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6. Bestimmungen positiven Rechts – im Widerspruch zu rechtlichen Urphänomenen?
ОглавлениеDie faktische Rechtsgültigkeit eines Versprechens oder Vertrages wird nicht nur davon abhängen, ob der Inhalt, um den es geht, mit den in einer Rechtsgemeinschaft anerkannten grundlegenden Rechtsprinzipien vereinbar ist, sondern wird auch maßgeblich von den Bestimmungen tangiert, die in dem Corpus der Bestimmungssätze des positiven Rechts der betreffenden Gemeinschaft festgehalten worden sind. Reinach schreibt: «Wir haben gesagt, dass, wer Versprechen vollziehen kann, eben damit Verbindlichkeiten auf sich lädt. Wer ein Alter von 20 Jahren hat, kann gewiss Versprechungen aller Art vollziehen, und doch erwächst ihm aus ihnen nicht ohne Weiteres eine vollgültige positivrechtliche Verbindlichkeit; sie erwachsen, wenn der Adressat, in dessen Person der Anspruch allein entstehen kann, das Versprechen vernommen hat. In jedem Punkte scheint dem das positive Recht zu widersprechen. Ein vernommenes Versprechen, ein Darlehensversprechen z.B., begründet in der Regel keinen Anspruch, wenn es nicht in einem besonderen sozialen Akt angenommen ist; andere Versprechungen, z.B. das mündliche Versprechen, ein Haus zu verschenken, begründen, auch wenn sie angenommen sind, keinen Anspruch …»29. Wie also «kann man», fragt Reinach, «apriorische Gesetze mit dem Anspruch auf absolute Gültigkeit aufstellen wollen, wenn jedes positive Recht sich in den flagrantesten Widerspruch zu ihnen setzen kann?»30
Die Erklärung für die zahlreichen Diskrepanzen zwischen den Urphänomenen des Rechts und den Bestimmungssätzen des jeweiligen bürgerlichen Gesetzbuches einer gegebenen Rechtsgemeinschaft sieht Reinach darin, dass die Gesetzbücher nicht Behauptungen enthalten, deren Wahrheitsgehalt bei jedem konkreten Rechtsfall mit zu überprüfen ist, sondern schlicht bestimmen, was in einem gegebenen Fall rechtlich gelten soll31. Wenn, um wiederum ein Beispiel aus dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) heranzuziehen, zur Mündigkeit natürlicher Personen, unter Ziffer 14 des ZGB steht: «Mündig ist, wer das 18. Lebensjahr vollendet hat»32 – so handelt es sich hierbei nicht um eine Behauptung wissenschaftlicher Observanz, die dem Kriterium der Falsifizierbarkeit standzuhalten hätte, sondern es ist ein Bestimmungssatz, der festlegt, wie es sein soll. Dies fällt besonders auf, wenn man den zitierten Wortlaut mit der früheren Fassung vergleicht, wo es unter der gleichen Ziffer 14 hieß: «Mündig ist, wer das 20. Lebensjahr vollendet hat. Heirat macht mündig»33. (Der zweite Satz wurde in der Fassung vom 7. Oktober 1994 aufgehoben.) Aus alldem werden auch die üblichen Redewendungen verständlich, mit denen man auf «Soll-Sätze» in den Gesetzbüchern verweist, so zum Beispiel: «Artikel 14 des ZGB hält fest, dass …»
Darüber, was ein rechtliches Urphänomen ist, kann und muss eine wissenschaftliche Debatte geführt werden. Sind jedoch die Wesensgesetze eines bestimmten Teilbereiches der Rechtssphäre erkannt worden und zeigt sich, dass die Bestimmungssätze eines gegebenen Gesetzbuches den aufgefundenen rein begrifflichen Zusammenhängen zuwiderlaufen, dann heißt dies nicht, dass es nun doch keine rechtlichen Urphänomene gebe, sondern, dass die betreffenden Gesetzgeber bei dem, was sie als sein-sollend festlegten, sich nach anderen Gesichtspunkten gerichtet haben. Da die Gesetzbücher ständig verändert werden, die rechtlichen Urphänomene hingegen von unabänderlicher Natur sind und ihnen der Charakter von Prinzipien zukommt, dürfen wir hoffen, dass eine klare, umsichtige Erkenntnis und Darstellung dieser Urphänomene sich allmählich auf das Rechtsempfinden einer namhaften Anzahl von Menschen auswirken. Damit einhergehend gäbe es eine Aussicht darauf, dass künftige Reformen der Gesetzbücher, der Rechtsprechung und des Rechtsvollzuges eine Richtung einschlagen, die das positive Recht – Schritt um Schritt – in ein harmonischeres Verhältnis zu den apriorischen Grundlagen der Rechtssphäre brächten. Dass eine derartige Entwicklung nur möglich ist, wenn unerschrockene, kämpferische Persönlichkeiten sich unablässig dafür einsetzen, versteht sich von selbst.