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Einleitung
Оглавление«Alle Begründungen von bestimmten Rechten, wie sie z.B. die Naturrechtlehrer versuchten, sind Sophistereien. Alles Recht hat seinen Ursprung in der Macht. Der Stärkere überwindet den Schwächeren und drängt ihm seinen Willen auf. Dieser richtet sich nach jenem; was der erstere will, gilt als Recht. Nachdenken darüber, ob jemand ein Recht wirklich zustehe, beruht auf einem Verkennen dieses Charakters des Rechtes. Wie lange ein Recht gilt, kann nur davon abhängen, wie lange derjenige, der sich das Recht erobert hat, es zu verteidigen im Stande ist.» Diese Sätze schrieb R. Steiner (1861–1925) als erläuternde Fußnote zu J. W. v. Goethes (1749–1832) Aphorismus: «Welches Recht wir zum Regiment haben, danach fragen wir nicht – wir regieren. Ob das Volk ein Recht habe, uns abzusetzen, darum bekümmern wir uns nicht – wir hüten uns nur, dass es nicht [sic!] in Versuchung komme, es zu tun»2.
Gehen wir von diesen Behauptungen bzw. Maximen aus, so müssen wir annehmen, dass weder der gefeierte Entdecker der Existenz von Urphänomenen sinnlicher Modalität, der auch den Ausdruck ‹Urphänomene› geprägt hat3, noch sein namhafter Interpret, dessen erklärtes Ziel es war, die dem phänomenologischen Ansatz Goethes entsprechende Erkenntnistheorie zu formulieren, in Hinblick auf die Rechtssphäre das Bestehen – geschweige die Relevanz – eines Sachverhaltes anzuerkennen bereit gewesen wäre, der dem Einen wie dem Anderen im Bereich des Physikalisch-Chemischen als das Wertvollste gegolten hat: das Vorhandensein sachbezogener, objektiver Urphänomene oder Grundgesetze. Es sei denn, wir fassten als rechtliches Urphänomen eben dies auf, dass jegliche effektive Rechtssatzung die aktuellen Machtverhältnisse widerspiegle, eine Lesart, die freilich dazu führte, dass wir dem Terminus ‹Urphänomen› in rechtlicher Hinsicht einen bloß übergeordnet-formalen Sinn, nicht jedoch eine inhaltlich-konkrete Bedeutung zuerkennen würden.
Hervorheben möchte ich, dass die zitierte Aussage Steiners nicht episodischer Natur ist. So bemerkt er an anderer Stelle: «Es gibt keine allgemeinen Gesetze darüber, was man tun soll und was nicht. Man sehe nur ja nicht die einzelnen Rechtssatzungen verschiedener Völker als solche an. Sie sind auch nichts weiter als der Ausfluss individueller Intentionen. Was diese oder jene Persönlichkeit als sittliches Motiv empfunden hat, hat sich einem ganzen Volke mitgeteilt, ist zum Recht dieses Volkes geworden»4. Damit zusammenhängend, geht Steiner so weit, dass er der Rechtskunde jeglichen Wissenschaftscharakter abspricht: «Die Jurisprudenz ist keine Wissenschaft, sondern nur eine Notizensammlung jener Rechtsgewohnheiten, die einer Volksindividualität eigen sind»5.
Die angeführten Überlegungen Steiners gehören dem Frühwerk an, stammen aus seinem Wirken vor der Jahrhundertwende. In seinen späteren Jahren hat er bei seinem Entwurf einer Dreigliederung des sozialen Organismus eine Sphäre – Steiner spricht von ‹System› – öffentlichen Rechts definiert, «wo man es zu tun hat mit dem rein menschlichen Verhältnis von Person zu Person», und in diesem Kontext habe man «zu erstreben die Verwirklichung der Idee der Gleichheit»6. Aber auch dieser Idee kommt nur eine allgemeine regulative Bedeutung zu; sie ist ein Leitgedanke, kein inhaltlich konkretes Urphänomen.
Nicht nur lehnte es Steiner ab, anzuerkennen, dass es der Rechtssphäre eigentümliche, allgemein gültige Grundgesetze gibt, er verwarf auch jegliche Ethik als Normwissenschaft7. Diesbezüglich war Goethe weniger explizit; irritierend wirkt allerdings, dass er beispielsweise nichts von den Vorstößen hielt, die Kapitalstrafe nicht mehr zu verhängen. So notierte er: «Wenn man den Tod abschaffen könnte, dagegen hätten wir nichts; die Todesstrafen abzuschaffen, wird schwer halten. Geschieht es, so rufen wir sie gelegentlich wieder»8. Und: «Wenn sich die Sozietät des Rechtes begibt, die Todesstrafe zu verfügen, so tritt die Selbsthilfe unmittelbar wieder hervor, die Blutrache klopft an die Tür»9. Steiner, der ansonsten sehr beflissen war, Goethes Sprüche in Prosa ausführlich zu kommentieren, hat sich über diese von kühler Skepsis oder bloßem Regierungskalkül diktierten Zynismus hinweggeschwiegen; was um so auffallender ist, als er die den zitierten Sprüchen unmittelbar vorangehenden und die auf sie folgenden Aphorismen Goethes mit teilweise langatmigen Fußnoten versehen hat.
Die im Voraufgegangenen angeführten Äußerungen Steiners und Goethes zeigen mit ernüchternder, je erschreckender Deutlichkeit, dass wir bei der Suche nach inhaltlich verbindlichen Urphänomenen der Rechtssphäre und nach einer ethischen, wesensgemäßen Grundlegung der Menschenrechte uns weder direkt auf die denkerischen Ansätze Steiners berufen können, noch eine explizite moralische Stütze in Aussagen Goethes finden werden. Wer, enttäuscht, daraufhin das Schrifttum vieler anderer, zeitgenössischer und insbesondere «klassischer», Denker konsultiert, dürfte über ähnliche unbehagliche Erfahrungen zu berichten haben. Sehen wir uns kurz bei vier Philosophen um:
Wie könnten wir uns bezüglich der genannten Fragen auf Platon berufen, der die Sklavenhaltung als selbstverständlich hinnahm?10. Was müssen wir von Thomas von Aquin halten, der die rücksichtlose Ausrottung der Häretiker propagierte?11 Mit welcher Skepsis müssen wir Hegels Werk begegnen, der die damalige, autoritäre Gestalt des preußischen Staates zu rechtfertigen suchte?12 Und was dürfen wir von Heidegger übernehmen, ohne Gefahr zu laufen, unbemerkt nationalsozialistische Gedankenkeime mitzuverwenden?13
Damit stehen wir vor der Frage, ob wir tatsächlich nur zwischen einem willkürlich gesetzten kategorischen Imperativ, der, pointiert gesagt, den Einzelnen festnagelt14 – und einem simplifizierten ethischen Individualismus15, der jegliche allgemeine Verbindlichkeit vermissen lässt, wählen können. Oder gibt es ein Drittes, nämlich objektive Rechtsgesetze, die dem ethisch Unfreien zwar vorgeschrieben werden müssen, die sich jedoch auch der Freie zu eigen macht, weil er deren grundlegende Bedeutung einsieht?
Sollte Letzteres zutreffen, so bestünde unsere Aufgabe darin, in freier Erkenntnisarbeit jene Rechtsgesetze aufzudecken, die einerseits an sich bestehen, anderseits auch äußerlich gelten müssen, soll sich jedes einzelne menschliche Individuum grundsätzlich zu einer freien Persönlichkeit entwickeln können. Sofern die gesuchten Gesetze einen derartigen Prozess fördern bzw. erst ermöglichen, hätten sich zwar die oben angeführten Ansichten Steiners über das Rechtswesen hinsichtlich der apriorischen, rein gedanklichen Ebene als unhaltbar herausgestellt, dieser Mangel hieße jedoch nicht zwingend, dass die erkenntnistheoretischen und freiheitsphilosophischen Ansätze Steiners und Solov’evs16 mit den – vorerst noch hypothetischen – Urphänomenen der Rechtssphäre unvereinbar seien. Wie es sich diesbezüglich verhält, wird sich erst im Laufe der Untersuchung erweisen.
Da die Probleme, um die es in diesem ganzen Kontext geht, außerordentlich vielschichtig sind, will ich mich in diesem Aufsatz auf eine einzige Frage konzentrieren: Gibt es objektive, apriorische Rechtsgesetze, d.h. rechtliche Urphänomene?
Gäbe es keine rechtlichen Urphänomene, könnte in der Rechtssphäre nie prinzipiell argumentiert werden; wir wären stets an willkürlich gesetzte Ausgangssätze gebunden, die sich je nach den Ortsgegebenheiten und den Zeitumständen ändern würden, das heißt: sich nach den herrschenden Machtverhältnissen richteten. Ließen sich jedoch echte rechtliche Urphänomene aufweisen, dann würde ein auf verbindlichen Prinzipien fundiertes Rechtsdenken etabliert. Dies müsste sich – wenngleich langsam und durch Rückfälle immer wieder bedroht und behindert – sowohl auf die positiv rechtliche Gesetzgebung als auch auf die bürgerliche Rechtsprechung fördernd und korrigierend auswirken.
Solange die angeführte, grundlegende Frage nicht geklärt ist, vermögen wir auch nichts Verbindliches darüber auszusagen, ob es, beispielsweise, ein objektives, apriorisches Recht auf Eigentum gibt, oder, allgemeiner gefasst, ob es überhaupt Sinn macht, von Menschenrechten zu sprechen – diese verstanden als apriorische, wesensgesetzlich verankerte Urphänomene. Und wenn wir einsehen müssten, dass es aus gegenstandsimmanenten Gründen weder formale noch inhaltliche Rechtsprinzipien geben könne, hieße dies, dass das gesamte Rechtsdenken eines echten theoretischen Fundaments entbehrt und sämtliche Rechtssatzungen – paradoxerweise: notwendig – entweder einem Diktat entspringen oder auf letztlich unverbindlichen Konventionen beruhen. Wie auch immer die Antwort ausfallen mag: erkenntnistheoretisch steht viel auf dem Spiel, und die Konsequenzen in handlungspraktischer Hinsicht sind beträchtlich.