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1. Kennzeichen der Rechtssphäre

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Wann immer es darum geht, Erkenntnisse zu gewinnen, intendieren wir einen Gegenstandsbereich und stecken alsdann das zu betrachtende Feld ab, indem wir Fragestellung und Gegenstand aufeinander abstimmen und die adäquate Vorgehensweise festlegen. Je nach der Beschaffenheit und dem Zusammenspiel dieser Komponenten erhalten wir Zugang zu unterschiedlichen Erkenntnissphären, von denen ich hier zunächst zwei herausgreife:

a) Im Falle der axiomatisierten, reinen Mathematik eröffnet der Mathematisierende – erkenntnislogisch betrachtet – mit der in den Postulaten spezifizierten Erkenntnisintention den jeweiligen Forschungsbereich und bringt dadurch dessen Gegenstände zuallererst in die Sicht. Indem er danach die postulierte Intention befolgt, gelangt er zuerst zu den Axiomen (Grundgesetzen), welche der Intention entsprechen und sich unmittelbar daraus ergeben – und daraufhin zu den aus den gesetzten Forderungen und den zugehörigen Axiomen ableitbaren Theoremen (Folgesätzen);

b) Dem phänomenologisch vorgehenden Naturwissenschaftler hingegen sind die primären Erkenntnisgegenstände im Prinzip von Anfang an gegeben (beispielsweise die vom unbewaffneten Auge sichtbaren Gestirne, die Gebirge und Gesteine, die Winde und Wolken sowie auch die Pflanzen und Tiere), und er steht vor der Aufgabe, die im Erscheinenden ablesbaren, darin waltenden Gesetze als solche zu erfassen und zu formulieren.

Nun deuten weder die Gegenstände des Mathematikers noch jene des Naturwissenschaftlers von sich aus auf die Person des sie Aufdeckenden und Erkennenden hin: Inhalt, Gestalt, Geltung der Gesetze sind unabhängig vom Begriff Person. Dementsprechend hätte – sit venia verbo – der noch einsame Adam Mathematik und Naturwissenschaften betreiben können, ohne dass er dabei auf irgendeinen Inhalt gestoßen wäre, der sich direkt auf ihn, als fragendes Subjekt des Erkennens und Handelns, bezogen hätte. Im Gegenzug hätte ihn auch keiner der genannten Gegenstandsbereiche daran gehindert – beziehungsweise ihn dazu ermuntert oder ihm nahegelegt, seine eigene Erkenntnistätigkeit zu analysieren und sich als Ich gegenüber allem Anderen, als dem Nicht-Ich, zu bestimmen und zu behaupten.

Faktisch wäre jedoch Adams solitäres Dasein rechtlos gewesen, und er hätte auch keinerlei Anlass gehabt, sich um irgendwelche Rechtskategorien zu kümmern. Mit anderen Worten: Ehe mindestens zwei Individuen sich auf einem «Planeten» oder auf einer abgelegenen, bewohnbaren «Insel» aufhalten, käme der Gedanke an eine Rechtssphäre wohl gar nicht auf; jedenfalls schiene er absurd. Sobald jedoch zwei Individuen auf dem betreffenden Himmelskörper oder Eiland auf einander träfen, dürfte sich die Situation ganz grundlegend ändern: Im besten der möglichen Fälle könnte dann – zunächst vermutlich nur in einem der beiden Individuen – der Gedanke aufkeimen, er sollte mit dem Anderen darüber verhandeln, inwieweit es einerseits ihm selbst erlaubt sei, seine eigenen Lebenspläne zu entwickeln und umzusetzen, das heißt, im Sinnlich-Fassbaren zu verwirklichen, ohne befürchten zu müssen, dass der Andere ihn daran hindere – als es auch anderseits dem Anderen zu gestatten sei, seinen persönlichen Lebensentwurf zu ergreifen und zu realisieren, ohne dass ihn der Erstgenannte davon abzuhalten bestrebt wäre.

Doch welche typischen Beziehungsformen, die zwei Individuen anlässlich ihrer Begegnung eingehen und ausgestalten können, sind denkbar – und welche finden wir tatsächlich vor? Wie lassen sie sich charakterisieren, präzise auseinanderhalten und mit gesonderten Ausdrücken bezeichnen?

Wie indirekt angedeutet, bieten sich hierzu zwei unterschiedliche Wege an:

(i) Wir können rein gedanklich vorgehen und uns überlegen, welche grundsätzlich verschiedenen Fälle auftreten können. Unser Augenmerk richten wir dabei theoretisch (abstrakt) auf einprägsame, vereinfachte Beziehungsmuster, die wir schematisch festhalten und danach mit Beispielen zu veranschaulichen suchen.

(ii) Wir wenden uns der Fülle gegebener, gerichtsnotorischer Rechtsfälle zu und versuchen, die sich darin zeigenden Beziehungsformen als solche zu erfassen, und damit meine ich: sie nach den an ihnen zu beobachtenden Mustern und Gesetzmäßigkeiten darzustellen.

Wesley Newcomb Hohfeld (1879–1918) versuchte, beide Zugänge zu berücksichtigen. Von Anfang an war er bestrebt zu typisieren. Er sammelte konkrete Rechtsfälle und prüfte, ob sie sich bestimmten eindeutigen Typen zuordnen ließen. Seine Resultate sollen uns als Ausgangspunkt für die weiteren Erörterungen dienen.

Hohfeld kam in seinen Untersuchungen auf acht Begriffe (Gedankengerüste, Vorstellungen, Ideen im Sinne von Leitgedanken), welche Richter, Anwälte, Rechtsgelehrte implizit handhabten, ohne sich jedoch im Allgemeinen dessen bewusst gewesen zu sein, dass sie häufig die von ihnen benutzten Ausdrücke in mehr als einer Bedeutung verwendeten. Dadurch blieben die Ausführungen konfus, mehrdeutig. Wenn immer möglich, vermied es Hohfeld, neue Ausdrücke einzuführen; er strebte vielmehr danach, bekannte, in Gebrauch befindliche Wörter beizubehalten – aber jedem der acht fundamentalen Termini eine eindeutige, klare, unmissverständliche Bedeutung zur verleihen. Und damit einhergehend forderte er alle an dem rechtlichen Diskurs Beteiligten dazu auf, diese acht grundlegenden Fachausdrücke hinfort in der von ihm vorgeschlagenen genauen begrifflichen Bedeutung zu verwenden4.

Wie Hohfeld herausfand, bilden die dank den eindeutig festgelegten Ausdrücken klar erfassten Begriffe vier auffallende, charakteristische rechtliche Beziehungsformen, die ich als abstrakte Grundfiguren bezeichne. Jede dieser Figuren hebt eine besondere Form der Rechtsbegünstigung gegenüber einer ebenso spezifischen Art der Rechtsohnmacht oder Rechtsbürde hervor. Ich gebe im Folgenden Hohfelds englische Termini an und füge sinnentsprechende deutsche Ausdrücke dazu5:

Gegensätze von Rechtsgunst und Rechtserduldung (Jural Opposites)

Figur I Figur II Figur III Figur IV
A claim [right*)] (Forderung; Anspruch auf etwas) privilege, liberty to … (Vorrecht auf etwas; gewährte Freiheit zu etwas) power (Erhaltene Befugnis zu etwas) immunity, exemption (Entbindung, Befreiung von etwas)
B no-right, no-claim (Erduldung; kein Anrecht auf etwas) duty (Verpflichtung zu etwas) disability (Unvermögen zu etwas; Unfähigkeit rechtlich Relevantes festzulegen) liability (Haftung für etwas; Bindung an etwas)

*) Ein Recht sensu stricto

Aus diesen Gegensatzpaaren zwischen verschiedenen, rein begrifflichen Spielarten von aktiver Rechtsgunst und passiver Rechtserduldung gehen vier einprägsame, konkrete Beziehungsformen hervor, in denen je zwei Individuen einander ergänzende, korrelative Positionen einnehmen:

Rechtlich einander ergänzende, korrelative Beziehungsformen (Jural Correlatives)

Figur I Figur II Figur III Figur IV
A claim [right*)] (Forderung; Anspruch auf etwas) privilege, liberty to… (Vorrecht auf etwas; Gewährte bzw. tätige Freiheit zu etwas) power (Erhaltene Befugnis zu etwas) immunity, exemption (Entbindung, Befreiung von etwas)
B duty (Verpflichtung zu etwas) no-right, no-claim (Gewährtes erdulden; kein Anrecht, erhaltene Vorrechte zu unterbinden) liability (Haftung für etwas; Gebunden sein an etwas) disability (Unvermögen zu etwas; Unfähigkeit rechtlich Relevantes festzulegen)

*) Anspruchsrecht sensu stricto

In diesen realen Beziehungsformen nehmen die Rechtspartner korrelative, einander ergänzende, aufeinander bezogene Standpunkte ein. Immer geht es dabei um das Verhältnis eines Rechtsbegünstigten zu einem Rechtspflichtigen oder Rechtserduldenden.

Einfache Beispiele für diese konkreten Beziehungsfiguren sind6:

Für I: Ein Gläubiger A hat Anspruch (claim) auf die Rückzahlung der 1.000 €, die er B geliehen hat; B hat sich gegenüber A verpflichtet (duty), ihm diese Summe zurückzuerstatten.

Für II: A besitzt das ihm gewährte Vorrecht (privilege, liberty), seine eigene Wohnung nach Belieben zu betreten; B muss dies (er)dulden, er hat kein Anrecht (no-right) darauf, A an der Ausübung seines Vorrechtes zu hindern bzw. As Wohnung ebenfalls zu betreten, wann immer es ihm (dem B) danach gelüstet. – A kann sein eigenes Handy, sein Fahrrad nach Belieben benutzen, wann immer er will; B hingegen hat weder ein Recht darauf, As Fahrrad noch dessen Handy zu verwenden, ohne die ausdrückliche Erlaubnis von A.

Deutlich unterscheiden müssen wir zwischen claims (den Anspruchsrechten in eigentlichem Sinne und liberties (den Privilegien, Vorrechten auf etwas bzw. den gewährten oder spontan ergriffenen, tätigen Freiheiten zu etwas). So zeigen die aktiven Liberties, die aus Freiheiten erwachsenen Aktivitäten, unverkennbare Züge absoluter Individualrechte mit einem positiven Sozialcharakter. –

Gegenüber den Beziehungsformen der Figuren I und II weisen jene der Figuren III und IV auf Anspruchsrechte (claims) bzw. Vorrechte (privileges) sekundärer Natur hin:

Für III: A hat die ihm zustehende, anerkannte Befugnis (power), B die Vollmacht zu erteilen, ihn (d.h. A) bei Gericht zu vertreten. Sobald B die Vollmacht entgegengenommen hat, ist er gebunden ( liablility).

Für IV: Angenommen, A habe B 1.000 € geliehen, und B habe sich verabredungsgemäß dazu verpflichtet, ihm diese Summe binnen zweier Monate zinsfrei zurückzuerstatten. Als B die 1.000 € zurückzahlt, verlange A den im Vertrag nicht vorgesehenen Zins von 10 %. A ist rechtlich nicht befähigt (disable), diese Vertragsänderung nachträglich einseitig einzufordern. B ist davor geschützt (entbunden, immune), auf As nachträgliche Forderung einzugehen. –

Alle bisherigen, mir bekannten Untersuchungen deuten darauf hin, dass Hohfelds Kategorientafel rechtlicher Beziehungsformen, die zwischen zwei Individuen entstehen können, vollständig ist. Wesentlich in unserem Kontext sind drei Gesichtspunkte:

1. Hohfeld hat keine inhaltlichen Naturrechte für die jeweiligen Rechtsbegünstigten einer gegebenen Beziehungsfigur aufgezeichnet, sondern er hat charakteristische Formen von Rechtsbeziehungen umrissen. Aus diesen ragt Figur I – welche Abmachungen, Vereinbarungen, Verträge umfasst – in qualitativer und quantitativer Hinsicht heraus. Auf die Analyse dieser Figur des Versprechens konzentrierte sich der I. Teil unserer Untersuchungen. Wesentlich für die in Figut I gekennzeichnete Rechtsrelation ist, dass nicht der Rechtsbegünstigte, sondern der Rechtspflichtige eine Tat vollbringen bzw. unterlassen muss. Ganz anders ist der Sachverhalt im Falle der Relation, auf welche die Figur II hinweist: Hier darf der Rechtsinhaber, nämlich A, etwas tun oder unterlassen, das B zu tolerieren hat, weil ihm kein Anspruchsrecht zusteht, As Tun bzw. Lassen zu behindern oder zu unterbinden. Das mit Figur II skizzierte Rechtsverhältnis ist für das Verständnis der im positiven Recht verankerten grundlegenden Rechte des Individuums von fundamentaler Bedeutung ( siehe unten, IV).

2. Insoweit eine Beziehung, die zwei Individuen zueinander eingehen (bzw. in der sich zwei Rechtssubjekte vorfinden), sich auf eine der aufgelisteten rechtsrelevanten Formen reduzieren lässt, kommt dem betreffenden Gefüge urphänomenale Bedeutung zu.

3. Da es nicht möglich ist, dass sich eine bestimmte rechtliche Beziehungsfigur zwischen zwei Individuen entfalte, d.h. konkretisiere, ehe sie sich dazu entschlossen haben, ihre Rechtsrelation in deren Sinne zu regeln – wobei sie selbst bestimmende Elemente der Beziehung bilden –, stellt die verwirklichte, reale Rechtsrelation weder eine reine Begriffsbeziehung noch ein den Individuen von irgendeiner Autorität oktroyiertes Gebot moralischer, religiöser oder gruppenspezifischer Natur dar. Anders gesagt: Echte Rechtsrelationen ergeben sich nur dann, wenn Individuen sie in wechselseitigem, rechtlichem Diskurs aushandeln und umsetzen.

Existenzielle Gewissheit und individuelle Beständigkeit

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