Читать книгу Existenzielle Gewissheit und individuelle Beständigkeit - Bernardo Gut - Страница 21
3. Fremdwahrnehmung als Grundlage von Rechtsbeziehungen11
ОглавлениеBeruht das Wesen echter Rechtsbeziehungen darin, dass zwei Individuen aufeinander zukommen und hinsichtlich eines bestimmten Sachverhaltes beschließen, eine für beide verbindliche Beziehungsform festzulegen, so kann eine derartige Relation nur zustande kommen, wenn die Individuen einander in actu als ebenbürtige bzw. gleichwertige Subjekte erfassen und anerkennen.
Wie aber weiß einer sich als Ich Verstehenden vom Vorhandensein eines fremden Ichs als dem Wesenskern eines ihm Begegnenden? In anderen Worten: Wie vermag ich – der ich mich als Einzelnen innerlich wahrnehme, empfinde und begreife – einen Anderen als Einzelnen so wahrzunehmen und zu erfassen, dass ich ihn als mir Gleichwertigen anerkennen kann?
Philosophisch-erkenntnistheoretisch handelt es sich um eine anspruchsvolle, delikate Aufgabe, enthält ja bereits die soeben formulierte Fragestellung versteckte Annahmen (z. B. über das Selbstverständnis des Fragenden), die nicht a priori evident sind. Aber unabhängig davon, ob ich die genannte Aufgabe zu lösen vermag, ist es für mein alltägliches soziales Dasein und Auskommen pragmatisch von entscheidender Relevanz, dass ich einen anderen Menschen, mit dem ich eine uns beide angehende Beziehungsform in rechtlicher Hinsicht auszuhandeln und festzulegen beabsichtige, als einen mir Ebenbürtigen auffasse und anerkenne.
Darüber hinaus ist es von bestimmender Bedeutung, dass wir beide davon ausgehen dürfen, wir seien Individuen beständiger Subjektität. Würden wir dies nicht voraussetzen, könnten wir keine der oben skizzierten Rechtsbeziehungen zueinander eingehen; denn jede Relation, die zwei Menschen miteinander vereinbaren, gilt für ein künftiges Zeitintervall, unabhängig davon, ob letzteres von einer festen oder einer unbestimmten Dauer sei. Daher müssen wir, als Rechtspartner in spe, stillschweigend annehmen, dass jeder von uns über die persönliche Beständigkeit verfüge, welche für die Geltungsdauer des zu Vereinbarenden grundsätzlich erforderlich ist. Damit einhergehend, sollten wir zusätzlich vorsehen, was im Falle eines vorzeitigen Ablebens einer bzw. beider von uns zu geschehen habe.
Nun lassen sich derartige Annahmen und ins Detail gehende Erwägungen über die reale äußere Beständigkeit eines sich willentlich in eine Rechtsbeziehung Begebenden nur auf der Basis von mehr oder weniger bewussten, allerdings selten ausdrücklich formulierten Plausibilitätsüberlegungen und Überzeugungen entwickeln. Hierzu zählen unter anderem folgende Vorstellungen:
Aus dem Erlebnis- und Erfahrungsstrom, in den ich teilweise unvermittelt und unreflektiert, zum Teil jedoch als ein bewusst Erlebender und Beobachtender einbezogen bin, sind mir einzelne Episoden und Erfahrungen besonders vertraut, denen in meinem Besinnen und Gedenken eine Sonderstellung zukommt: Einerseits handelt es sich um Geschehnisse, die mich nicht nur fesselten, als sie sich ereigneten – sondern um Situationen, in denen ich auch mich selbst nebenbei, d.h. parallel zum äußerlich Ablaufenden, als einen das Geschehende Beobachtenden innerlich wahrnahm. Anderseits haben sich mir die angedeuteten Vorgänge und Ereignisse derart kräftig und klar ins Gedächtnis eingeprägt, dass ich mich an sie immer wieder zu erinnern vermag, oder aber deren Vergegenwärtigung sich mir nolens volens stets von neuem aufzwingt. Dazu gehören unter anderem:
(a) Organempfindungen, die ich hatte oder gerade habe sowie die daran aufscheinenden moderaten oder aber daraus entfachten aufwühlenden, mitreißenden Affekte: Lust und Behagen bzw. Unlust und Schmerz;
(b) Die in obliquo (d.h. nebenbei) Vordergründiges begleitende, einhergehende innere Wahrnehmung meiner selbst als eines etwas Beobachtenden, Vorstellenden, Urteilenden, Fühlenden, Wünschenden, Wollenden und Erleidenden; mit anderen Worten: die innere Wahrnehmung meiner selbst als Einen sich auf etwas Beziehenden;
(c) Die deutliche Anwesenheit einer Intention, die ich mir gesetzt habe bzw. die Vergegenwärtigung einer an mich selbst gerichteten Forderung, wie ich zu handeln hätte – und der damit verknüpfte Entschluss, auszuharren, die gesetzte Intention zu befolgen und die Tat, zu der ich mich selbst verpflichtet habe, zu vollbringen;
(d) Ein nicht deutlich geklärtes Sehnen und Wünschen, ein zaghaftes In-Aussicht-Stellen, ein zögerndes Einlenken in einen Vorschlag.
Erfahrungen genannter Art sind entweder organgebunden oder am eigenen Vollzug selbst einzufangen und zu ergreifen – womit sie sich als ausschließlich mir selbst direkt zugänglich kundtun und sich unmittelbarer Fremdwahrnehmung entziehen. Aber sowohl diese an den eigenen Körper-Leib geknüpften und auf ihn bezogenen Empfindungen und Affekte als auch die den eigenen Denk- und Entscheidungsprozess begleitende innere Wahrnehmung müssen wir von anderen seelischen Kategorien unterscheiden, welche der Fremdwahrnehmung nicht in gleichem Maße verschlossen sind.
Zu diesen letzteren, der Fremdwahrnehmung zugänglichen Erfahrungen gehören die sich stets auf ein Objekt richtenden Gefühle, wie zum Beispiel die Freude über etwas, das Unbehagen angesichts einer Nachricht, der Zorn über einen zu Unrecht erlittenen Verweis, die Trauer über ein Zerwürfnis mit einem Freund, die Furcht vor einem Unbekannten im Wald; ferner die Gedanken, Urteile und Zielvorstellungen, die ich lange gehegt habe und die mich begeistern. Und bei allem Genannten dürfen wir nicht vergessen, auf die Bewegungen und Mienen zu achten, mit welchen sich beispielsweise mein Zögern sowie mein zaghaftes Hin-und-Her äußern und verraten. Jede derartige Verhaltensweise zeigt an ihr selbst untrügliche Merkmale, die einer Fremdwahrnehmung zugänglich sind und auf die zu achten wir uns schulen können. In diesem seelischen Sektor gilt: Was wir an uns selbst klar und deutlich erfahren, befähigt uns, im Laufe vieler Erlebnisse und Beobachtungen, ähnlich geartete Phänomene auch am Anderen wahrzunehmen und sinngemäß zu deuten.
So bilden alle angedeuteten Erfahrungen eine Teilmenge jener psychischen Phänomene, deren Gehalt und Bedeutung nicht bloß dem Individuum A unmittelbar zugänglich sind, welches die betreffenden Vorgänge erlebt, sondern auch einem Fremden – insoweit dieses Individuum B fähig geworden ist, aus der Gesamterscheinung des ihm begegnenden A die unter einer bestimmten Kategorie fallenden Äußerungen auszusondern und das sich darin Manifestierende zu erfassen. Gelingt ihm dies, so hat B in sich den entsprechenden seelischgeistigen Gehalt nachgebildet. Damit sind die inhaltlichen Vorgaben für die sich daran anschließenden weiteren Erkenntnisschritte in B nicht grundsätzlich anders als in A.
Indem der Fremde, also B, in der skizzierten Weise aus der unmittelbaren Begegnung mit dem A den Gehalt der psychischen Phänomene herauslöst, die A erfährt und zum Ausdruck bringt, begegnet er einerseits auch dem Anderen als individuellem Träger der betreffenden Stimmungen und objektbezogenen Gefühle, Gedanken und geäußerten Urteile und Entschlüsse; anderseits nimmt er, während er diese Äußerungen empfängt und deren Gehalt in sich selbst nach-erzeugt, in obliquo sich selbst als denjenigen wahr, der fühlt, vorstellt, urteilt, entscheiden kann.