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4. Fundamentale Menschenrechte

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Psychische Tatsachen (Erlebnisse, Prozesse) in engerem Sinne, die sich nicht auf ein Etwas als Objekt bezögen, sind ebenso wenig denkbar wie psychische Phänomene in engerem und weiterem Sinne, die unabhängig von einem sie erfahrenden Individuum wären: So gibt es keine Liebe, ohne Liebenden und Geliebtes; keinen Zorn, ohne Erzürnten und das, worauf sein Zorn gerichtet ist; keine Vorstellung, ohne jemanden, der ein Etwas vorstellt. Und im schwer ergründbaren Bereich der seelischen Grundbefindlichkeit gehört zu jeder gedrückten und zu jeder gehobenen Stimmungsnuance ein die betreffende Befindlichkeit erlebendes Subjekt. Daher ist dem für ein Fremd-Ich Blinden und Tauben alles Seelisch-Geistige höchstens in defizienter, rudimentärer Ausprägung zugänglich. Wer beispielsweise die Furcht, ohne den sich Fürchtenden zu erfahren und zu verstehen sucht, denkt abstrakt. Darüber hinaus muss ihm letztlich die Qualität all jener Phänomene verborgen bleiben, die, ohne dass sie auf bestimmte Gegenstände gerichtet wären, personengebunden auftreten, wie dies bei den Stimmungen der Fall ist.

So wird der für ein fremdes Ich Abgestumpfte hinsichtlich seelischer Erfahrungen im Wesentlichen zurückgeworfen auf das Erleben eigener Organempfindungen und der daran gebundenen Affekte. Und weil er Anderen nicht zubilligt, dass sie aus sich heraus originäre Intentionen setzen können und freie Entschlüsse zu ergreifen vermögen, kann er – der keinen Freien toleriert – sich auch nicht als ein Freier unter Freien bewähren.

Fremde Ichs wahrzunehmen, impliziert, sie als da-seiend anzuerkennen, und dies geht einher mit dem Vermögen, das, was jene fühlen, vorstellen und beabsichtigen, in mir selbst als solches zu intendieren. Damit zusammenhängend, wird des Einzelnen Drang, sich auszubreiten und zu imponieren, mit der Präsenz eines Anderen und dem Interesse für das, was ihn beschäftigt, gebremst: die äußere Gegenwart des Anderen, aber auch die innere Beschäftigung mit seinen Anliegen stellen sich der ungehemmten Daseinsentfaltung meiner selbst entgegen, sie hemmend und relativierend.

In dem Maße wie ich im Anderen ein dem Eigen-Ich entsprechendes Fremd-Ich vernehme, verwandelt sich dessen Person für mich in ein mir gleichrangiges Rechtssubjekt – und von diesem Augenblick an bin ich bereit, den rationalen Rechtsdiskurs zu eröffnen, der zur eigentlichen Begründung und Entwicklung der Rechtssphäre führt. Nur insofern ich den Anderen als ein Wesen, dem Rechte (und damit auch Pflichten) zukommen, gelten lasse, erfasse ich mich selbst realiter als Rechtssubjekt – im Austausch mit dem Anderen.

Dadurch, dass wir uns selbst in einer langen Folge von Ablösungsschritten (von Mutter, Vater, Mentoren, Idolen) als werdende Persönlichkeiten zu begreifen suchen, können wir das Vorhandensein fremder Ichs faktisch nicht leugnen. Von früher Kindheit an haben wir uns immer wieder veranlasst gesehen, uns bestimmten Ansprüchen, Übergriffen, Vorschriften Anderer zu widersetzen, uns ihrer Besorgnis und anmaßenden Präsenz zu entziehen – dies freilich in unterschiedlicher Radikalität. Weil jeder Einzelne seinen jeweiligen Persönlichkeitsstand mannigfachen Absetzungen, Negationen und fortgesetzten, langwierigen Verhandlungen verdankt, ist ihm der Wert von Auseinandersetzungen vertraut. Und damit hat er, vielleicht ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, im Verlauf seiner eigenen Entwicklung einen rationalen, rechtlichen Diskurs praktiziert. Wer sich dieser Sachlage bewusst wird, dem leuchtet die feinsinnige Beobachtung von Carlos Santiago Nino (3.11.1943–29.8.1993) in ihrer ganzen Brisanz auf: «Sogar die schamlosesten Tyrannen fühlen sich dazu verpflichtet, eine gewisse Rechtfertigung für ihre Handlungen anzubieten, und dieser Rechtfertigungsversuch – wie plump und scheinheilig er auch sein mag – öffnet den Weg zu aufklärender Diskussion»12.

Besinnen wir uns nun auf die im Vorangegangenen hervorgehobenen Momente der Individualentwicklung, des Anerkennens von fremden Ichs, der rechtsrelevanten Beziehungsfiguren und der allgemeinen Kennzeichen der Rechtssphäre, so dürften wir dafür vorbereitet sein, die vier prinzipiellen Forderungen anzuerkennen, die, wie Nino unterstrichen hat, jedes Mitglied einer echten Rechtsgemeinschaft gegenüber seinesgleichen stellt und deren konkrete Ausgestaltung im jeweiligen rechtlichen Diskurs stattfindet13. Es geht um folgende claims (geforderte Rechtsansprüche) und liberties (gewährte bzw. ergriffene Freiheiten):

1. Forderung nach Selbständigkeit der Person (Autonomie-Prinzip), ein Postulat, demzufolge niemand dazu befugt ist, einem Rechtssubjekt zu verbieten, dessen eigene Lebenspläne zu schmieden und in dem Maße zu verwirklichen, als es dadurch andere Rechtssubjekte nicht daran hindert, ihre eigenen Lebenspläne unter Wahrung äquivalenter Kriterien zu entwerfen und auszuführen.

2. Forderung nach Wahrung der Würde (Dignitäts-Prinzip), ein Postulat, gemäß welchem es niemandem gestattet sei, ein Rechtssubjekt seiner Subjektität und prinzipiellen Rechtsfähigkeit zu entheben – dies auch dann nicht, wenn der betreffende Mensch sich in Bezug auf andere Individuen in Rechtsverhältnisse begeben hat, die ihm nur Bürden auferlegten und keine Rechtsgunst einbrachten. –

Während das 1. Postulat das im Ich-Kern selbst gründende Wesensmerkmal, eigene Lebensziele zu setzen, anspricht und das 2. Postulat die grundsätzliche Rechtsfähigkeit schützt, geht es in den zwei weiteren Forderungen um die Integrität der seelischen und körperlich-leiblichen Wesensteile des Individuums und um die durch sie vermittelten Erlebniskomponenten:

3. Forderung nach Unantastbarkeit (Unverletzlichkeit) der Person (Inviolabilitäts-Prinzip), ein Postulat, dank dem wir sicherstellen wollen, dass grundsätzlich niemand dazu berechtigt sei, ein Individuum körperlich-leiblich zu versehren (zu foltern) oder psychisch zu quälen – und dies insbesondere auch nicht im Gefolge von Rechtsstreitigkeiten.

4. Anspruch auf sinnenvermittelte Freude und Lust (Hedonismus-Prinzip). Damit halten wir fest, dass jedem Individuum ein Recht auf sinnenvermittelte Lusterlebnisse zusteht (sowohl organgebundene Empfindungen als auch die durch Sinneseindrücke ausgelösten Gefühle sensu stricto), welche für die Entfaltung menschengerechten Daseins unentbehrlich sind. –

Diese vier von C. S. Nino umfassend begründeten Forderungen gehören zur Kategorie der Rechtsansprüche, der claims bzw. der von den Mitmenschen gewährten und vom Einzelnen ergriffenen lieberties (Freiheitsrechten zu etwas). In meinen Augen bilden sie den Fundus rechtsrelevanter Forderungen, die in der Subjektität des menschlichen Individuums begründet sind und sie kennzeichnen. Keinem Wesen, dem das von H. Arendt hervorgehobene Merkmal zukommt, Rechtssubjekt zu sein und mithin am Rechtsdiskurs teilnehmen zu können, dürfen wir die Fähigkeit absprechen, jene Postulate zu erheben und geltend zu machen. Indem er sie äußert und vertritt, negiert der Einzelne, identisch mit den Anderen zu sein. Er erklärt sich grundsätzlich als ihnen ebenbürtig und fordert für sich und für Andere die betreffenden privileges, liberties, das heißt: die dem Einzelnen wesentlichen Freiheitsrechte, etwas zu tun bzw. zu unterlassen. Das bedeutet jedoch: Jeder Einzelne fordert von den Anderen – in einem Staatswesen mithin von den staatlichen Organen –, dass sie ihm grundsätzlich die Autonomie, die Dignität, die Unverletzbarkeit der Person und das Aufsuchen und Erfahren von Freude und Lust zugestehen. So handelt es sich bei den zum Wesenskern der sich entwickelnden Persönlichkeit gehörenden Forderungen rechtlich gesehen um Forderungen nach liberties, nach verbrieften, gewährten Freiheitsrechten, etwas zu tun bzw. zu unterlassen. Diese, das menschliche Wesen auszeichnenden Grundforderungen, deren Erwahrung dem Einzelnen ein menschenwürdiges Dasein ermöglicht, müssen die Individuen eines Gemeinwesens von den jeweils Anderen, insbesondere von den Vertretern eines Staatswesens immer wieder neu erkämpfen, erstreiten, abtrotzen und unermüdlich verteidigen. Denn die zu den integrierenden Merkmalen der sich entwickelnden Persönlichkeit zählenden Prinzipien – insbesondere jene der Autonomie und der Dignität – schränken die Macht der Regierenden jeder Couleur ein. Daher gehört, als Ergänzung zu den genannten ideellen Grundforderungen des Einzelnen, die moralische Pflicht des Individuums, dafür zu kämpfen, dass im positiven Recht die Gewährung und der Schutz der vier Grundforderungen verankert seien. Ferner gehört es zu seiner moralischen Pflicht, sich gegen deren Aufhebung zu widersetzen – und sei letztere auch nur als zeitlich begrenzte Maßnahme vorgesehen.

Die vier Postulate umschreiben also die fundamentalen Kennzeichen eines Menschen, der als werdende Persönlichkeit die sich entfaltende und wandelnde Rechtssphäre mitzugestalten berufen ist. Die Forderungen erweisen sich als unabhängig von jeder Gruppenkategorie und zeichnen sich so als übergeordnete Rechtsprinzipien freier Individuen aus. Sie ersetzen die positive Gesetzgebung nicht, stellen aber Leitgedanken dar, die nur dann Bedeutung erlangen, wenn jeder Einzelne, der sie anzuerkennen vermag, sie im Diskurs vertritt, sie verteidigt, seine eigene Handlungsweise nach ihnen ausrichtet. –

Existenzielle Gewissheit und individuelle Beständigkeit

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