzt kurz nach zehn. Tanaka würde sicher noch da sein. Wahrscheinlich befand er sich mitten in der Übergabe an den Kollegen, der ihn im Dienst ablöste. Bekker wählte das Dienstzimmer der neurochirurgischen Intensivstation und hatte direkt Verbindung. Weiss war am Apparat.
„Guten Morgen, Herr Bekker. Gut, dass ich Sie noch sprechen kann. Sie sind ab heute im Urlaub?“ Das war eine Floskel. Der Urlaub des zuständigen anästhesiologischen Oberarztes war allen Neurochirurgen bekannt, selbst Brücher hatte es maulend zur Kenntnis genommen.
„Wir haben in den nächsten Wochen einige besonders wichtige Patienten mit komplizierten Eingriffen. Die Urlaubsplanung mit Herrn Bekker ist nicht so glücklich“, hatte er sich bei Fritsche beschwert, aber der hatte nur mit der Schulter gezuckt.
Patienten und Operationen wurden häufig über Nacht zu Sonderfällen, wenn man damit irgendein Begehren durchzusetzen suchte. Er konnte nicht für jeden Operateur rund um die Uhr dessen Leib-und-Magen-Anästhesisten vorhalten. Die Oberärzte rotierten ohnehin zwischen den verschiedenen Funktionsbereichen, normalerweise im Zweijahresrhythmus. Auf diese Weise konnte sich kein Operateur zu sehr an einen bestimmten Anästhesisten gewöhnen, da er ihn sonst über kurz oder lang als sein persönliches Eigentum betrachtete. Auch wenn die Rotation in erster Linie ausbildungstechnischen Kriterien unterlag, hatte Fritsche diesen Aspekt sehr wohl bedacht.
Wenn Bekker bereits mehr als vier Jahre in der Neurochirurgie zuständig war, musste als Zugeständnis an Brücher, dem man vor seiner Emeritierung keinen Wechsel mehr zumuten mochte, gesehen werden. Fritsche tat das nicht, weil er Brücher mochte. Im Gegenteil, er stand ihm und seiner Leistung als Klinikchef während der letzten Jahre zunehmend kritisch gegenüber, mochte er ihn auch wegen seiner generellen Verdienste für das Fachgebiet und seiner früheren bahnbrechenden Leistungen als Operateur und Wissenschaftler respektieren. Aber das hier war Politik, und die hatte mit Sympathien nicht das Geringste zu tun. Zudem stand Brüchers Anhänglichkeit in krassem Widerspruch zu seiner allgemeinen Geringschätzung gegenüber dem anästhesiologischen Fachgebiet.
Bekker trat ungeduldig von einem Bein aufs andere. Er hatte nicht vor abzuwarten, was Weiss ihm Wichtiges mitzuteilen hätte.
„Herr Weiss, sind sie mir nicht böse, aber ich sitze auf gepackten Koffern, und die Familie ist in den Startlöchern. Die kleinen Chaoten skalpieren mich bestimmt gleich. Sie wissen ja, wie das ist.“ Weiss war Junggeselle und hatte keine Ahnung, wie das ist.
„Ich wollte eben nur hören, wie es mit meinem Bekannten, Herrn Menzel, gegangen ist. War es eine starke Blutung? Gab es Probleme?“
„Das wollte ich Ihnen gerade alles erläutern, wenn sie mich mal zu Wort kommen lassen würden“, sagte Weiss am anderen Ende pikiert. Irgend etwas in seinem Ton ließ Bekker aufhorchen.
„Der Chef“, fuhr Weiss fort, ohne direkt auf Bekkers Fragen einzugehen, „war ziemlich aus dem Häuschen über Ihren nächtlichen Auftritt auf unserer Station. Sie kennen doch die Abmachungen. Das wird sicherlich ein wenig angenehmes Nachspiel haben.“ Er räusperte sich bedeutungsvoll, während Bekker verblüfft schwieg.
„Nun ja“, fuhr Weiss fort, und Bekker spürte überdeutlich, dass der andere sich in seiner Haut nicht wohl fühlte, „dann wissen sie ja offensichtlich nicht, dass Ihre völlig übereilte Staatsaktion heute Nacht abgeblasen wurde.“ Schnell fügte er hinzu, „Auf ausdrückliche Anordnung meines Chefs.“ Schwer zu sagen, ob er der getroffenen Entscheidung damit im Nachhinein das nötige Gewicht geben wollte oder ob er sich stillschweigend davon distanzierte. Weiss mochte ein Opportunist sein, aber das Einmaleins der Neurochirurgie beherrschte er, und ein Dummkopf war er beileibe nicht. Möglicherweise in der Hoffnung, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, ergänzte er noch,
„Die Leitstelle und die Besatzung des NAW’s waren hellauf begeistert.“ Das war nun wirklich das Alleruninteressanteste. Bekker spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten.
„Wollen Sie mir damit sagen, Herr Weiss, dass Sie einen Patienten nach Kraniotomie mit den klassischen Zeichen eines erhöhten Hirndrucks nicht durchs CT gefahren haben, um die eindeutige Symptomatik, die Ihnen Herr Tanaka doch sicher geschildert hat, diagnostisch abzuklären? Sollte es so sein, nennen Sie mir bitte die Gründe für dieses Vorgehen. Wenn ich als Anästhesist mit jahrelanger Erfahrung für Ihren Chef auch nur der Hilfs-Willi bin, so bin ich in jedem Fall durch die Ehefrau des Patienten autorisiert, sämtliche Entscheidungen und Befunde mit den Therapeuten zu diskutieren und jede Auskunft zu fordern, die mir relevant erscheint.“
Daran konnte keiner vorbei. Auch Brücher nicht, und Weiss schon gar nicht. Bekker spürte blanken Zorn; und Panik. Dennoch schluckte er einiges herunter, was er gerne noch angefügt hätte. Es nützte nichts, wenn er Weiss jetzt gegen sich und latent gegen den Patienten aufbrachte. Er benötigte Informationen, genaue Informationen, um zu entscheiden, ob er noch einmal in die Klinik musste oder nicht. Urlaub hin, Urlaub her. Verdammt! Er schaute auf die Uhr. In drei Stunden startete ihr Flieger.
„Der Chef hat sich alles genauestens schildern lassen.“ Bekker entnahm daraus, dass Weiss heute Nacht alles gestoppt hatte, um sich zuerst bei seinem Chef rück zu versichern, den er dafür morgens um drei angerufen hatte.
‚Mein Gott‘, dachte er ‚was hast Du die Hosen voll gehabt.‘ Warum war in dieser Nacht nicht Müller zuständig gewesen? Dann wäre alles längst gelaufen, die Blutung ausgeräumt und der Hirndruck entlastet. Es musste eine Blutung gewesen sein, oder? Selbst wenn nicht, warum kein CT? Das war kein Hexenwerk. Wer weiß, was jetzt gerade ablief. Das Leben war ein einziger Zufall. Hätte ein tüchtiger und routinierter Oberarzt Dienst gehabt, wäre alles seinen normalen Gang gegangen. So war der Patient, nicht irgendeiner, sondern sein bester Freund, an eine devote Flasche geraten, der aus Feigheit und Kadavergehorsam womöglich ‘mal eben dessen junges Leben und seine Gesundheit ruiniert hatte.
‚Bleib ruhig‘, dachte Bekker und versuchte der Panik Herr zu werden. Vielleicht war ja tatsächlich alles halb so schlimm und er hatte heute Nacht zu schnell reagiert. Womöglich hatten sich die Hirndruckzeichen tatsächlich spontan zurückgebildet, und deshalb war alles abgeblasen worden. Doch nur ein lokales Ödem, das vorübergehend auf die andere Seite ausgestrahlt hatte. Möglich war alles. Anders konnte es gar nicht gewesen sein. War doch nur vernünftig, wenn Weiss trotzdem mit seinem Chef gesprochen hatte. Der hatte den Patienten schließlich operiert und war ein exzellenter Fachmann und Routinier. Bekker merkte, dass er dabei war, sich selbst zu belügen. Dennoch wurde er ruhiger, während der andere nach einer Pause, in der er sich seine Worte offensichtlich genau zurechtgelegt hatte, fortfuhr.
„Professor Brücher war der Ansicht, dass der Transport des beatmeten Patienten mit dem Notarztwagen zur Computertomographie und zurück ein zu großes Risiko darstelle und man deshalb zuwarten solle. Der Patient hatte nicht mehr gekrampft, und die linke Pupille war kleiner geworden. Beide Pupillen waren rund und nicht deformiert. Beide haben auf Licht reagiert. Etwas verzögert, aber eindeutig reagiert. Das ist bis jetzt so geblieben. Sollte tatsächlich ein Hirndruck vorliegen, ist er nur sehr mäßig. Die neurologische Symptomatik weist in keinem Fall auf die Gefahr einer Einklemmung hin und ist auch nicht progredient.“
Bekker spürte einen erneuten Adrenalinausstoß. Träumte oder wachte er? War das ein ausgewachsener Neurochirurg, der ihm gerade diesen Schwachsinn erzählte? Der allen Ernstes bei einer Hirnblutung zwischen einem ‘leichten‘ und einem ‘schweren‘ Hirndruck unterscheiden wollte, quasi wie ‘ein bisschen schwanger‘ oder ‘ein bisschen tot‘? Und das allein auf dem Boden banaler Beobachtung und der subjektiven Einschätzung seines Chefs, der zu Hause in seinem warmen Bett eine solch schwerwiegende Entscheidung traf, ohne einen einzigen validen klinischen Befund?
Ein Transportrisiko? Da konnte man ja nur noch lachen. Bei einem jungen Patienten ohne Lungenprobleme war der Transport mittels Notarzt über eine so kurze Strecke eine Lappalie, eine tausendfach durchgeführte Routinemaßnahme. Wovon sprach der Kerl eigentlich? Was ging hier vor? In einer solchen Situation kein CT zu machen war ein Kunstfehler! Wehe, es war etwas passiert! Ein ‘leichter‘ Hirndruck konnte innerhalb weniger Momente zum dramatischen Notfall werden, wenn nämlich nur ein paar Tröpfchen Blut zuviel nachliefen, für die im Schädel kein Platz mehr war. Dann wurde aus einem leichten Hirndruck eine Einklemmung des Hirnstammes, und der Patient war in wenigen Minuten hirntot. Damit würde nicht einmal Brücher durchkommen. In Bekkers Kopf überschlugen sich die Gedanken.
Weiss fuhr ungerührt fort, obwohl er gemerkt haben musste, wie sein Gesprächspartner die Luft anhielt. In seiner Stimme war plötzlich eine überraschende Zuversichtlichkeit.
„Herr Bekker, es sieht so aus, als könnten wir uns beide entspannen. Um ganz offen zu sein, mir war das alles ja selbst nicht ganz geheuer.“ Weiss fuhr eine argumentative Achterbahn, und Bekkers Gefühle fuhren mit.
„Gerade signalisiert mir Herr Tanaka, der den Patienten in diesem Moment ein weiteres Mal untersucht hat, dass beide Pupillen normal weit sind und auf Licht reagieren. Streckkrämpfe sind nun seit über sieben Stunden nicht mehr aufgetreten. Ich denke, wir können beruhigt sein.“ Sein Ton war ungewöhnlich verbindlich, beinahe freundlich. Bekker fühlte sich hin und hergerissen zwischen Ungläubigkeit und Erleichterung. War alles noch einmal gut gegangen? Für einen kurzen Moment wurden ihm die Knie weich, und er musste sich an die Küchenwand lehnen.
„Wie siehst Du denn aus?“ Birte war in die Küche gekommen, um zu sehen, wo er blieb, und starrte ihn jetzt erschrocken an. Bekker war kreidebleich und schweißgebadet, den Telefonhörer krampfhaft ans Ohr gepresst. Aber er stand schon wieder auf festen Füßen.
„Alles okay, Schatz. Irgendwie ist es hier stickig. Außerdem ist der Backofen noch warm vom Semmeln aufwärmen. Bussi – ich komm’ gleich. Will nur eben das Gespräch beenden.“ Sie verließ den Raum, nicht ohne ihm einen sorgenvollen langen Blick zuzuwerfen.
Bekker atmete tief durch. Es war alles gut. Das waren klare, unbestechliche Fakten, und Weiss würde nicht lügen. Der Super-Gau war gegen alle Regeln ausgeblieben. Doch ein Ödem! Er hatte sich selbst schon in die Klinik rasen und seine Ehe aufs Spiel setzen sehen. Dennoch traute er der Sache nicht völlig. Immerhin hatte Weiss vor der frohen Botschaft ziemlichen Unsinn verzapft und damit klar gemacht, dass er entweder einer wirklichen Notfallsituation nicht gewachsen war, oder aber keine Hemmungen hatte, auf höchste Anordnung hin fahrlässige Entscheidungen mitzutragen. Es war dieser plötzliche Stimmungsumschwung, der ihn stutzig machte. ‚Du hörst mal wieder die Flöhe husten‘, schalt er sich. Dennoch, er musste Gewissheit haben, bevor er den Urlaub unbeschwert würde genießen können.
„Ist Herr Tanaka noch da? Ich wollte mich gern bei ihm dafür bedanken, dass er heute Nacht so gut aufgepasst hat.“ Das klang unverfänglich. Tatsächlich hatte Bekker nichts Derartiges vor. Tanaka hatte seinen Job gemacht, wie jeder andere Nacht für Nacht auch. In dieser Klinik, in dieser Stadt, in diesem Land, auf der ganzen Welt. Dafür musste man sich wirklich nicht bedanken. Tanaka wäre über eine solche Geste selbst am meisten erstaunt. Bekker wollte, dass er die von Weiss geschilderte Sachlage bestätigte. Tanaka war absolut vertrauenswürdig. Weiss war der Knecht seines Herrn und würde stets nur berichten, was ihm aufgetragen wurde. Weiss schien arglos zu sein, denn Bekker hörte, wie er nach Tanaka rief und ihm kurz darauf den Hörer übergab.
„Der Herr Bekker möchte Sie noch einmal sprechen.“ Obwohl die Worte des neurochirurgischen Oberarztes wegen der vielfältigen Nebengeräusche kaum zu verstehen gewesen waren, klangen sie für Bekker eigenartig, als wäre da ein undefinierbarer Unterton.
„Hallo, Herr Tanaka. Ich hoffe Ihr Dienst war einigermaßen erträglich.“ Und leiser, „Steht der Weiss noch neben ihnen?“ Tanaka antwortete unverbindlich, ohne auf die letzte Frage einzugehen.
„War nicht so schlimm, Herr Bekker. Danke, dass Sie fragen. Es gab keine weiteren Neuzugänge, und die paar Patienten, die wir derzeit haben, waren problemlos.“ Es entstand eine kurze Pause, bevor Tanaka hinzufügte,
„Sie rufen bestimmt wegen Herrn Menzel an. Alles okay.“ Mehr nicht. Irgendwie klang das alles wie einstudiert. Ohne es zu wissen, spürte Bekker, dass der Japaner nicht allein im Raum und deswegen so einsilbig war. Er beschloss, gezielt nachzufragen. Die Antworten würden ihm eine Beurteilung auch hier von zu Hause aus ermöglichen.
„Hat er noch mal gekrampft? Sind die Pupillen beweglich?“ Eigentlich waren das rhetorische Fragen, die zwischen erfahrenen Klinikern gar nicht gestellt werden mussten, wenn der Patient okay war. Dann gab es auch keinen Hirndruck. Tanaka sah dies offensichtlich genauso, denn er schwieg.
„Blöde Frage“, sagte Bekker schnell, „wenn alles in Ordnung ist. Sorry. Ist er extubiert, bewegt er alles?“ Er überlegte, ob er auf der Fahrt zum Flughafen eben an der Klinik vorbeifahren könnte. Er würde schnell hinausspringen und sehen, wie Jürgen zurecht war. In wenigen Augenblicken wäre alles geklärt. Alle wären beruhigt und dann juchhe, ab in den Urlaub. Die Klinik lag fast auf der Route. Ein Umweg von maximal zehn Minuten. Da würde auch Birte…. In diesem Moment sagte Tanaka, und seine Stimme klang seltsam belegt,
„Nein, er ist beatmet“, und nach einer kurzen Pause, „wir konnten ihn noch nicht extubieren, da er offenbar noch einen Narkoseüberhang hat“, und, wie um eventuellen Einwänden Bekkers zuvorzukommen, „außerdem haben wir ihn heute Nacht mehrfach sediert, da er ja ins CT sollte. Eigentlich. Aber das wissen Sie ja selbst.“ Tanaka klang ein wenig, als wolle er sich rechtfertigen. Bekker war enttäuscht. Wie gern hätte er vor dem Abflug ein paar Worte mit seinem Freund gesprochen. Vielleicht wäre Ruth dagewesen und er hätte sie aufmuntern und beruhigen können. Dass Jürgen Menzel immer noch nicht wach war, erschien ihm für einen jungen, athletischen Mann ungewöhnlich, aber es gab auch bei solchen Patienten gelegentlich erhebliche Variationen in der Wirkung von Beruhigungsmitteln. Außerdem, das mit dem CT war ein Argument. Es war alles logisch. Mehr um sich selbst zu beruhigen, fragte Bekker noch einmal nach. Ohne es zu wollen, klang sein Ton drängend.
„Es ist also alles gut, Herr Tanaka? Sie wissen ja, wir gehen heute für fast drei Wochen in Urlaub, und Jürgen Menzel ist unser bester Freund. Außerdem möchte ich seiner Frau noch berichten, dass er bald nach Hause kommt.“ Bekker lachte, als wolle er den anderen auffordern, die guten Nachrichten nun endlich sprudeln zu lassen. Tanaka antwortete nicht sofort. Irgend etwas schien mit der Leitung nicht zu stimmen. Es knackte ständig, schließlich ein Schlag, als ob der Hörer auf den Boden gefallen wäre. Dann war der Japaner wieder dran.
„Wie ich gesagt habe, Herr Bekker, es ist alles in Ordnung.“ Er klang seltsam distanziert, fügte dann aber, nach einer längeren Pause, etwas freundlicher hinzu,
„Fahren Sie ruhig in den Urlaub. Ich muss weitermachen. Alles Gute.“ Bevor Bekker noch etwas sagen konnte, hatte der andere aufgelegt.
„Mensch, Peter, nun mach hin. Soll ich die Koffer vielleicht allein im Auto verstauen, während Du hier Telefonkonferenzen abhältst? Guck wenigstens nach den zwei Terroristen.“ Birte war erneut in die Küche gekommen, offenbar um nachzusehen, ob er inzwischen geplatzt wäre. Dann etwas weniger forsch,
„Wie geht’s Jürgen? Ist alles in Ordnung?“ Bekker spürte, wie schwer ihr die Frage jetzt fiel, und erneut durchströmte ihn ein Gefühl tiefer Zuneigung. Er liebte seine Frau. Wie sehr er sie liebte!
„Ja, Gott sei Dank. Zwar hat man heute Nacht die ganze Strategie umgeworfen, aber die Symptomatik hatte sich offenbar erheblich gebessert. Weiss war natürlich zu feige für eine eigene Entscheidung und hat um drei seinen Chef aus dem Bett geklingelt. Geschieht dem alten Sklaventreiber recht. Genau das hat man davon, wenn man sich nur mit Duckmäusern umgibt, die zwar von morgens bis abends schlaue Paper schreiben, aber denen beim Anblick eines leibhaftigen Patienten vor Angst das Messer aus der Hand fällt. Doch andererseits, eigentlich ist es gut so. Brücher ist zwar ein Ekelpaket, aber er hat Erfahrung und er würde bei einem solchen Patienten sicher nichts riskieren.“
Sagte er das, um sich selbst zu beruhigen? Mit einem ‚solchen‘ Patienten meinte er vor allem das Alter und das Umfeld. Der gute Freund eines Oberarztes der Klinik – wenn da etwas schiefging, würde es Kreise ziehen. Trotz der zur Schau getragenen Zuversicht beschlichen ihn, während er mit seiner Frau sprach, erneut Zweifel. Ein erhöhter Hirndruck nach einer lokalen operativen Maßnahme am Gehirn war eigentlich immer Hinweis auf eine Nachblutung, die nicht ausreichend drainiert war. Er konnte sich nicht erinnern, jemals erlebt zu haben, dass sich eine solche Symptomatik spontan zurückgebildet hatte. Wie sollte das auch gehen in so kurzer Zeit? Blutung war Blutung, und danach sah es hier aus. Aber Tanaka hatte gesagt, es wäre alles in Ordnung, und dessen Urteil konnte man absolut vertrauen. Dann war das in der Nacht offenbar der seltene Fall eines lokalen Ödems gewesen, und das konnte sich in der Tat spontan zurückbilden.
Bekker streckte sich und bemerkte, dass er noch den Morgenmantel anhatte. Birte war schon wieder weg. Irgendwo hatte ein Kind lauter als üblich gebrüllt, und sie war sofort losgerannt. Es fehlte noch, dass gerade jetzt, wo sie endlich aufbrachen, irgend etwas mit den Kindern passierte. Wieder wurde Bekker bewusst, wie sehr seine Frau auf diesen Urlaub fixiert war. Hier ging es um mehr als um banale Erholung. Viel mehr! Er hatte im Stillen ein heiliges Gelübde abgelegt, die nächsten Wochen der liebste, lustigste und hingebungsvollste Familienvater des Universums zu sein. Und er freute sich darauf. Oft genug hatte er ein schlechtes Gewissen, wenn die Kinder ihn nervten mit ihren Wünschen und Fragen, ihrem ständigen Jammern, etwas mit ihnen zu unternehmen. „Mir ist langweilig, Papa.“ Wie das nervte. Er hasste sich dafür, wie er die beiden manchmal schroff abservierte oder mit irgendeiner scheinheiligen Ausrede vertröstete. Die großen verständnislosen Kinderaugen brannten in seiner Seele. Und trotzdem verhielt er sich immer wieder so. Natürlich hatte er viel zu tun, aber das hatten andere auch, ohne deswegen ihre Familie derart zu vernachlässigen, wie er es ohne Zweifel tat.
*
Birte kam aus einer Juristenfamilie, während Bekkers Eltern, die meisten seiner Geschwister sowie etliche Schwäger, Cousinen und Cousins Ärzte waren. Auch wenn seine Familie gut situiert war, wie man das so nannte, hatte Bekker nichts geerbt. Sie waren sieben Kinder gewesen, und seine Eltern hatten ihnen nichts vorenthalten. Ihren Lebensabend verbrachten sie mit Reisen, und Bekker hatte sie stets dazu ermuntert. Als sie starben, reichte es für das Begräbnis und die Hypotheken. Immerhin hatten alle sieben Kinder eine tadellose Ausbildung. Das war in Bekkers Augen ein großartiges Vermächtnis und völlig ausreichend. Seine Geschwister dachten ebenso. Was er besaß, hatte er sich erarbeitet. Es war wenig genug an materiellen Werten, doch das scherte ihn nicht.
Birtes Vater, Dr. jur. Mirko Hartmann, saß im Vorstand etlicher großer Konzerne. Er war sehr konservativ und sehr reich. Bekker hatte sich oft gefragt, wie er wohl zu dem flotten Vornamen gekommen war in diesem gediegenen Umfeld. Die Heirat seiner Tochter mit Bekker hatte bei Hartmann keine reine Freude ausgelöst, obwohl sie sich auf menschlicher und intellektueller Ebene gut verstanden. Ihm gefielen Bekkers scharfer Verstand und seine unkonventionelle Art, die Dinge anzupacken. Auch ihre Wertvorstellungen lagen dicht beieinander. Bekker machte von Anfang an keinen Hehl daraus, dass Geld, Titel und gesellschaftliche Position nur dann für ihn zählten, wenn sich dahinter Persönlichkeiten verbargen, die dieser Äußerlichkeiten nicht bedurften, um bedeutend zu sein.
Als Bekker und Birte sich kennenlernten, war er bereits Facharzt für Anästhesie. Sie studierte Jura und stand unmittelbar vor dem ersten Staatsexamen. Ihr Vater begriff sofort, dass seine Tochter den Mann gefunden hatte, den sie heiraten wollte. Auch wenn er gegen Bekker als Person keinerlei Einwände hatte, so empfand er ihn jedoch in zweifacher Hinsicht als Bedrohung. Zum einen fürchtete er, wie alle wertkonservativen und ehrgeizigen Eltern in einer solchen Situation, Birte könnte ihr Studium abbrechen. ‚Man besitzt nur das wirklich, was man im Kopf hat’, war sein Credo, ‚alles andere ist Schall und Rauch.’ Er konnte nicht ahnen, wie sehr Bekkers und seine Ansichten in diesem Punkt übereinstimmten. Bekker würde niemals dulden, dass eine Frau ihm zuliebe ihre Ausbildung abbrach.
Hartmann hatte aber auch mit der unterschiedlichen Vermögenssituation Probleme, was ein wenig im Widerspruch zu seinen grundsätzlichen Wertmaßstäben stand. So waren seine Überlegungen auch mehr pragmatischer Natur. Bekker war ein tüchtiger junger Mann aus bester Familie, deren einziger Nachteil darin bestand, dass sie kein Vermögen besaß. Bekker selbst hatte sein Gehalt und die Zuschläge für Bereitschaftsdienste plus der Chefarztzulage von Fritsche. Das war’s. Die Option auf eine große und damit lukrative Karriere war sicher überdurchschnittlich hoch, aber nichts, worauf man bei dem Überangebot an habilitierten Ärzten hohe Wetten abschließen konnte. Einer solchen Laufbahn stand zudem einer von Bekkers typischen Wesenszügen entgegen: Er war alles andere als angepasst. Das mochte ehrenwert sein, doch für den beruflichen Erfolg nicht eben förderlich. Welche Basis hatte eine solche Ehe?
Birte Hartmann war bereits als Studentin so vermögend, wie Bekker es nie sein würde. Was wäre, wenn er nicht Chefarzt würde, sondern als beamteter akademischer Rat an der Uni bliebe mit monatlich dreitausend Euro netto? Egal wie groß die Liebe war, die Tatsache, dass seine Frau ihrer beider Lebensunterhalt aus der Portokasse finanzieren konnte, während der traditionelle Ernährer über das nächste gebrauchte Auto nachdenken musste, würde irgendwann zu Problemen führen.
Doch Hartmann war bei allen Vorurteilen und Bedenken ein feiner Mensch. Er hintertrieb die Verbindung seiner Tochter nicht mit schmutzigen Tricks, wie sie ihm durchaus zur Verfügung gestanden hätten und wie sie in seinen Kreisen bei solchen Gegebenheiten gang und gäbe waren. Er führte statt dessen einige unaufgeregte, durchweg liebevolle Gespräche mit seiner Tochter, in deren Verlauf ihm klar wurde, dass er sich nicht weiter zu bemühen brauchte. Birte liebte diesen Mann und keinen anderen, und damit erübrigte sich jede Diskussion, denn ihr Wille war hart wie Granit. Da glich sie sehr ihrem Vater.
„Papa, glaub mir, Dein Geld wollen wir beide nicht. Ich musste Peter versprechen, dass wir unseren Lebensstandard seinen finanziellen Verhältnissen anpassen. Ist das nicht süß?“ Hartmann fand es keineswegs süß, denn er hielt es für wohlfeile Attitüde oder aber bodenlose Weltfremdheit, ohne dass er hätte sagen können, was ihn mehr beunruhigte. Birte besaß Aktienpakete und Beteiligungen. Die waren da, ob sie wollte oder nicht.
Die Familie fügte sich schließlich, wohl wissend, dass es auch schlechter hätte kommen können. Birtes einziger Bruder, Johannes, der seit mehreren Jahren mit seiner amerikanischen Frau in Kapstadt lebte und nur wenig Kontakt zu seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester hatte, schrieb ihr einen kurzen, aber sehr pointierten Brief, mit dem abschließenden Rat, ‚Wenn Du etwas wirklich willst, tu es. Wenn Du etwas wirklich liebst, halt es fest mit aller Macht, deren Du fähig bist. Das Leben wird nie mehr etwas ähnlich Wertvolles für Dich bereithalten.‘
Sie feierten eine rauschende Hochzeit, aber ohne Flitterwochen, denn Bekker war in der Klinik mal wieder nicht entbehrlich, und Birte stand vor dem nächsten Examen. Bald war sie mit Jenny schwanger und fürs Lernen nicht mehr so motiviert wie am Anfang ihres Studiums, weshalb sie einen Prädikatsabschluss verpasste. Zudem entwickelte sie vollkommen neue Wertvorstellungen. Sie empfand das, was mit ihr vorging, als etwas Einzigartiges. Unendlich wichtiger und schöner als alles, was sie bisher erlebt hatte. Das Kind in ihrem Bauch war das Leben, war die Liebe, das Sein schlechthin. Es verkörperte für sie das Gute im Menschen und war eine einzige grandiose Belohnung durch die Natur. Was waren ein Studium, eine Karriere, Geld und Besitz gegen dieses Wunder der Menschwerdung?
‚Du bist mein Kind‘, flüsterte sie manchmal, wenn sie im Schaukelstuhl saß, das Kleine sich in ihr regte und mit den Füßen gegen ihren Bauch trat, ‚und ich bin Deine Mami, die Dich liebhat, Dich beschützt, die immer mit Dir spielt und Dich nie verlässt.‘ Manchmal weinte sie dabei, immer vor Glück. Wenn sie sich von der guten Fee etwas für sich wünschte, war es stets nur Gesundheit, damit sie ihr Kind niemals würde allein lassen müssen. Auch dann weinte sie, allerdings aus Sorge. Sie bekam ihre Tochter genau zum Termin und ohne großes Aufheben, wie das ihre Art war. Mit Zenia zweieinhalb Jahre später verlief es ebenso.
*
„Hurra, hurra, der Papi, der ist da.“ Bekker hatte sich eine Jeans und ein altes T-Shirt angezogen und trat hochmotiviert zur Aktion Koffertragen an. Die Kinder jubelten ihm zu, als er die zwei größten Stücke hochzuheben suchte und dabei in Schieflage geriet, da eine Seite erheblich mehr Gewicht hatte als die andere.
„Birte, Mutter aller Mütter, edle Herrin, was hast Du hier geladen? Sind’s gar Wackersteine?“ rief er mit gespieltem Entsetzen, und die Kinder johlten vor Begeisterung.
„Oh Bekker, Vater aller Väter, nur das Notwendigste, wie stets“, kam es aus dem Schlafzimmer der Kinder.
„Na denn“, seufzte Bekker mit zerknirschter Miene, um dann laut zu deklamieren,
„Sklaven haben nicht zu diskutieren, sondern zu arbeiten. Verzeiht Herrin, dass ich fragte. Bitte nicht die Peitsche und heute Abend vielleicht ein kleines Schälchen Wein.“ Inzwischen hatte er es mit den beiden Koffern bis zur Treppe geschafft, begleitet von den Kindern, die atemlos auf eine Fortsetzung des Schauspiels warteten.
„Leb wohl, schnöde Welt. Die Ballen von Samt und Seide werden mich jetzt bestimmt in den Abgrund ziehen und zerschmettern. Aber ich bin ja nur ein Sklave. Wen kümmert das? Hauptsache, die Gewänder der Herrin bleiben unbeschädigt und unbefleckt.“ Damit stolperte er die Treppe hinunter, sorgsam darauf bedacht, dass er nicht wirklich ins Straucheln geriet. Die Kinder kreischten und lachten vor Wonne.
Oben stand Birte, während ihr Mann mit dem Fuß die Haustür aufstieß. Sie lächelte. Ein warmes, glückliches Lächeln. Sie seufzte tief. Es würde alles gut werden. Alles. Schließlich saß die ganze Familie im Wagen. Bis zum Abflug der Maschine war noch reichlich Zeit. Bekker bemerkte, dass er während der letzten dreiviertel Stunde nicht eine Sekunde an die Klinik gedacht hatte. Das war ein gutes Zeichen. Vielleicht würde er ja doch noch ein ganz stinknormaler Familienvater werden. In diesem Moment wünschte er es sich sogar.
Birte Bekker streckte sich und warf noch einmal einen Blick auf die große Anzeigetafel mit den Abflugzeiten. Noch über eine Stunde Zeit. Sie würde sich ein paar von den bunten Zeitschriften kaufen, mit den reich bebilderten Artikeln, die angeblich für Frauen, tatsächlich aber ausschließlich über Frauen geschrieben wurden. Sie schlenderte zum Kiosk, während Bekker mit den johlenden Kindern irgendwo in den langen Gängen das Abfluggebäudes umher rannte. Eigentlich war er kein so schlechter Vater, wenn er nur wollte. Sie wusste, dass sie sich gerne etwas vormachte, aber heute war sie einfach nur glücklich. Endlich war die Familie zusammen. Vielleicht war dieser Urlaub ihre Chance, wieder näher zusammenzurücken. Sie alle.
Natürlich drückte Bekker sich gerne vor dem Familienleben. So manches, was er dringlich zu erledigen hatte, war vorgeschoben, um der häuslichen Umgebung zu entfliehen. Birte Bekker war nicht dumm. Die Universitätsklinik beschäftigte einige hundert Ärzte, davon allein mehr als fünfzig in der Anästhesie. Schwer vorstellbar, dass dieser Riesenbetrieb zusammenbrach, weil Oberarzt Peter Bekker Sonntagnachmittag einmal zu Hause blieb. Sie setzte sich auf eine der futuristisch gestalteten, erstaunlich bequemen Bänke.
Nebenan auf einer Bank hatte sich ein Pärchen zusammengekuschelt. Sie schliefen beide fest, offensichtlich total erschöpft. Nach dem Gepäck zu urteilen, das sich um ihren Platz türmte, hatten sie bereits eine lange Reise hinter sich. Der junge Mann lag auf dem Rücken. Sein Mund stand offen, und er schnarchte leise. Seine Freundin lag auf der Seite, mit der Lehne der Bank im Rücken, ihren Kopf und den halbschrägen Oberkörper auf seiner Brust. Wie sie so da lag, war sie das Sinnbild totaler Geborgenheit und Unverwundbarkeit. Jedenfalls empfand Birte Bekker das so, und einen winzig kleinen Moment verspürte sie so etwas wie Neid, fast ein wenig Bitterkeit, was jedoch verflog wie eine Mücke, die sich hinsetzt, aber nicht zusticht.
Ansonsten war wenig los in der riesigen Halle. Die üblichen Ferienflieger starteten erst gegen Abend. Sie würden mit einer Linienmaschine nach Rom fliegen und erst am späten Nachmittag von dort nach Sardinien weiter reisen. Birtes Vater hatte sie um diesen Umweg gebeten. Er befand sich wegen geschäftlicher Angelegenheiten in Rom und wollte sie alle endlich einmal wiedersehen.
Hartmann war immer noch sehr viel unterwegs, obwohl er längst alles delegieren konnte. Er unterlag offensichtlich dem gleichen Unersetzlichkeitswahn wie sein Schwiegersohn, den er inzwischen mehr und mehr schätzen gelernt hatte. Sicher war er auch in Sorge, über Nacht zum alten Eisen sortiert zu werden.
„Äuget ihr Wölfe, äuget genau!“, war Hartmanns Lieblingspassage des Dschungelbuchs, denn es steckte die ganze Weisheit des Lebens darin, das unumstößliche Gesetz des Kommens und Vergehens als ewiger Kreislauf. Noch packte der alte Führer des Rudels den gestellten Bock als erster und zwang ihn in die Knie. Verfehlte er ihn ein einziges Mal, würde das gleiche Rudel, das ihm bis dahin blind gefolgt war, ihn in Stücke reißen. Das war in Ordnung, fand Hartmann, vollkommen in Ordnung.
Birte Bekker schlug die Beine übereinander, vergewisserte sich noch einmal, dass die Reisetasche, die sie als Bordgepäck mit ins Flugzeug nehmen wollte, unter der Bank stand, und nahm die erste Illustrierte zur Hand. Ganz in der Nähe rannten die Kinder hinter ihrem Vater her. Er hatte die Arme schräg ausgebreitet und war offensichtlich ein Flugzeug. Die Kinder taten das gleiche und flogen atemlos hinter ihm her. Birte konnte von ihrem Platz aus hören, wie sie keuchten. Niemals würden sie zugeben, dass der Papa ihnen davonflog. Erneut überkam sie ein überwältigendes Glücksgefühl. Das war ihre Familie, und sie waren zusammen. Nichts, absolut nichts auf der Welt war für sie wichtiger. Hab und Gut, arm oder reich, das alles war Birte Bekker so gleichgültig wie nur irgend etwas. Ihre Wünsche, ihre Träume, ihre Gebete kreisten nur um den Erhalt und die Unversehrtheit ihrer Familie.
Das war keine Obsession. Sie war gefestigt, wusste nun, was Liebe ist. Liebe ist viel mehr als Aufwallung und inniges Gefühl für einen anderen Menschen, viel mehr als begehren, besitzen, festhalten. Dies mag der zündende Funke sein. Liebe gehört einem und doch gehört sie allen, sonst ist sie nur Besessenheit. Liebe macht frei, denn sie ist ohne Eigensucht. Sie ersehnt alles, aber fordert nichts. Sie ist bettelarm und deshalb so unermesslich reich, dass keine Schätze der Welt eine einzige Liebe aufwiegen könnten.
Birte war zwar verwöhnte Tochter aus reichem Hause doch schon immer ein gutherziger, offener Mensch. Bekker wusste sehr genau, wen er geheiratet hatte, und es machte ihm gelegentlich Angst. Er wurde geliebt ohne jeden Anspruch, eine Verantwortung, der er sich nicht gewachsen fühlte. Er hatte wenig zu geben und litt darunter. Er liebte seine Frau, aber manchmal wünschte er sich, sie wäre gleichgültiger.
Ein Flug nach Rom wurde in drei Sprachen aufgerufen. Birte Bekker, die über dem Titelblatt ihrer Illustrierten döste, schreckte auf. Es war jedoch eine andere, frühere Maschine, für die sie keine Plätze mehr bekommen hatten. Siedend heiß fiel ihr ein, dass sie Ruth Menzel hatte anrufen wollen. Wo war nur das verdammte Handy? Sie fand es schließlich in einem Seitenfach ihrer Reisetasche. Die Nummer der Menzels war gespeichert, und sie drückte die Taste. Sie ließ den Ruf zweimal durchklingeln, ohne dass abgehoben wurde. Auch der Anrufbeantworter meldete sich nicht.
‚Eigenartig‘, dachte sie. Eigentlich meldete sich unter dieser Nummer immer jemand, schon wegen des Geschäfts. Sie wählte Ruth Menzels Handynummer. Bereits nach wenigen Sekunden meldete sich die Mailbox mit der üblichen Aufforderung, eine Nachricht zu hinterlassen.
„Hallo Ruth, hier ist Birte. Bitte melde Dich, sobald du diese Nachricht hörst. Wir sind auf dem Flughafen und warten auf unsere Maschine. Peter sagt, mit Jürgen ist alles okay. Ich drück Euch die Daumen. Wirst sehen, Jürgen ist bald wieder auf dem Damm. Bussi – melde Dich. Sprich auf die Mailbox, wenn ich mich nicht melde. Nicht vergessen.“
Ihr Finger war bereits auf dem Knopf, um die Verbindung zu beenden, als sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, schnell hinzufügte, „Ich bete für Euch.“ Das Gerät machte ‚piep, piep‘. Die festgelegte Sprechzeit für eine Nachricht war um.
Warum hatte sie das bloß gesagt? Es klang so dramatisch. Sie wusste es selbst nicht. Eine Ahnung? ‚Quatsch‘, dachte sie. Birte war ein intuitiver Mensch und manchmal selbst erschrocken über ihre Ahnungen und darüber, wie oft sie eintrafen. In diesem Moment plumpste Bekker neben ihr auf die Bank. Die Kinder nahmen praktischerweise gleich auf dem Boden Platz. Sie waren vollkommen verschwitzt und restlos außer Atem. Auch ihr Mann keuchte gehörig. „Na, Rundflug beendet? Oder nur Tankstop?“
„Mami, Mami! Wir sind Düsenjäger, und der Papi ist ein Jumbo, und wir müssen ihn bewachen, weil der Präsident drin sitzt.“ Jenny war ganz aufgeregt und durchdrungen von der Wichtigkeit ihrer Mission.
„Bin ein kleiner Düsenjäger“, lispelte Zenia, um klarzumachen, dass auch sie eine besondere Aufgabe hatte. Und dann legte sich der kleine Düsenjäger, dort am Boden, auf die Seite und schlief im selben Moment ein. Birte hob ihre Tochter hoch, ohne dass die sich rührte, und legte sie quer auf ihren Schoß. Bekker rückte neben sie, so dass der Kopf des schlafenden Kindes auf seinem Oberschenkel lag.
„Mein Gott, Du brauchst ’ne Dusche, Bekker“, flüsterte Birte und rümpfte die Nase. Er war tatsächlich schweißüberströmt.
„Sorry“, sagte er gut gelaunt. In diesem Moment klingelte sein Handy.
„Nein, Bekker! Ich dachte, Du hättest das verdammte Ding zu Hause gelassen. Wer uns wirklich erreichen muss, hat meine Nummer. Schmeiß es an die Wand, das ist bestimmt die verfluchte Klinik auf der Suche nach ‚Mister Unersetzbar‘. Please, Bekker, geh nicht dran. Wir sind im Urlaub und damit für die schnöde Welt verschollen.“ Ihr Ton war flehentlich. Bekker blickte schuldbewusst. Das Handy klingelte unverdrossen. Er hatte es tatsächlich aus Gedankenlosigkeit in der Tasche seiner Jacke gelassen. Schließlich drückte er den Annahmeknopf.
„Last call, danach schalte ich’s ab, versprochen“, flüsterte er seiner Frau zu. Birte Bekker nickte resignierend. Sie stand auf, mit dem schlafenden Kind auf dem Arm, das jetzt den Kopf an ihre Schulter kuschelte, und ging in Richtung der Flughafenboutiquen. Sie wollte nicht wissen, wer anrief und um was es ging. Fast hoffte sie, wenn sie nicht zuhörte, würde es sich als unwichtig herausstellen. Vielleicht hatte sich jemand verwählt. Jenny zuckelte hinter ihr her.
„Ja, hallo, Bekker hier“, er gab sich geschäftsmäßig, um Anrufer mit banalen Anliegen abzuschrecken. Im nächsten Moment saß er kerzengerade. Die Stimme am anderen Ende hatte er nicht erwartet. Tanaka. Der Japaner hielt sich nicht mit Begrüßungsfloskeln auf.
„Herr Bekker, ich habe Sie heute Morgen angelogen.“ Die Stimme klang gepresst und zitterte. Tanaka zeigte normalerweise keine Gefühle. Bekker wusste sofort, dass etwas Besonderes vorgefallen sein musste. Einen winzigen Moment lang wünschte er, den Anruf nicht entgegengenommen zu haben.
„Ihrem Freund, Herrn Menzel, geht es keineswegs gut. Tatsächlich geht es ihm ziemlich schlecht. Er hat typische Hirndruckzeichen, die heute Nacht noch schlimmer geworden sind. Sie waren kaum weg, da hat er wieder gekrampft, typische Streckkrämpfe der Arme mit Innenrotation. Als ich ihn untersuchte, waren beide Pupillen mittelweit und lichtstarr.“
Einige Sekunden lang war Schweigen. Bekker konnte nicht glauben, was er hörte. Er kämpfte gegen ein eigentümliches Gefühl der Lehre und der Kälte. Ihm war, als führe ein anderer das Gespräch und er höre nur zu. Zufällig. Dann traf ihn der Schock. Es war also passiert. Er presste das Mobiltelefon ans Ohr in der Hoffnung, er hätte falsch verstanden. Der Japaner machte ein Geräusch, das Bekker nicht einordnen konnte. Es dauerte eine ganze Weile, bis Tanaka weitersprach.
„Ich weiß, dass ich ihnen das alles nicht sagen darf, aber ich verstehe meinen Chef nicht mehr.“ Wieder eine Pause. Wieder musste Tanaka sich sammeln.
„Herr Weiss hat dem Chef alles korrekt übermittelt, alle Befunde über den klinischen Verlauf. Trotzdem hat Professor Brücher den Transport des Patienten in das CT verboten. Statt dessen hat er Maßnahmen angeordnet, die man bei einem Hirnödem anwendet, also Kortison, Diuretika und die üblichen Lagerungsmanöver. Ich habe Weiss mehrfach darauf hingewiesen, dass hier eine Blutung ausgeschlossen werden muss und dass abschwellende Maßnahmen bei einer Blutung einen...“, Tanakas Stimme überschlug sich plötzlich, „...einen Scheißdreck wert sind!“ Für einen Moment verlor er die Contenance. Trotz der Dramatik der Situation wunderte Bekker sich, welchen Wortschatz sich der Japaner angeeignet hatte.
„Es hat nichts genützt. Weiss hat zwar indirekt zugegeben, dass ein CT gemacht werden müsste, um eine Blutung auszuschliessen beziehungsweise die mögliche Blutungsquelle zu sichern und zu orten, aber es wäre nun mal ein Patient vom Chef, und der hätte die größte Erfahrung von uns allen. Und so weiter. Ich habe ihn gebeten, seine Anordnungen und die des Chefs in der Kurve schriftlich zu vermerken, da ich sonst die Station verlassen würde.“ Wieder eine Pause in der Tanaka sich zu sammeln suchte.
„Glauben Sie mir, Herr Bekker, ich war vollkommen fertig. Ich habe geschrien und gedroht. Weiss hat mich angestarrt wie einen Meuterer. Erst hat er gar nichts gesagt und nur tief Luft geholt. Ich glaube, er wollte mich schlagen. Der war genauso fertig wie ich. Ich habe ihn nur angesehen, da hat er nachgegeben und hat die Eintragungen gemacht, wie ich es verlangt hatte. Herr Bekker, sie können sich darauf verlassen, ich habe bis zum Ende meines Dienstes alles getan, was man bei Hirndruck konservativ tun kann. Die Krämpfe konnte ich mit einem Antikonvulsivum und etwas Valium unterbinden. Aber das alles ist natürlich Kosmetik.“
„Herr Tanaka“, versuchte Bekker einzuhaken, aber der andere ließ ihn nicht zu Wort kommen.
„Als wir telefoniert haben, stand Weiss direkt neben mir. Ich habe später erst erfahren, dass er behauptet hat, ich hätte über eine Besserung der Symptome berichtet. Das ist gelogen. Dem Patienten ging es unverändert schlecht, als ich gegen elf Uhr die Klinik verlassen habe. Kurz nach unserem Telefonat. Bis dahin war Professor Brücher noch nicht einmal erschienen. Aber er hatte bereits um sieben Uhr angerufen, um seine Anordnungen noch einmal zu bekräftigen. Ich war am Telefon. Er hat nur gefragt, ob der Befund unverändert sei. Ich habe das bestätigt und gesagt, der Patient zeige alle Symptome eines erhöhten Hirndrucks. Die Pupillen würden keinerlei Reaktion auf Licht zeigen, und man müsse ihn nach meiner Meinung dringend operieren, und zwar sofort.“
Tanaka machte eine Pause, als könne er das alles nicht fassen. Bekker schwieg.
„Professor Brücher hat kaum zugehört. Statt dessen hat er noch einmal ausdrücklich verboten, den Patienten zu transportieren. Das wäre viel zu gefährlich. Man müsste, so lange es geht, konservativ behandeln. Dann hat er noch erklärt, das alles hätte viel mit Erfahrung zu tun und so. Manchmal müsse man eben geduldig sein. Es bestünde kein Anlaß zur Panik. Er hat mit mir gesprochen wie mit einem kleinen Kind. Ich bin Facharzt, Herr Bekker, und in meiner Heimat wird auch am Kopf operiert.“ Tanaka war empört. Erneut machte er eine Pause.
Bekker hatte den Japaner noch nie so viel und mit solcher Erregung reden hören, und wieder fiel ihm auf, welch tadelloses Deutsch er sprach.
Birte war mit den Kindern inzwischen wieder herbei geschlendert. Sie stand jetzt unmittelbar vor ihm und sah ihn an. Mit dem Kopf machte sie ein Zeichen zur Anzeigetafel. Ihr Flug war soeben zum Einsteigen aufgerufen worden. Das bedeutete noch gut dreißig Minuten Zeit. Bekker verdrehte die Augen, als ob er einen lästigen Anrufer loswerden müsste und machte ein vages Zeichen, dass er gleich fertig wäre.
Die drei entfernten sich wieder. Zenia war aufgewacht und wollte laufen. Birte stellte sie auf die Füße. Sie rannte zurück zu ihrem Papa und stand nun neben ihm, krallte ihre kleine Hand in sein Hosenbein und schaute erwartungsvoll zu ihm auf. Bekker legte geistesabwesend die Hand auf ihren Kopf und kraulte ihre blonden Locken. Tanaka redete weiter. Es war offensichtlich, dass er alles loswerden wollte.
„Ich hätte Sie heute Nacht schon angerufen, aber Weiss war ständig bei mir. Ließ mich nicht aus den Augen. Ich glaube, er hat geahnt, was ich vorhatte. Er ist kein Dummkopf und auch ihm war hundertprozentig klar, dass sein Chef sich verrannt hat. Dass längst ein entlastender Eingriff hätte vorgenommen werden müssen. Der versteht das Ganze auch nicht, aber er hält die Schnauze. Herr Bekker, ich bin Gast hier und habe in der Klinik nichts zu sagen. Ich möchte auch nicht undankbar sein. Professor Brücher hat sich sehr für mein Stipendium eingesetzt. Aber was mit Ihrem Freund passiert, ist entsetzlich. Das ist eine Schweinerei. Ich begreife nicht, was in Professor Brücher vorgeht. Selbst die Schwestern schütteln den Kopf. Die wissen schließlich auch, was ein Hirndruck ist. Heute nachmittag beginnt der Dienst von Professor Müller. Dann passiert bestimmt etwas. Aber das sind im schlimmsten Fall noch mehrere Stunden, und dann ist es zu eh spät, dann hat der Patient irreversible Schäden und man kann das Operieren ganz lassen. Soviel steht fest.“
Tanaka zögerte, versuchte offenbar zum Ende zu kommen. „Ich weiß, dass Sie auf dem Weg in den Urlaub sind. Wahrscheinlich ist ohnehin nichts mehr zu reparieren. Tut mir leid! Aber es ist Ihr Freund. Ich musste Sie informieren. Wenn der Patient noch eine minimale Chance haben soll, dann sofort! Jede Minute zählt!“ Den letzten Satz hatte er geflüstert. Im nächsten Moment war die Verbindung weg. Tanaka hatte aufgelegt.
Bekker stand einen Moment wie gelähmt. Er überlegte fieberhaft. Der Flug war bereits aufgerufen. Eben in die Klinik rasen, alles geradebiegen und auf den letzten Drücker in den Flieger springen, das ging im Kino, aber nicht hier. Wenn er in die Klinik zurückkehrte, und daran bestand für ihn schon jetzt kein Zweifel, dann würde es eine Auseinandersetzung auf Biegen und Brechen werden. Das wäre in ein paar Stunden nicht erledigt, denn er würde erst wieder von der Seite des Freundes weichen, wenn jegliche weitere Komplikationsmöglichkeit ausgeschlossen werden konnte. Aber die Komplikation war längst eingetreten, da war nicht mehr viel zu reparieren. Nach allen Regeln der Neurophysiologie war dieser Fall gelaufen. Was genau konnte er überhaupt noch tun? Und die Familie? Birte, die Kinder?
„Papa, Paapaa!“ Zenia zerrte an seiner Hose und deutete in die Richtung, wo Birte und Jenny standen und warteten. Schließlich rannte sie zur ihrer Mama zurück, fiel hin dabei und begann im gleichen Moment zu brüllen. Birte hob sie hoch, um sie zu trösten, während Bekker langsam auf die Szene zuging.
Birte hatte das schreiende Kind auf dem Arm, aber sie beobachtete ihn genau. Sie ahnte, es war etwas passiert, und als er schließlich mit hängenden Schultern und diesem typischen schuldbewussten Gesichtsausdruck, den sie so gut kannte, vor ihnen stand, wusste sie, dass er nicht mit ihnen fliegen würde. Sie sah ihn an wie einen Fremden, ohne Vorwurf und ohne Trauer, nur einfach so. Bekker versuchte ihren Blick zu erwidern und erschrak. Irgend etwas in ihren Augen war erloschen.
„Ich komme nach, ich verspreche es. Es ist ein Notfall, nicht das Übliche. Tanaka hat mir reinen Wein eingeschenkt. Die angebliche Besserung, alles gelogen. Auf höchste Anordnung. Bitte, Birte, versteh mich, es geht doch nicht um irgend jemanden. Es ist unser bester Freund, und man ist gerade dabei, ihn zum Krüppel zu machen. Brücher ist wahnsinnig, anders kann ich es mir nicht erklären. Altersstarrsinn, was auch immer. Er setzt sein Lebenswerk aufs Spiel, denn das ist ein ärztlicher Fehler, den ihm jede Schwesternschülerin um die Ohren haut. Aber das hilft Jürgen hinterher auch nicht mehr. Ich muss ihn da heraushauen. Er würde dasselbe für mich tun. Bitte, Birte.“ Er beschwor sie, war völlig aufgelöst, außer sich, schielte bereits zum Ausgang, weil wertvolle Zeit verrann.
„Hör zu, Peter“, Birtes Stimme schien von einem fremden Planeten zu kommen, „Lass Dich nicht aufhalten. Gut, diesmal ist es unser bester Freund, und Freunden hilft man. Aber das ist reiner Zufall, Hand aufs Herz. Wäre es irgendein anderer von Deinen Patienten, hätten wir die gleiche Arie vom unersetzbaren Retter Peter Bekker, also erzähl mir nichts. Sieh Deine Kinder nochmal an, Du Wohltäter. Wer weiß, wann Du sie wiedersiehst und ob Du sie dann auf Anhieb erkennst.“
Sie hielt inne, wirkte erschöpft wie nach einem sehr langen Weg. Als sie fortfuhr, sah sie ihn nicht an, sprach nicht zu ihm, sondern zu einem imaginären Auditorium. Es war ein makabrer, verzweifelter Monolog, ein Schrei um Hilfe, den Bekker nie mehr vergessen würde, solange er lebte.
„Es ist meine Schuld. Ich weiß jetzt auch, was ich falsch gemacht habe.“ Tränen rannen über ihr Gesicht, mehr und immer mehr. Sie achtete nicht darauf, schluchzte nicht. Ihre Stimme war monoton und ohne jede Regung.
Sie deutete auf die Kinder. „Ich hätte die beiden doch einfach nur vor ein Auto stoßen müssen oder in den Fluss schmeißen.“ Sie hielt inne, als ob sie nachdenke und wäre zu einer schlüssigen Erkenntnis gelangt. Sein entsetztes Gesicht beachtete sie nicht.
„Dann wären sie mit etwas Glück schwer verletzt worden oder halb ertrunken und zu ihrem Papa in die Klinik gekommen.“ Ihre Tränen saugten sich in den Kragen ihrer Jacke, aber sie schien es nicht zu bemerken. Ihre Stimme war plötzlich fest und klar, „Und dann, aber nur dann hätten sie vierundzwanzig Stunden am Tage die ganze ungeteilte Aufmerksamkeit und Fürsorge ihres Vaters, die sie so sehr ersehnen, auch wenn sie’s nicht in Worte fassen können. Die sie mehr brauchen als alles andere. ..Aber so ...“, sie ließ den Satz in der Luft hängen und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, als würde es regnen.
Bekker stand vor den dreien wie ein zu-ewiger-Verdammnis Verurteilter. Es waren die Menschen, die ihm am meisten auf der Welt bedeuteten. Für die er jederzeit sein Leben geben würde. Jetzt aber blickten sie auf ihn wie die Richter eines hohen Tribunals. Es gab keine Antworten. Nichts ließ sich rückgängig machen. Sie liebten ihn, und er liebte sie. Aber er gehörte nicht dazu. Er war ausgestoßen, weil er selbst es so wollte.
Ein Gefühl unendlicher Verlassenheit, wie er es seit seiner Kindheit nicht mehr verspürt hatte, schnürte ihm die Kehle zu. Er konnte nicht sprechen, wusste, dass er sie nicht erreichen würde. Mit einer hilflosen Geste wandte er sich ab, strebte kurz darauf mit eiligen Schritten dem Ausgang zu. Bekker kannte das Risiko. Er war dabei alles zu verlieren, was ihm wichtig war, und dennoch setzte er seinen Weg unbeirrt fort, ohne das geringste Zögern. Dies war sein Schicksal. Eine Schere, die sich nicht schließen ließ. Er sehnte sich so sehr danach, geliebt zu werden, aber er ertrug keine Nähe. Er trat aus der Halle und winkte nach einem Taxi.