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5. Antonio und Shylock – Einbindung des Versprechens in die gesamte Rechtssphäre
ОглавлениеBei dem berüchtigten Vertrag zwischen Antonio und Shylock in Shakespeares Kaufmann von Venedig hat sich Antonio, für den Fall, dass er die entliehenen 3000 Golddukaten nicht termingerecht zurückzuerstatten vermag, Shylock gegenüber verpflichtet, ihm zu gestatten, ein Pfund Fleisch aus seinem (Antonios) Körper heraus zu schneiden25. Shakespeare lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass sowohl die grausige Verpflichtung als auch der mörderische Anspruch formal zu Recht bestehen. Ob beabsichtigt oder nicht, es offenbart sich daran die Stärke der einem beliebigen Versprechen inhärierenden formgebundenen Verpflichtung in ihrer ganzen Radikalität.
Eine ganz andere Frage ist jedoch, ob der widerliche Vertrag überhaupt rechtsgültig hätte geschlossen werden können. Im Theaterstück wird das Vertragsansinnen nicht expressis verbis verneint, sondern die «Rechtsgelehrte» Portia hebt hervor, dass (a) im Vertragstext nur von einem Pfund Fleisch ohne Blut die Rede ist26 [als ob das möglich wäre!] und (b) Shylock einen Prozess wegen Mordes, oder weil er dem Leben Antonios nachstellt, riskiere oder bereits auf sich gezogen habe27. Abgesehen von allen anderen gravierenden rechtlichen Unzulänglichkeiten der betreffenden Gerichtsfarce im Kaufmann von Venedig (man denke nur an die falsche Identität der «Rechtsgelehrten» Portia, an die faktische Ausschaltung des Richters sowie daran, dass die Einheit der Materie verletzt wird: denn zur Debatte steht die Erfüllung des Vertragsinhaltes, nicht die allfällige Verurteilung von Shylock), ist es ethisch und formaljuristisch stoßend, dass der Vertrag mit dem Pfund Fleisch an sich zwar als rechtsgültig angesehen wird, Shylock jedoch im Nachhinein wegen des Vertragsinhaltes verurteilt wird.
Sobald wir nämlich anerkennen, dass den Prinzipien der Unverletzlichkeit der Person und der Wahrung der Menschenwürde unbedingter Vorrang gebührt, derart, dass jedes Versprechen und jeder Vertrag ihnen unterzuordnen ist und ihnen zu genügen hat, wird einsichtig, dass der Vertrag zwischen Antonio und Shylock gegen die genannten Prinzipien sowie, ganz allgemein, gegen die guten Sitten verstoßen hätte – und somit im Vorhinein als nichtig hätte erkannt werden müssen28. Hieraus ersehen wir, von welch zentraler Bedeutung die Aufgabe ist, die genannten Prinzipien zu begründen, mithin zu klären und zu rechtfertigen – ein Thema, das Gegenstand des zweiten und des dritten Teiles der Urphänomene der Rechtssphäre sein wird.
Überblickt man das bis hierher Entwickelte, so veranschaulicht es uns zweierlei:
(i) Jedem Versprechen als solchem inhärieren begriffsimmanente Gesetzmäßigkeiten, sowohl was die Inhaltsform anbelangt als auch was das Zustandekommen und das Erlöschen des im Versprechen gründenden Anspruchs und der dazu gehörenden Verbindlichkeit betrifft. Wie die oben unter 3. gegebene Charakterisierung dessen, was mit dem Ausdruck ‹Versprechen› gemeint ist, gezeigt hat, sind die dem Gesamtphänomen des Versprechens wesenseigenen Zusammenhänge nicht abhängig von irgendwelchen externen Kategorien, seien es solche des positiven Rechtes oder allgemeiner Rechtsprinzipien, sittlicher Anschauungen bzw. anderweitig erlassener Gebote und Verbote – dies deshalb, weil wir dasjenige, was ein Versprechen ausmacht, erläutern können, ohne dass wir auf eine der genannten Kategorien zurückgreifen müssten.
(ii) Anders sieht jedoch die Situation aus, wenn wir vom reinen Begriff Versprechen zu einem beliebigen konkreten Versprechen übergehen. Hier gilt, dass es nicht ein einziges, von einem Versprechenden einwandfrei formuliertes und von dem jeweiligen Adressaten klar und deutlich vernommenes Versprechen gibt, für dessen Erwahrung in Rechtskraft nicht gezeigt werden müsste, dass Form und Inhalt des Versprechens den grundlegenden Rechtsprinzipien und sittlichen Anschauungen nicht widersprechen.