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14. Kapitel
Städtisches Klinikum

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Es war einer der üblichen hektischen Tage gewesen. Bekker hatte seine Zeit bis nachmittags im OP zugebracht. Der Patient in der Allgemeinchirurgie hatte sich als inoperabel herausgestellt. Der bösartige Tumor war weit in das umliegende Gewebe eingebrochen, und die meisten Lymphknoten der unmittelbaren Umgebung hatten mehr als das Doppelte ihrer üblichen Größe. Der Operateur hatte die ursprüngliche Strategie einer radikalen Operation verlassen und lediglich einen Eingriff durchgeführt, der für eine gewisse Zeit die Darmfunktion gewährleistete. Die Lebenserwartung des Patienten betrug wenig mehr als ein halbes Jahr, und durch den palliativen Eingriff wollte man dafür sorgen, dass diese Zeit erträglich für ihn wäre.

Bekker hatte die Studentin erneut examiniert und auch diesmal festgestellt, dass sie eine ganze Menge wusste. Sie kannte sich mit dem Grundleiden des Patienten aus und war über wesentliche Details wie Krankheitsstadien, Prognose und Therapiealternativen recht gut informiert. Auf Bekkers Frage, warum denn die eigentliche Absicht einer Radikaloperation nach Whipple verlassen worden wäre, antwortete sie richtig,

„Die Überlebenschancen des Patienten sind mit und ohne OP nach Whipple identisch. Die Radikaloperation ist aber extrem belastend und hat eine hohe Komplikationsrate. Darum wählt man den kleinstmöglichen Eingriff, der eine Darmpassage gewährleistet, indem man den Tumorbereich mit einem Kurzschluss zwischen Magen und Dünndarm umgeht.“ Das klang wie auswendig gelernt, beeindruckte Bekker aber trotzdem. Sie hatte sich auf das Thema vorbereitet. Das war bei der heutigen Studentengeneration keine Selbstverständlichkeit. Auf dem Flur vor den Umkleiden trafen sie sich wieder.

„Na, Frau Kollegin“, sagte Bekker gutgelaunt, „genug Anästhesie fürs erste? Ich schätze, dieser unerfreuliche Fall reicht uns heute. Wenn Sie immer noch wollen, die Besprechung beginnt um vier, pünktlich.“ Er gab ihr ein freundliches Lächeln und wartete keine Antwort ab. Stefanie Kahle sah ihm nach, wie er im Laufen die letzten Knöpfe seines Kittels zumachte und durch eine automatische Glastür in Richtung der anästhesiologischen Büros entschwand. In ihren Augen war eine Art helle Nachdenklichkeit.

Bekker hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt um sein übliches Mittagessen, heiße Bouillon und trockene Mohnsemmel, zu sich zu nehmen, als das Telefon klingelte. Wenn er aus dem OP in sein Büro kam, waren die ersten fünfzehn Minuten eigentlich heilig, das heißt, er wurde nur gestört, wenn es unumgänglich war. Er nahm seufzend den Hörer ab. Ünal war dran, er rief direkt aus dem OP an.

„Chef, die Erfahrenen stehen alle fest, und in ein paar Minuten kommt der Rettungshubschrauber mit einem schwerverletzten Kind. Können Sie? Oder wollen Sie mich eben im OP ablösen, und ich kümmere mich darum?“

„Nee nee, Herr Ünal, ist schon okay. Schicken Sie die Schwester der Notfallbereitschaft in den Schockraum. Ich komm’ direkt dorthin. Der Huey ist ja noch in der Luft.“ Bekker hatte wenige Augenblicke zuvor das typische Dröhnen der Rotorblätter eines Hubschraubers, der über der Klinik kreiste, wahrgenommen. Er war als junger Assistent bei der Bundeswehr jahrelang selbst mit so einem Gerät herum geflogen und wusste, dass er noch genug Zeit hatte seine Brühe zu vertilgen ohne sich die Zunge zu verbrennen. Damals hatten sie sich stolz ‘Huey-Team‘ genannt. ‘Huey‘ kam von dem typischen Singsang wenn die alte Bell begann ihre Rotorblätter in Bewegung zu setzen.

Als Bekker den Schockraum betrat, war der Hubschrauber noch nicht gelandet, aber das gesamte Team stand bereit. Der Schockraum mochte für den Laien wie ein überfrachteter Operationssaal aussehen. Gekachelt bis an die Decke und ausgerüstet mit allem, was man für eine Notfallversorgung an diagnostischen und therapeutischen Mitteln benötigte. Die Anästhesieschwester war da, ebenso einer der älteren chirurgischen Assistenten sowie zwei Pfleger aus der chirurgischen Ambulanz.

„Na, dann sehn wir mal, was der Tag so bringt“, meinte Bekker ergeben, seufzte und setzte sich auf einen Schemel. „Weiß man schon etwas Genaueres. Verkehrsunfall, oder?“

„Ja, kleines Mädchen, elf oder zwölf Jahre alt, auf dem Heimweg angefahren worden. Auto gegen Fahrrad, der Ausgang ist immer derselbe. Scheiße.“ Der Chirurg stand offensichtlich schon unter Strom, noch bevor die Patientin angekommen war. Kurz darauf gingen die automatischen Türen auf, und das Kind wurde auf einer fahrbaren Trage herein gerollt, neben ihr der Notarzt, ein blonder junger Mann in grünen OP-Hosen und grauer Bomberjacke, das Stethoskop malerisch um den Hals gehängt.

Bekker musste für den Bruchteil einer Sekunde an eine dieser typischen amerikanischen Fernsehserien denken, in denen den Ärzten immer ein Stethoskop unter der frischgeföhnten Betonfrisur baumelte.

Ein zartes blondes Mädchen mit Zöpfen und dunkelblauem Kleid in Seitenlage und Sauerstoffsonde in der Nase, der Notarzt mit seiner Hand hilflos auf ihrer Schulter, als müsse er sich festhalten. An einer der kleinen Hände lief eine Infusion über eine dünne Venenkanüle, die mit weißem Pflaster befestigt war. Die Infusion lief langsam. Noch bevor er sie angefasst oder untersucht hatte wusste Bekker, dass sich die kleine Patientin im tiefen Kreislaufschock befand. Sie war totenbleich, kaltschweißig und rührte sich nicht. Kein Weinen, kein Schreien, kaum merkbar die Atmung. Klassische Zeichen. Von nun an ging alles schnell und routiniert. Bekker fasste den jungen Kollegen an der Schulter und zog ihn sanft zur Seite, damit er nicht im Weg war. Er nickte dem Chirurgen zu.

„Wir brauchen dicke Zugänge, suchen Sie mal, ich leg gleich einen Zentralen. Zuerst muss sie intubiert werden.“ Es war diese Bemerkung das einzige Anzeichen dafür, dass er frustriert war über die mangelhafte Primärversorgung des Kindes.

Die deutschen Lande waren flächendeckend mit mobilen Rettungsmitteln, Notarztwagen und Rettungshubschraubern ausgestattet. Jeder Bürgermeister und jeder Landrat wollte ‘seinen‘ Notarztwagen. Keiner dachte jedoch darüber nach, dass dazu auch ausgebildete Spezialisten gehörten. Es wurde erwartet, dass die Krankenhäuser mal eben so, aus dem Fleisch der Abteilungen, für das nötige Fachpersonal sorgten. Das ließ sich in der gebotenen Qualität jedoch keineswegs immer und überall darstellen. So flogen dann eben schon einmal ein Hautarzt los zur Menschenrettung oder ein Radiologe. Die hatten, wenn’s vor Ort schwierig wurde, keine Ahnung. Woher auch? Die Patienten konnten in solch einem Fall froh sein, wenn wenigstens ein erfahrener Sanitäter dabei war, der dem Doktor die Hand führte.

Über die liegende Kanüle wurden kleine Mengen Schmerz- und Beruhigungsmittel und ein Medikament zur Muskelerschlaffung appliziert, während Bekker dem Kind über eine dicht sitzende Maske Sauerstoff gab und dabei die schwache Atmung mit einem im Kurzschluss angebrachten Beatmungsbeutel vorsichtig unterstützte. Das erforderte äußerstes Fingerspitzengefühl. In keinem Fall durfte ein Erbrechen provoziert werden.

„Spatel. Tubus. Kehlkopf zur Seite, nein mehr nach oben. Okay.“ Bekker hatte die Stimmritze eingestellt und plazierte den Tubus blitzschnell, ohne dass das Kind sich rührte. Inzwischen lag ein weiterer intravenöser Zugang, durch den zügig Infusionslösungen gegeben werden konnten. Der Puls und der Blutdruck waren weiterhin schwach – irgendwo blutete es in die Weichteile – aber das Kind war nun deutlich rosiger und die Haut trocken. Bekker punktierte mit einer langen Nadel eine tiefe Halsvene, über die er einen dünnen weichen Draht einführte und darüber schließlich einen dicklumigen Venenkatheter, dessen Spitze bis zum Herzeingang reichte. In kleiner Dosis wurden Medikamente zur Anhebung des Blutdrucks gegeben. Nicht zu viel, um mögliche diffuse Blutungen nicht zu unterhalten. Bei Katheterisierung der Blase floss reichlich heller Urin. So schlecht war der Kreislauf demnach nicht. Der Urin war klar ohne die kleinste Beimischung von Blut. Eine Verletzung der Nieren oder der Blase war demnach äußerst unwahrscheinlich. Immerhin etwas, dachte Bekker. Damit war die Primärversorgung abgeschlossen. Was als nächstes kam, war gezielte Diagnostik mit klaren Prioritäten. Die Abklärung lebensbedrohlicher Verletzungen hatte Vorrang.

Das Kind musste einen heftigen Zusammenprall hinter sich haben. Es fanden sich Frakturen beider Oberschenkel sowie Rippenbrüche auf der linken Seite. Das bedeutete in jedem Fall eine Quetschung der Lunge, auch wenn sich das in den bildgebenden Verfahren jetzt noch nicht darstellen ließ. Man würde die kleine Patientin zuerst einmal beatmen müssen. Der Blutverlust war erheblich und erklärte den schlechten Zustand, in dem das Mädchen angekommen war. Die Fraktur eines Oberschenkelknochens ging stets einher mit einer massiven Blutung in die umgebenden Weichteile. Das Kind hatte sicher die Hälfte seines gesamten Blutvolumens verloren.

Bekker verständigte den OP und die unfallchirurgische Klinik. Sobald die Kleine stabil und die primäre Diagnostik abgeschlossen war, würde man operieren und Schrauben und Platten einsetzen. Eine laparoskopische Inspektion der Bauchhöhle konnte man gleich mitmachen, um eine intraabdominelle Blutung auszuschließen. Das war keine Affäre. Nun galt es, die Angehörigen zu verständigen und gegebenenfalls zu beruhigen. Die kleine Patientin war im Moment nicht gefährdet und ihr Zustand alles in allem stabil. Frau Seelmann hatte sich inzwischen gemeldet; sie würde die weitere Versorgung übernehmen.

„Die Eltern, ich stell’ durch.“ Gabriele Marx gab Bekker einen vielsagenden Augenaufschlag, als er an ihr vorbeirauschte.

„Ja, Bekker.“ Förmlich, abwartend.

„Ist sie tot?“ Eine Frauenstimme, schrill, seltsam teilnahmslos.

„Bitte?“

„Ist sie tot? Das ist doch eine ganz einfache Frage. Unsere Tochter, Friederike. Die ist doch bei Ihnen? Verstehen Sie mich? Wer sind sie nochmal?“ Die Frau sprach schnell, als wollte sie eine Antwort auf ihre vielen Fragen eigentlich vermeiden.

„Mal langsam. Mein Name ist Bekker, Anästhesiologische Klinik. Darf ich fragen, mit wem ich spreche? Hallo?“

Am anderen Ende der Leitung war es für einen Moment still. Dann Gemurmel. Offensichtlich standen mehrere Personen um das Telefon herum. Dann leise, beinahe kleinlaut,

„Verzeihen Sie, mein Name ist Gerda Lein. Ich bin die Mutter von Friederike Lein. Sie ist vom Auto angefahren worden. Auf dem Heimweg von der Schule. Der Fahrer ist falsch abgebogen. Das arme Kind.“ Sie brach ab. Wartete. Bekker räusperte sich.

„Ihre Tochter ist hier, Frau Lein. Sie ist ziemlich schwer verletzt, das muss ich Ihnen leider jetzt schon sagen, aber ihr Zustand ist stabil und es besteht zur Zeit keine Gefahr für ihr Leben. Bitte kommen Sie schnellstmöglich in die Klinik. Sie können sich in meinem Büro melden. Anästhesiologische Klinik. Wir benötigen Ihre Einwilligung zur Operation. Ich lasse alles vorbereiten.“ Er wartete.

„Eine Operation? Um Gottes willen, was wird denn operiert?“

„Ihre Tochter hat beide Oberschenkel gebrochen. Das muss man frühestmöglich operativ stabilisieren. Außerdem müssen die Chirurgen in den Bauch gucken, um sicher zu sein, dass keine inneren Organe verletzt sind. Das ist aber nur ein kleiner Eingriff. Am besten, ich erkläre Ihnen die Einzelheiten hier vor Ort. Ehrlich gesagt, die Zeit drängt. Woher kommen Sie?“ Die Frau schien sich sammeln zu müssen.

„Wir sind von hier“, antwortete sie schließlich. Dann, zusammenhanglos, „Wie sie auf der Straße lag und sich nicht rührte. Wir kamen zufällig einige Augenblicke nach dem Unfall vorbei, und da lag das Kind.“ Sie kämpfte offensichtlich, um ihre Fassung zu bewahren. „Wir dachten beide, sie wäre tot. Der Unfallfahrer war über alle Berge. Ein Passant hatte bereits die Polizei benachrichtigt, und der Notarzt kam sofort. Dann lebt sie.“ Sie schien es erst in diesem Moment wirklich zu begreifen.

„Sie lebt!“ rief sie laut. Dabei wendete sie sich offensichtlich anderen Personen zu, denn ihre Stimme war für einen Moment nicht zu verstehen.

„Mein Gott“, sagte eine Männerstimme im Hintergrund. „Mein Gott.“

Bekker wartete geduldig. Er hatte den Hörer an die Wange geklemmt und begann Briefe der täglichen Post zu öffnen. Dann die Frau wieder.

„Also gut. Vielen Dank. Natürlich, wir kommen. Städtische Kliniken. Sekretariat Anästhesie. Sie sind Herr Doktor...?“

„Bekker“, sagte Bekker. Er sah die Post durch und ließ sich Frau Seelmann auf der Intensivstation geben, wo die kleine Patientin auf die Operation vorbereitet wurde.

„Wie sieht’s aus? Was macht die arme Maus? Haben Sie alle Bilder gesehen?“

„Nicht so toll“, kam es zurück. „Tja, vital stabil ist sie im Moment natürlich, aber wegen der Prognose bin ich nicht so optimistisch. Das Auto muss sie frontal erwischt haben. Haben Sie die Eltern erreicht? Die Patientin muss schnellstmöglich in den OP.“ Regina Seelmann seufzte. Sie machte sich ohne Fragen Sorgen. Bekker fand, dass sie manchmal ein bisschen schwarz sah. Allerdings lag sie damit oft richtig. Aber hier? Zwei Beinbrüche. Ein paar Rippen durch. Er konnte nicht ganz folgen, wartete aber auf weitere Erläuterungen.

„Also von oben nach unten. Am Kopf ist nichts. Keine Fraktur, keine Prellungen, wahrscheinlich keine Commotio oder ähnliches. Das CT ist vollkommen unauffällig. Die Wirbelsäule ist in allen Bereichen okay. Auch das Becken hat glücklicherweise nichts abbekommen. Soweit die guten Nachrichten. Sorge macht mir der Brustkorb. Links Rippenserienfraktur von der dritten bis zur neunten Rippe. Alle komplett durch, alle mit Dislokation, da steht kein Ende auf dem anderen. Dabei teilweise Stückfrakturen, mit Verletzung des Lungenparenchyms durch die fünfte Rippe. Nicht viel, aber immerhin. Bisher hat es vielleicht zweihundert Milliliter in die Pleura geblutet, und ich meine, man kann zur Zeit noch auf eine Drainage verzichten, zumal es während der Diagnostik nicht zugenommen hat. Sie hat auch keinen Pneumothorax, also ein Bronchus ist nicht verletzt.“ Bekker nickte stumm. Auf seiner Stirn waren steile Falten erschienen. Das hörte sich dann doch alles andere als gut an. Frau Seelmann hatte leider recht. Wie alt war das Kind? Zwölf Jahre, meinte er sich zu erinnern.

„Im CT sieht man an der Lunge noch nicht viel. Die Verletzung durch das Rippenfragment ist derzeit der einzige auffällige Befund. Kaum sichtbare Verdichtung durch die Einblutung und die Stauchung. Aber der Unfallhergang und die Verletzung des knöchernen Brustkorbs sprechen eindeutig für eine heftige Lungenkontusion, und ich fürchte, spätestens in zwei Tagen gehen die Probleme los. Wenn Sie nachher hochkommen, würde ich mit Ihnen gerne eine seitengetrennte Beatmung diskutieren, sonst schleppt die schlechte Lunge die gesunde mit ins Verderben. Operativ ist da nichts zu machen. Die Unfallchirurgen sehen bei dem Befund keine Chance, die Rippen durch Platten zu stabilisieren. Ich hab’ sicherheitshalber eine Unfallklinik in Süddeutschland angerufen, wo sie mit Rippenserienfrakturen sehr viel Erfahrung haben und auch etliches operieren, wo andere kneifen. Ihr Einverständnis vorausgesetzt. Die sagen aber dasselbe: am Brustkorb nicht operieren. Ich schick’ denen die Röntgen- und CT-Befunde in jedem Fall noch einmal per E-Mail.“

Bekker nickte wieder. Er holte gelegentlich zweite Meinungen ein und ermunterte die Erfahrenen seiner Mitarbeiter ausdrücklich dazu, es ebenso zu handhaben. Es gab komplexe Probleme, bei denen bestimmte Kliniken oder einzelne Kollegen andernorts erwiesenermaßen über erheblich mehr Erfahrung verfügten. Es wäre in Bekkers Augen grob fahrlässig, auf das Können und die Erfahrung anderer zu verzichten. Das hatte die ersten Male teilweise zu heftigen Reaktionen geführt.

„Wie kommt der neue Anästhesist dazu, fachfremde Entscheidungen durch Dritte herbeizuführen, anstatt dies ausschließlich der Kompetenz der bettenführenden Klinik zu überlassen? Der soll sich um seine Narkosen kümmern“, fluchte Professor Kunze bei der chirurgischen Besprechung, „Gashahn auf, Gashahn zu! Alles andere soll er denen überlassen, die’s können.“ Auf sein Betreiben wurde eigens eine Sondersitzung des Chefarztgremiums zu diesem Thema abgehalten.

Kunze hatte bei dieser Sitzung allerdings keineswegs den Rückenwind verspürt, den er sich erwartet hatte. Die Meinung der Operateure war zwiespältig. Insgesamt überwog zwar die Einschätzung, dass Bekker seine Kompetenzen überschritt, auch wenn man andererseits in Einzelfällen sehr wohl die Hilfe besonders erfahrener Kollegen und Institutionen in Anspruch nehmen sollte. Bekker selbst war von der ganzen Affäre weder positiv noch negativ überrascht. Dennoch empfand er es als bemerkenswert, wenn an einer deutschen Klinik der Sinn tradierter Mechanismen durch ein Chefarztkollegium diskutiert wurde. Das wäre an der Uni vollkommen undenkbar gewesen.

Überraschenderweise stellten sich die Geschäftsführung und der Stadtverordnetenausschuss demonstrativ hinter ihn. Sicher nicht aus Gründen tieferer Einsicht. Das war von Betriebswirten und einem paritätisch besetzten kommunalpolitischen Gremium nicht zu erwarten. Trotzdem war es für Bekker ein positives Signal, mit dem er nicht gerechnet hatte. Es war nicht die einzige Gelegenheit für ihn zu erfahren, dass er mit seiner fatalistischen Einschätzung des deutschen Medizinbetriebes nicht immer richtig lag. Seine grundsätzliche Meinung allerdings änderte das nicht. Die Deutschen waren für ihn nun einmal alles andere als kritikfähig, und die deutschen Ärzte schon gar nicht.

„Die Patienten kommen zu uns im Vertrauen, dass wir das Bestmögliche für sie tun. Und mit dem Bestmöglichen ist die medizinische Kunst schlechthin gemeint und keineswegs nur das, was wir selbst gut können. Wenn es klare Erkenntnisse gibt, dass ein anderer ein Problem besser lösen kann, dann muss man sich dies zunutze machen. Nachfragen, informieren oder gegebenenfalls den Patienten verlegen. Fertig. Das ist dessen ureigenes Recht. Alles andere wäre ein klarer Vertrauensbruch.“ Mit dieser Meinung stand er oft genug alleine, und viele Kollegen belächelten ihn als Eiferer und Fantasten.

Frau Seelmann komplettierte ihren Bericht kurz.

„Beidseits Bruch des Oberschenkelknochens, rechts glatt, links Trümmerfraktur mit insgesamt vier Fragmenten. Das ist aber alles machbar. Ich denke, dass man sie ohne größere Probleme operieren kann, technisch betrachtet, und dann ist an dieser Front Ruhe. Aber ansonsten, na ja, später – ich seh’ Sie gleich. Wollen Sie noch ein paar Laborwerte oder sonst etwas?“ Bekker schüttelte den Kopf.

„Guck’ ich mir an, wenn ich zur Visite komme. Ich sag’ Euch sofort Bescheid, wenn die Eltern unterschrieben haben. Unabhängig davon will ich ganz gerne als erster mit ihnen sprechen. Besser, wir schildern die Sache von Anfang an nicht so rosig. Entspricht ja auch weiß Gott den Tatsachen.“ Damit hängte er ein und widmete sich wieder seiner Post. Gabriele Marx erschien in der Tür.

„Noch ein Tee, Herr Professor? Oder eine Kleinigkeit zu Essen?“ Bekker sah nicht auf, schüttelte nur den Kopf.

„Später. Sie wollen mich eh nur mästen. Noch was?“

„Der Mensch von den Zeugen Jehovas hat schon wieder angerufen. Ich hab’ ihn jetzt schon hundertmal vertröstet. Können Sie nicht eben mit ihm sprechen? Gleich kommen die Leute, oder? Und dann gehen Sie in den OP und sind wieder für Stunden nicht erreichbar.“ Bekker sah immer noch nicht auf, wusste aber genau, was für ein Gesicht sie gerade machte, nämlich die ‚Ach-bitte-bitte-nur-eine-Minute-Miene‘, die er so gut kannte. Er lächelte. Sie war unerbittlich und sorgte konsequent dafür, dass nichts unerledigt blieb, während Bekker dazu neigte die Dinge vor sich her zu schieben.

„Ach, liebe Gabriele.“ Gelegentlich nannte er sie so, schließlich nannte man auch alle Krankenschwestern beim Vornamen.

„Haben Sie doch ein wenig Erbarmen mit Ihrem alten, ausgelaugten Chef.“ Er erwartete, dass sie protestierte, zumindest wegen des ‚alten‘, aber heute tat sie ihm diesen Gefallen nicht. Die Telefonliste war ellenlang, und der Herr Renz von den Zeugen Jehovas hatte es schon so oft probiert. Sie konnte mit der Glaubensrichtung nichts anfangen, aber der Mann klang sehr nett am Telefon. Und sehr geduldig. Außerdem wusste sie, dass Bekker den Zeugen Jehovas keineswegs so kritisch gegenüberstand wie die meisten seiner Kollegen.

„Also gut!“ Demonstrativ gequälter Gesichtsausdruck. „Aber machen Sie irgendeine Andeutung, wie sehr der Chef heute wieder eingespannt ist oder so. Na, Sie wissen schon.“ Gabriele Marx verschwand mit einem zufriedenen Lächeln in ihrem Büro, um die Telefonverbindung herzustellen. Kurz darauf sah Bekker das Lichtzeichen und nahm den Hörer ab.

„Bekker.“

„Guten Tag, Herr Professor. Renz hier. Ich bin der Leiter der Verbindungsstelle der Zeugen Jehovas. Vielleicht erinnern Sie sich an meinen Namen.“

„Natürlich, ich erinnere mich, Herr Renz. Wir haben uns im letzten Jahr auf dem Kongreß über Alternativen zur Bluttransfusion in München getroffen. Wie geht’s Ihnen?“ Renz war über die liebenswürdige Begrüßung offenbar verblüfft, denn er schwieg einen Moment. Er war es gewohnt, von den meisten Menschen und ganz besonders den Chefärzten mit Geringschätzung und Ablehnung behandelt zu werden.

„Gut. Danke, Herr Professor. Ich will Ihre wertvolle Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen. Sie kennen unser Projekt, einen Ring kooperierender Krankenhäuser aufzubauen. Wir hatten damals auf dem Kongress kurz darüber gesprochen.“ Renz ging mit einigen knappen, plausiblen Sätzen auf die Idee und deren Probleme ein. Bekker hörte aufmerksam zu. Der andere verlor keine Zeit mit langen Erklärungen. Er wusste, dass sein Gesprächspartner mit der Materie bestens vertraut war. Bereits nach wenigen Minuten schwieg er. Bekker räusperte sich.

„Herr Renz, ich darf eben mal zusammenfassen. Sie suchen Krankenhäuser beziehungsweise Klinikabteilungen, vor allem operative und anästhesiologische, die akzeptieren, wenn Patienten, also Ihre Glaubensbrüder, die Transfusion von Fremdblut ablehnen. Das ist es doch im Kern? Sie kennen meine Einstellung. Beim erwachsenen, das heißt volljährigen Patienten habe ich damit kein Problem. Ich respektiere dies als den freien Willen des Individuums, auch im kritischen Fall. Bei Kindern kommt das nicht in Frage, da hole ich mir zur Not einen Gerichtsbeschluss.“ Renz unterbrach ihn freundlich, aber bestimmt. Er war ein gemäßigter, kluger Mann.

„Herr Professor, damit müssen wir uns nicht aufhalten. Ich denke, die Verbindungskomitees der Zeugen Jehovas haben in der letzten Zeit klar gemacht, dass es hier keine Widerstände gibt. Sie sind eine Persönlichkeit, die sich die Nöte und Ängste des Einzelnen zu Herzen nimmt und andere Weltanschauungen akzeptiert, auch wenn es nicht Ihre eigenen sind. Das ist besonders bei Ärzten nicht häufig, komisch nicht?“ Bekker fühlte sich unwohl. Er mochte keine Elogen auf seine Person, weil sie in seinen Augen nicht den Tatsachen entsprachen und ihn in die Defensive drängten. Auch wenn er seinem Berufsstand kritisch gegenüberstand, so trug er das nicht gerne nach außen.

„Herr Renz, ich denke, den meisten Ärzten geht es in erster Linie um das Schicksal ihrer Patienten, und sie versuchen ihrem Gewissen zu folgen. Lassen Sie uns zu den Fakten kommen. Ich verstehe Ihr Problem. Sie wollen klare Verhältnisse. Ich kann natürlich nur für dieses Krankenhaus sprechen. Ich besorge Ihnen Termine bei allen Abteilungsleitern, die wichtig sind, also vor allem bei den Operateuren, spreche aber vorher selbst mit jedem einzelnen, damit Sie nicht vor verschlossenen Türen stehen. Ich denke aber, alle hier sind bereit, Zeugen Jehovas zu behandeln und deren Vorbehalte gegen Fremdblut zu respektieren. Mehr kann ich nicht tun. Ist das okay?“

„Selbstverständlich, Herr Professor, herzlichen Dank. Das ist mehr, als ich zu hoffen gewagt habe.“ Bekker wollte sich verabschieden, als ihm noch etwas einfiel.

„Herr Renz, ich gehe davon aus, dass unser Krankenhaus in Zukunft von den Zeugen Jehovas bevorzugt in Anspruch genommen wird. Eine Hand wäscht die andere. In diesem Sinne. Ich muss los. Danke für Ihren Anruf.“ Er legte auf und schmunzelte einen Moment. Die Konkurrenz schlief nicht. Der Kampf um die Patienten war in vollem Gang.

„Frau Marx, was denn noch?“ Gespielte Verzweiflung, als seine Sekretärin erneut im Türrahmen stand.

„Die Eltern von dem Unfallkind sind da. Ich hab’ sie schon mal hoch geschickt und Frau Seelmann Bescheid gesagt. War das richtig? Gehen Sie hoch?“ Beide Fragen waren rhetorisch. Bekker war bereits aufgestanden und knöpfte seinen Kittel zu. Die Eltern wollten ihr Kind sehen, und die Formalitäten konnte man auch oben erledigen. Er traf das Ehepaar Lein im Vorraum zur Intensivstation. Sie legten gerade die Mäntel ab und hüllten sich in die grünen Überkittel, wie sie für Besucher Vorschrift waren, auch wenn Bekker nichts davon hielt. „Alles Liturgie“, sagte er bei jeder passenden Gelegenheit, aber beließ es bei dem Ritual.

Für die meisten Angehörigen war der erste Eindruck wichtig, und fast jeder erwartete etwas Mystisches, wenn’s auch nur ein grüner Baumwollkittel war. Sie stellten sich vor. Frau Lein war eine hübsche blonde Frau mit blauen Augen und einem klassischen Gesicht mit kleiner gerader Nase. Sie trug ein schlichtes beiges Kostüm, das teuer aussah. Sie hatte offensichtlich geweint. Ihre Augen waren rot gerändert. Sie mochte Ende dreißig sein, keinesfalls älter. Ihr Mann hingegen war sicherlich bereits in den Sechzigern. Er war groß mit grauen Schläfen und streng gescheiteltem kurzen Haar. Beide sprachen nicht viel, sahen Bekker nur an.

„Ich schau’ eben nach, dass alles soweit in Ordnung ist, für Besucher“, sagte Bekker etwas lahm und ging hinein, die beiden zurücklassend. Bevor sie sich unterhielten, benötigte er einen aktuellen Überblick, zusätzlich zu den Informationen, die er schon hatte. Er betrat die Patientenbox und wandte sich an die Schwester, die gerade eine Infusion auswechselte. Über einen der venösen Zugänge lief eine Blutkonserve.

„Sagen Sie bitte der Oberärztin Bescheid, dass ich hier bin.“ Die Schwester nickte. Bekker trat ans Bett. Das Kind war bleich wie das Laken. Die Augen waren geschlossen. Zwischen den Lidern trat etwas von der weißen Salbe hervor, mit der eine Austrocknung der Schleimhäute verhindert werden sollte. Der Beatmungstubus ragte aus dem rechten Mundwinkel. Der Respirator seufzte kaum hörbar die immer gleiche Melodie, und der Brustkorb des Kindes hob und senkte sich in dem von ihm vorgegebenen Rhythmus. Bekker zog die Decke und das weiße Hemdchen, vollständig zurück. Friederike Lein war ein hübsches Kind. Die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter konnte man kaum übersehen. In ihrem Schoß sprießte der erste zarte Flaum. Der Blasenkatheter aus gelbem Kunststoff dazwischen wirkte martialisch und verletzend. Wenn es ihm schon so vorkam, wie mochten die Eltern diesen Anblick empfinden, kam es Bekker in den Sinn. Und der Blasenkatheter war nicht alles. Der Beatmungstubus, die Kanülen in den Armen, der zentrale Venenkatheter am Hals, die Magensonde aus der Nase.

Das alles war für Laien schwer zu ertragen, besonders wenn es sich um das eigene Kind handelte. Das war so. Bei Kindern waren alle, auch die Therapeuten, betroffener, sensibler, angespannter. Bekker setzte sich schräg auf die Bettkante, um systematisch zu untersuchen. Er tastete nach Resistenzen, beklopfte akribisch Areal um Areal, um Dämpfungen aufzuspüren, wo sie nicht hingehörten. Ein Brustkorb, in dem sich Flüssigkeit sammelte, hatte einen anderen Klopfschall als der mit der normalen luftgefüllten Lunge. Die linke Seite war deformiert mit bläulich verfärbten Prellmarken. Bekker konnte die Frakturen tasten. Dass Rippen gebrochen waren, ließ sich auch ohne Röntgenbild feststellen. Er stand schließlich auf und trat einen Schritt zurück, um sich noch einmal ein Bild vom gesamten Brustkorb zu machen. Die Asymmetrie durch die Deformation der linken Seite war unübersehbar.

Er schüttelte leise den Kopf und deckte das Kind wieder zu. Regina Seelmann war inzwischen neben ihn getreten und hatte zugesehen, bis er fertig war. Sie wusste, dass ihr Chef allergrößten Wert auf eine sorgfältige körperliche Untersuchung legte. Mit den Augen, der Nase, den Ohren und den Händen. Ganz gleich, welche apparativen Daten vorlagen, sie wurden stets durch die körperliche Untersuchung ergänzt, wofür der Therapeut als einziges Instrument sein Hörrohr und ansonsten seine Sinne benötigte.

„Nicht so gut, oder?“ Sie machte ein sorgenvolles Gesicht. Bekker starrte nachdenklich vor sich hin.

„Übel“, sagte er nur, „ziemlich übel. Das Kind sieht aus, als wäre das Auto drübergefahren. Da werden wir uns ziemlich anstrengen müssen. Ich hoffe, die Unfallchirurgen und Chirurgen ziehen mit uns an einem Strang. Sie wissen ja, Operabilität, Strategie, Termine und so weiter. Es gibt nichts, worüber der deutsche Arzt keine Kontroverse vom Zaun bricht.“ Regina Seelmann sah ihn überrascht an. Er wirkte plötzlich so bitter, ganz ungewohnt für den Sonnyboy, als den ihn alle kannten.

„Ich denke, dass dieses Kind auf der Intensivstation gerettet wird und nicht im OP“, sagte die Ärztin bestimmt. Das klang nicht überheblich und hatte nichts mit Wettkampfmentalität zu tun. Tatsächlich stellte Friederike Lein keine chirurgische Herausforderung dar, zumal der knöcherne Brustkorb nicht operiert werden konnte. Die Rippen mussten so verheilen, und wenn das ein bisschen schief geschah, war es für das funktionelle Ergebnis unbedeutend.

„Auch wenn die Intensivmedizin von uns gemacht wird, werden die Unfallchirurgen alle unsere Maßnahmen argwöhnisch beäugen“, fuhr sie fort. „Ein bisschen was wissen die schließlich auch, die beiden Oberärzte sogar eine ganze Menge. Allerdings sind sie mit ihren Vorstellungen ziemlich konventionell gestrickt. Die linke Lunge ist bei dem Unfall maximal zusammengequetscht worden. Wenn wir Pech haben, wird das eine Schocklunge mit allem Drum und Dran. Wir müssen uns vor allem darauf konzentrieren, dass die andere Seite nicht nach ein paar Tagen mitzieht. Der Shunt, die Infektion, na ja, und so weiter. Die Integrität der guten Seite ist die einzige Chance für die kranke, sich langfristig zu erholen. Und nur dann überlebt das Kind, Herr Professor.“ Bekker sah sie scharf an. Sie war ungewöhnlich förmlich. Ein Zeichen für hohe Anspannung und Anteilnahme, in Bekkers Augen nicht die besten Voraussetzungen für einen erfolgreichen Therapeuten. Der Patient profitierte mehr von einem distanzierten Arzt als einem, der sich persönlich verstrickte, und dabei Gefahr lief die naheliegenden Dinge zu übersehen. Allerdings hätte Bekker niemals eingestanden, dass er selbst dieser Kategorie angehörte. Sie schien seinen Blick nicht zu bemerken und fuhr fort, indem sie jedes Wort betonte.

„Wir sollten uns schnellstmöglich über eine seitengetrennte Beatmung klarwerden. Gleich, wenn wir mit den Eltern gesprochen haben. Auch braucht sie eine thorakale PD und am besten tracheotomieren wir sie direkt.“ Bekker nickte, wenn auch etwas zögerlich, was ihr diesmal nicht entging.

„Die Eltern“, sagte sie. „Wir brauchen das Einverständnis. Das Kind muß in den OP. Die Chirurgen sind schon vor Ort.“ Sie zögerte einen Moment.

„Sprechen Sie mit Ihnen? Ich meine grundsätzlich.“ Bekker nickte und wandte sich der Tür zu, drehte sich dann aber noch einmal um.

„Ich denke, das sollten wir zusammen tun. Sie werden ja in der nächsten Zeit der erste Ansprechpartner sein. Ich hole die Leute jetzt erst mal ans Bett ihrer Tochter, und dann setzen wir uns im Arztzimmer kurz zusammen.“ Bekker kehrte in den Vorraum der Intensivstation zurück, wo das Ehepaar Lein geduldig wartete. Sie sahen ihn erwartungsvoll an. Bekker fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, und als sein Blick den der Mutter traf, gab es ihm einen Stich ins Herz.

„Wir gehen jetzt zu Ihrer Tochter. Bitte erschrecken Sie nicht über die vielen Schläuche und Infusionen und die Beatmung. Das Mädchen befindet sich in einem künstlichen Koma. Nicht so tief, dass alle Reflexe ausgeschaltet wären, aber tief genug, um Stressreaktionen und Schmerzen zu vermeiden. Ich bin sicher, dass sie Ihre Anwesenheit irgendwo tief im Unterbewusstsein wahrnimmt, und das ist wichtig. Für uns alle. Ich gebe zu, für Laien sieht das alles trotzdem ziemlich heftig aus.“ Ihm fiel kein anderes Wort ein.

„Aber glauben Sie mir, Ihre Tochter ist zur Zeit vollkommen stabil. Kreislauf und Lungenfunktion sind unproblematisch. Ich geh’ voran.“ Er öffnete die Tür zur Station und ließ die Eltern hinein. Er nahm wie selbstverständlich den Arm der Frau und dirigierte sie in die richtige Patientenbox. Seine Geste war Tröstung und Vorsorge zugleich. Frau Lein wäre nicht die erste Mutter, die am Bett ihres Kindes zusammenbrach. Es fehlte noch, dass sie sich verletzte. Die junge Patientin war mit einem weißen Laken zugedeckt. Nur der Kopf schaute über das obere Ende hinaus. Aus dem Mund ragte der transparente Beatmungstubus, dessen Innenseite sich im Rhythmus des Atemzyklus wechselnd beschlug und dann wieder klar wurde.

Bekker hatte eine dezidierte Vorstellung, wie Eltern sich in einem solchen Moment fühlen. Ihre letzte Erinnerung war in der Regel ein fröhliches und lebhaftes, vor allem aber gesundes Kind. Dies hier war ein Schock, ganz gleich, wie differenziert die Menschen waren, und ganz gleich, wie lange sie Zeit gehabt hatten, sich mit der Situation auseinanderzusetzen. Die Eltern der kleinen Friederike standen stumm am Bett. Frau Lein nahm dankbar den angebotenen Schemel und setzte sich dicht an die Bettkante, um die Hand ihrer Tochter halten zu können. Diese kleine, blasse, kalte Hand. Bekker ließ die Familie eine Weile für sich, dann kehrte er zurück und fasste die Schulter der Mutter mit sanftem Druck.

„Ich habe hier zwei Formulare. Das eine ist die Einverständniserklärung für die Operation, das andere für die Anästhesie. Sie müssten bitte unterschreiben. Das Kind geht gleich in den OP. Ich hatte Ihnen ja am Telefon schon gesagt, warum.“ Frau Lein nahm die Schriftstücke wortlos aus seiner Hand, legte sie auf den Nachttisch und unterschrieb. Gab sie Bekker zurück, der sie in die Patientenakte legte. Sie stellte keine Fragen. Auch ihr Mann blieb stumm.

„Wir müssen uns unterhalten“, sagte Bekker. „Es gibt ein kleines Stationszimmer hier. Kommen Sie. Sie können im Moment für Ihre Tochter nichts tun.“ Das Stationszimmer der Intensivstation war von den Abmessungen her eine bessere Besenkammer. Dazu vollgestopft mit Regalen und einem EDV-Arbeitsplatz mit zwei Bildschirmen. Bekker nannte es scherzhaft ‘Arztschrank’, und mehr war es beim besten Willen nicht. Die Ärzte standen, nachdem das Ehepaar Lein mit einigem Sträuben die beiden einzigen Stühle akzeptiert hatte. Der Mann fand als erster seine Sprache wieder.

„Wenn ich das alles richtig begreife, ist Friederike ziemlich schwer verletzt. Sie müssen ein bisschen Geduld mit uns haben. Wir kommen beide nicht aus dem naturwissenschaftlichen Metier. Meine Frau ist Maklerin. Immobilien. Ich bin Anwalt. Arbeitsrecht. Also entschuldigen Sie, wenn wir dumme Frage stellen.“

Bekker nickte freundlich. Lein wiederholte sich, als wolle er verhindern, dass man zum Kern kam. Er wartete einen Moment, ob direkte Fragen gestellt würden, zumal Herr Lein seine Frau fragend ansah. Aber sie schwieg und hatte den Blick gesenkt. Sie sagte nichts, sie weinte nicht, saß einfach nur so da.

Bekker hatte für solche Situationen immer die gleiche Strategie, die er lediglich nach der spezifischen Erkrankung des betroffenen Patienten variierte und nach seiner persönlichen Einschätzung der Belastbarkeit seiner Ansprechpartner. Auch die Vorbildung spielte eine Rolle; mit einem Arzt konnte man anders reden als mit einem Steuerberater oder einem Handwerker. Jedoch, es gab psychische Belastungen, wo intellektuelle Merkmale in den Hintergrund traten.

Je härter das Schicksal die Menschen traf, desto ähnlicher wurden sie einander. Dieser Fall war für ihn besonders bedrückend. Ein zwölfjähriges Mädchen. Ein unschuldiges Kind, beatmet auf seiner Intensivstation. Wahrscheinlich aus einem fröhlichen, unbeschwerten Leben herausgerissen, von einem Moment auf den anderen. Ohne jede Vorankündigung. Jenny war im gleichen Alter, auch blond, ein bisschen pummeliger vielleicht wie die Kleine mit ihren vielen Schläuchen in der stillen Box. Er hatte seine Kinder schon seit einigen Wochen nicht mehr gesehen und beschloss, nach der Besprechung sofort bei Birte anzurufen. Er wollte unbedingt wissen, dass es ihnen gut ging. Jetzt ging er in die Hocke, um mit den Eltern einigermaßen auf Augenhöhe zu sein. Dieses Gespräch war von allen das wichtigste. Sie würden sich noch viel zu unterhalten haben, und es galt, den Grundstein zu legen für gegenseitiges Vertrauen und gegenseitigen Respekt.

Bekker bevorzugte absolute Offenheit, und er spekulierte nicht. Dezidierte Einschätzungen über Behandlungsdauer und Erfolgschancen ließ er sich grundsätzlich nicht entlocken, jedenfalls nicht in Zahlen. Mancher hatte schon hier gesessen und erwartet, dass er eine exakte Prognose abgab, etwa ‚Überlebenschance von dreiunddreißigkommafünf Prozent‘ oder so. Bekker wusste, es gab Kollegen, die sich aus Selbstüberschätzung oder aus Mitleid zu so etwas hinreißen ließen. Er nicht. Aber die Diagnosen, mit den daraus resultierenden Konsequenzen für die Unversehrtheit des Kranken, mussten in aller Offenheit dargelegt werden. Schonungslos. Es nutzte nicht, vor lauter Mitgefühl ein rosarotes Bild zu malen. Die betroffenen Menschen waren gestraft genug. Keiner konnte das seelische Desaster zerstörter Hoffnungen nachempfinden. Lieber die Dinge etwas schwärzer malen, als man selbst sie einschätzte.

„Also lassen Sie mich noch einmal von vorne beginnen. Sie können mich jederzeit unterbrechen, ganz gleich, was Ihnen auf der Seele brennt. Sie wissen, es gibt keine dummen Fragen, nur dumme Antworten.“ Er lächelte, aber seine Augen blieben ernst. „Ihre Tochter wurde vom Auto angefahren, soviel wissen wir. Was genau abgelaufen ist, hat im Moment für uns keine Bedeutung. Allerdings ist sicher, dass Ihr Kind von der linken Seite angefahren wurde. Ich komme gleich darauf zurück. Bei diesem Unfall hat ein sehr heftiger Zusammenprall stattgefunden. Ohne falsche Hoffnungen wecken zu wollen – es ist ein Glück, dass Friederike nicht das Geringste am Kopf abbekommen hat. Auch die Wirbelsäule und das Becken sind nicht verletzt.“ Bekker wusste nicht genau, wieweit die Eltern die bisherigen Informationen aufgenommen hatten und wiederholte deshalb das Wesentliche noch einmal.

„Ihre Tochter hat eine glatte Oberschenkelfraktur auf der rechten Seite. Das ist kein Problem, weder für uns noch den Operateur. Auf der anderen Seite sieht es weniger gut aus. Der linke Oberschenkel ist mehrfach gebrochen, Trümmerfraktur nennt man das, und ähnlich verhält es sich mit den Rippen.“

Das Ehepaar saß da, stummes Entsetzen in den Gesichtern.

„Die Frakturen des Oberschenkels lassen sich operativ gut richten. Bei einem jungen Menschen sowieso. Das Hauptproblem ist die linke Lunge.“ Ein erster Blick mit vorsichtigem Unverständnis.

„Die Lunge?“ sagte der Vater leise. „Ist denn die Lunge verletzt? Sind es denn nicht nur ein paar Rippenbrüche?“ Er lächelte schief, hilflos. „Natürlich meine ich nicht ‘nur‘. Das ist alles schlimm genug. Aber die Lunge? Ich dachte, an der wäre nichts groß verletzt.“ Es klang fast wie ein Vorwurf. So, als ob Bekker diese Verletzung eigenmächtig hinzugefügt habe. Bekker nahm es gelassen. Gespräche dieser Art entwickelten sich manchmal zu einem regelrechten Handel. Die Betroffenen taten alles, die schlimmen Nachrichten zu entschärfen. Sie versuchten mit einer Art naiver Verzweiflung das Positive, die Hoffnung in den Vordergrund zu rücken und die schreckliche Realität zurückzudrängen. Als er antwortete, sah er Frau Seelmann zuerst an und dann wieder die Eltern.

„Das ist richtig. Aber eine Rippe ist in mehrere Teile zerbrochen, und eines dieser Fragmente hat die Lunge verletzt. Nicht sehr schwer. Eine Einspießung von vielleicht zwei, drei Zentimetern.“ Bekker sah einen Hoffnungsschimmer in den Augen des Vaters, fuhr aber unbeirrt fort, „Das ist aber, leider, nicht das Hauptproblem. Davon rede ich nicht in erster Linie.“ Der Hoffnungsschimmer erlosch.

„Sehen Sie, die beiden Lungenflügel, rechts und links, füllen fast den gesamten Brustkorb aus. Das Herz und die großen Gefäßabgänge sind auch noch da. Das alles gehört ja auch funktionell eng zusammen. Wird nun auf eine Seite des Brustkorbs, wie bei Ihrer Tochter, ein heftiger Stoß ausgeübt, so wird die Lunge für den Bruchteil einer Sekunde gequetscht, selbst wenn die Rippen nicht brechen. Solch eine Verletzung bleibt in vielen Fällen initial unsichtbar, das heißt, man sieht sie in keiner Röntgenaufnahme und auch das erste CT ist weitgehend unauffällig.“ Bekker spürte, dass die Irritation bei den beiden eher zunahm. Eine so schwere Verletzung, aber man sieht sie nicht? Woher wollte er überhaupt wissen, dass es diese Verletzung wirklich gab? Bekker wusste genau, was sie dachten. Es war jedoch essentiell, dass die Eltern der kleinen Friederike ihn verstanden. Je schneller sie sich darüber klar wurden, dass es bei ihrer Tochter bald auf Leben und Tod gehen könnte, desto besser. Auch wenn im Moment für den Laien, aber auch für den unerfahrenen Arzt keinerlei Anzeichen auf eine solche Entwicklung hindeuteten.

„Sehen Sie Frau Lein, Herr Lein. Ich male keine Schreckgespenste an die Wand. Warum sollte ich? Bitte versuchen Sie sich einmal das Organ Lunge vorzustellen. Die Lunge ist kein solides Organ wie Niere oder Leber, sondern ein verletzliches Geflecht aus Millionen von luftgefüllten Bläschen, mit hauchdünnen Wänden, die von einem Netz feinster Blutgefäße eingesponnen oder direkt von Blut umspült sind. Nur diese riesige Austauschfläche kann die lebensnotwendige Atmung, die Aufnahme von Sauerstoff und die Entfernung von Kohlendioxyd bewältigen.“

„Herr Professor Bekker, meinen Sie nicht, dass das jetzt ein bisschen zu speziell ist. Ihre Mühe in Ehren, aber wir wollen keinen Privatunterricht von Ihnen haben, sondern nur wissen, wie es unserem Kind geht und welche Möglichkeiten es gibt, ihm zu helfen. Wir sollten ein wenig Rücksicht auf meine Frau nehmen. All diese Details machen es für sie doch nicht besser.“ Herr Lein hatte sich kerzengerade aufgerichtet. Sein Ton war aggressiv. Keine Frage, er würde als erster unter dem seelischen Druck zusammenbrechen, und er hatte bis jetzt nicht verstanden, worum es ging. Oder nicht verstehen wollte. Frauen waren die Stärkeren. Zum ersten Mal hob Frau Lein den Blick. Sie sah Bekker an, sprach aber zu ihrem Mann.

„Robert, ich bin der Meinung, wir sollten den Professor aussprechen lassen. Ich denke, er will uns etwas begreiflich machen, was wir bisher nicht realisiert haben. Und ich möchte es verstehen. Und Du doch auch, Liebling.“ Sie wendete sich ihrem Mann zu und legte ihre schmale Hand auf seinen Unterarm. „Dafür ist keine Zeit zu schade.“ Ihr Mann nickte stumm und zuckte in einer hilflosen Geste die Schultern. Sein Blick wendete sich seiner Frau mit großer Zärtlichkeit zu und großem Vertrauen. Bekker spürte ein unbestimmtes Gefühl der Eifersucht. Sie sah ihn wieder an, ließ dabei die Hand auf dem Arm ihres Mannes.

„Wenn ich Sie richtig verstanden habe, hat die Lunge einen heftigen Stoß bekommen und ist dabei gequetscht worden. Die unmittelbaren Folgen dieser Quetschung sind im Moment nicht zu sehen, werden aber wahrscheinlich im weiteren Verlauf noch Probleme machen, und zwar solche schwerwiegender Art. Das hat, wie Sie erklärt haben, mit der besonderen Beschaffenheit des Organs Lunge zu tun. Davon sprechen wir im Moment, richtig?“ Sie hatte es auf den Punkt gebracht. Bekker nickte heftig und lächelte.

„Genau so verhält es sich. Ich hätte es selber nicht besser ausdrücken können. Die Materie ist bereits für den Fachmann ziemlich kompliziert. Dass es ein sehr schwerer Zusammenprall war, zeigen die gebrochenen Rippen. Es bedarf einer großen Krafteinwirkung, bis eine elastische kindliche Rippe zerbricht. Die Reaktion der Lunge selbst verläuft stark verzögert. Die hauchfeinen Wände der luftgefüllten Bläschen, Alveolen genannt, verdicken, wodurch die Aufnahme von Sauerstoff mehr und mehr erschwert ist. Wenn dieser Prozess nicht durchbrochen wird, resultiert zum Ende eine Lunge, die hart ist wie Stein und in der keinerlei Sauerstoffaustausch mehr möglich ist. Ungefähr verstanden?“ Ein fragender Blick zu den Eltern. Die nickten.

„Wäre regelrecht spannend, wenn es nicht um unsere Tochter ginge“, sagte Frau Lein mit dem Anflug eines Lächelns.

„Früher, als man sich damit nicht ausgekannt hat, sind Patienten manchmal eine Woche nach überstandenem Unfall aus scheinbarem Wohlbefinden plötzlich verstorben. Der Pathologe findet dann ein Organ, das eher einer Leber ähnlich sieht, eine ‘hepatisierte Lunge‘. Der linken Lunge von Friederike droht im schlimmsten Fall ein solches Schicksal, wohlgemerkt, im schlimmsten Fall. Entschieden ist gar nichts.“ Bekker holte tief Luft, schwieg dann einen Moment. Die Luft in dem kleinen Raum war stickig. Bekker stand auf und kippte das Fenster. Draußen schien die Sonne. Er wandte sich wieder dem Ehepaar zu.

„Ich weiß, das war jetzt ziemlich detailliert, aber nur so können Sie verstehen und akzeptieren, was in den nächsten Tagen mit Ihrer Tochter geschieht. Prävention heißt das Zauberwort. Verhindern, dass die Lungenveränderungen in so schwerer Form überhaupt stattfinden. Dazu gehört neben allerlei medikamentösen Maßnahmen vor allem die Fortführung der künstlichen Beatmung über einige Tage. Vielleicht sogar Wochen. Dabei werden wir die beiden Lungenflügel gegebenenfalls getrennt beatmen, also jede Seite mit einem eigenen Gerät. Ich denke aber, dass ich darauf ein anderes Mal genauer eingehe. Es war genug Intensivchinesisch bis jetzt. Wichtig für Sie ist Geduld. Es wird ein längerer Krankheitsverlauf, aber ich bin zuversichtlich.“ Die angespannte Miene der Angesprochenen gab ein wenig nach, beinahe lächelten sie. Sie schienen erleichtert. Es gab also Hoffnung. Nur das zählte. Der Mann sprach als erster.

„Können wir irgend etwas tun? Wann sollen wir anrufen und sie besuchen? Sie haben hier viel zu tun, das sieht man ja, und wir wollen den Betrieb nicht stören. Nützt schließlich auch unserer Tochter.“ Bekker erhob sich aus der unbequemen Hocke.

„Rufen Sie an, wenn Ihnen danach ist. Ansonsten, die beste Tageszeit zum Telefonieren ist später Vormittag. Oder auch sehr früh, vor sechs. Es ist rund um die Uhr ein Arzt da. Besuchszeit ab fünfzehn Uhr. Auch hier gilt: kommen Sie ruhig, wenn Sie es nicht aushalten. Ihre Tochter ist zwar im künstlichen Tiefschlaf, aber sie merkt mit Sicherheit, dass Sie da sind. Wissen Sie, ich glaube nicht an die alleinseligmachende Medizin. Die Nähe lieber Menschen tut mehr als manches Medikament. Ich denke, Sie verstehen, was ich meine. Wir sind ein Team, das an einem Strang zieht. Sie gehören von Anfang an dazu. Nehmen Sie uns beim Wort.“ Die Oberärztin sah ihn scharf von der Seite an. Bekker war in seinem Element, und sie versuchte ihn davon abzuhalten, in eine seiner Endlospredigten über das Menschliche im allgemeinen und in der Medizin im besonderen zu verfallen, so sehr sie ihn für seine Einstellung schätzte. Sie nutzte die entstehende Pause, um Frau Lein direkt anzusprechen.

„Ich schlage vor, Sie gehen noch einmal zu Ihrer Tochter hinein. Ich gehe mit Ihnen, wenn Sie möchten.“ Frau Lein nickte unmerklich.

„Zuvor aber noch eine kurze Frage. Gibt es irgendwelche Vorerkrankungen bei Friederike? Unwahrscheinlich in dem Alter, aber sicher ist sicher.“

„Nein, sie ist ein vollkommen gesundes Kind.“ Ein kurzes, schmerzliches Zögern. „Jedenfalls war sie es bis heute.“

„Okay. Sonst noch etwas. Allgemeine Entwicklung normal? Ich nehme an, sie hat bereits ihre Periode.“ Frau Seelmanns Ton war geschäftsmäßig. Heutzutage hatten die Mädchen ihre Regel manchmal schon mit zehn Jahren. Sie wollte aufstehen und sah die Mutter an. Erschrocken hielt sie inne. Sybille Leins Fassade begann zusammenzubrechen. Ihr Blick ging ins Leere, und sie begann ohne jeden Übergang lautlos zu weinen. Sie schluchzte und schrie nicht, aber sie weinte hemmungslos, wobei die Tränen in endlosem Strom über ihre Wangen liefen. Regina Seelmann griff in ihre Kitteltasche und zog ein frisches Taschentuch hervor.

Sie wusste sofort, was die Frau aus ihrer mühsam gewahrten Fassung gebracht hatte. Es war die Erwähnung einer Banalität, einer Alltäglichkeit. Die Periode ihrer Tochter. Das gleiche junge Mädchen, das schwerverletzt auf einer Intensivstation lag und vielleicht sterben musste. Ja, sie hatte ihre Periode. Genau in diesem Moment musste der Mutter klar werden, dass sie alles dafür geben würde, ihrer kleinen Tochter weiterhin bei den Problemen mit der beginnenden Weiblichkeit zu helfen. Genau in diesem Moment fragte sie sich, ob sie die bisherige Zeit mit ihrem Kind genutzt hatte. Jetzt, wo Zeit plötzlich kostbarer war als alles andere und ihr gemeinsames Leben und Erleben vielleicht viel kürzer sein würden, als sie geglaubt hatte.

Bekker streckte sich vorsichtig. Gefühlsausbrüche machten ihn unsicher, da er selbst schnell in Wallung geriet. Er entschloss sich, die Eheleute der Oberärztin zu überlassen.

„Besprechen Sie die Tracheotomie und die Peridurale, wenn Sie den Eindruck haben, dass die Leute das noch verkraften für heute“, raunte er ihr beim Hinausgehen zu. Es war für ihn alles Wesentliche gesagt. Er hatte wie stets jede Spekulation über die Prognose unterlassen und war heute besonders froh darüber.


Das Hospital

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