Читать книгу Existenzielle Gewissheit und individuelle Beständigkeit - Bernardo Gut - Страница 11
4. Relatives und absolutes Erlöschen des Anspruches
ОглавлениеVerpflichtung und Anspruch, die beide in dem vollständigen sozialen Akt eines rechtskräftig gewordenen Versprechens begründet werden, stellen Rechtsgebilde relativer Natur dar: der Versprechende hat sich in Bezug auf den Adressaten (und nur relativ zu ihm) verpflichtet; worauf Letzterem gegenüber Ersterem (aber keinem Weiteren) ein Anspruch erwachsen ist. Gleichwie das Entstehen dieses Rechtsgebildes sich aus dem Begriff Versprechen wesensgesetzlich, das heißt: von selbst, ergibt, ebenso gelten auch für das Erlöschen des dem Adressaten zugestandenen Anspruches strenge, begriffsimmanente Zusammenhänge. Auseinanderzuhalten haben wir dabei zwei grundsätzlich verschiedene Fälle:
(i) Der Versprochenhabende erfüllt die von ihm eingegangene Verpflichtung: dadurch wird das zwischen ihm und dem Adressaten geknüpfte Rechtsgebilde definitiv aufgehoben.
(ii) Der Versprechensadressat verzichtet auf den ihm zustehenden Anspruch. Indem er seinen Verzicht dem Versprochenhabenden bekanntgibt, entbindet er ihn von dessen Verpflichtung.
Während der Anspruch als solcher ein Recht darstellt, welches dem Adressaten nur erwächst, wenn der Andere ein Versprechen äußert, das der Adressat vernimmt und versteht, kommt diesem das Recht zu, auf die Erfüllung oder Einlösung des Anspruches zu verzichten, unabhängig von irgendwelchen Taten des Versprechenden. Daran zeigt sich, dass das Recht auf Verzicht von absoluter Natur ist24.
Auf der Seite des Versprechenden gibt es dazu – nach vollendetem Versprechensakt – nichts Äquivalentes. Versprach ich leichtsinnig einem Freund, ihm 1.000 CHF zu geben, wenn er schwimmend den Zürichsee von Horgen nach Meilen und wieder zurück in einem Zug und ohne Hilfsmittel überquere, und hat er das Versprechen vernommen, so kann ich mich selbst nicht davon entbinden. Eine Chance, mich von der eingegangenen Verpflichtung zu befreien, hätte ich allenfalls noch, wenn der Freund – nur zu nachsichtig – vor dem «Abgemacht!» noch ein «Im Ernst?» fallen ließe.
Bereits an diesem halb scherzhaften Beispiel zeigt sich, dass die bisher herausgearbeiteten Gesetzmäßigkeiten, die zum Gesamtphänomen eines Versprechens gehören, völlig unabhängig vom speziellen Inhalt des betreffenden Versprechens sind; wir haben sie vielmehr als unabdingbare Merkmale oder Inhaltsformen des Begriffes Versprechen anzusehen. Sie gelten für jedes Versprechen, sei nun dessen Inhalt ernst oder lächerlich, von hoher moralischer Qualität oder ethisch neutral oder tief verwerflich.
Aus diesem Grunde wird deutlich, dass wir ein konkretes Versprechen nicht für sich allein betrachten dürfen, sondern dessen Beziehungen zu anderen Aspekten der Rechtssphäre ermitteln und berücksichtigen sollten; dies auf die Gefahr hin, dass dadurch sowohl für den Versprochenhabenden die eingegangene Verbindlichkeit – als auch der dem Adressaten erwachsene Anspruch im faktischen sozialen Kontext ganz anders beurteilt werden muss, als wenn man das Versprechen (wie im Vorangegangenen geschehen) als isoliertes Phänomen analysiert. Dies soll an einem klassischen Beispiel veranschaulicht werden.