Читать книгу Zwangsvollstreckungsrecht - Bettina Heiderhoff - Страница 120
aa) Relevanter Zeitpunkt
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Bei den Gestaltungsrechten könnte auf zwei denkbare Zeitpunkte abgestellt werden. Zum einen ließe sich auf die Ausübung des Gestaltungsrechts abstellen, denn erst durch die Ausübung entsteht die Einwendung. Zum anderen aber ließe sich auch auf den Zeitpunkt abstellen, ab dem das Gestaltungsrecht frühestens ausgeübt werden konnte.
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Beispiel 21 (Relevanter Zeitpunkt bei Gestaltungsrechten):
Schuldner S hat eine Eigentumswohnung gekauft. Da diese in erheblichem Maße mit Mängeln behaftet ist, mindert S und zahlt den Kaufpreis nicht in voller Höhe. Er wird jedoch zur Bezahlung verurteilt, weil ein wirksamer Haftungsausschluss vorliegt und er die Voraussetzungen des § 444 BGB nicht beweisen kann. Einige Wochen später erfährt er von einem Zeugen, dass der Verkäufer G das Sachverständigengutachten über den Zustand der Wohnung, welches er dem S beim Verkauf vorgelegt hatte, eigenhändig verändert hatte, um die Mängel zu vertuschen. Als G vollstreckt, erklärt S den Rücktritt. Kann er sich gegen die Vollstreckung wehren?
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S könnte in Beispiel 21 Vollstreckungsabwehrklage mit dem Einwand erheben, dass der Kaufvertrag sich durch den Rücktritt nach § 349 BGB in ein Rückgewährschuldverhältnis nach §§ 346 ff BGB umgewandelt hat und damit der Anspruch des Verkäufers auf Zahlung des Kaufpreises erloschen sei.
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Da S nach den §§ 444, 437 Nr. 2, 323 II Nr. 3 BGB wirklich ein Rücktrittsrecht hatte, steht ihm eine Einwendung zu. Problematisch ist allein, ob S mit diesem Einwand nicht bereits präkludiert ist, da die Möglichkeit des Rücktritts bereits vor Schluss der letzten mündlichen Verhandlung des Erkenntnisverfahrens bestanden hatte. Man könnte es also so sehen, dass „die Einwendung“ schon damals bestand.
Man könnte es aber auch anders sehen: Die nachträgliche Umwandlung des Kaufvertrags in ein Rückgewährschuldverhältnis wurde ja erst durch die Ausübung des Gestaltungsrechts (Rücktrittserklärung) – also nach Schluss der letzten mündlichen Verhandlung – bewirkt. Die eigentliche Einwendung (Erlöschen des Zahlungsanspruchs) ist also erst nach dem entscheidenden Zeitpunkt entstanden.
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Damit ist eine der wichtigsten und bekanntesten Streitfragen des Zwangsvollstreckungsrechts angesprochen: Für die Präklusion nach § 767 II ZPO ist streitig, ob es bei Gestaltungsrechten (Rücktritt, Widerruf, Aufrechnung usw.) auf die objektive Möglichkeit der Ausübung oder die tatsächliche Ausübung des Rechts ankommt.
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Die Rechtsprechung und ein großer Teil der Literatur gehen davon aus, dass es für die Präklusion nur darauf ankomme, ob das Gestaltungsrecht objektiv vor Schluss der letzten mündlichen Verhandlung ausgeübt werden konnte. Kenntnis davon und die eigentliche Ausübung seien unerheblich[27]. Begründet wird dies zumeist mit dem Schutz der Rechtskraft und einem Vergleich zwischen § 767 I und II ZPO. Wenn das Gesetz in § 767 I ZPO von „Einwendungen“ und in § 767 II ZPO von „Gründen der Einwendungen“ spreche, so sei bewusst etwas Unterschiedliches gemeint. Demnach sei „Einwendung“ die Erklärung des Gestaltungsrechts selbst, „Grund“ hingegen die objektive Möglichkeit der Ausübung.
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Die (wohl) herrschende Ansicht in der Literatur hingegen geht davon aus, dass es nur darauf ankomme, wann das Gestaltungsrecht ausgeübt worden sei[28]. Denn zum Entstehungstatbestand des Gestaltungsrechts gehöre die jeweilige Erklärung als dessen Ausübung. Es sei auch nicht einzusehen, warum der Beklagte im Prozess gezwungen sein soll, das Gestaltungsrecht zu erklären, obwohl es ihm nach materiellem Recht freistehe, wann er von seinem Recht Gebrauch machen will. Schließlich bestehe nicht die Gefahr einer „Bevorzugung“ des Schuldners. Denn jeder Schuldner werde ein Gestaltungsrecht so früh ausüben, wie er nur könne. Das überzeugt. Kein Schuldner ist bereit, zunächst einen Prozess absichtlich zu verlieren (Kosten!), um dann erst hinterher (quasi querulatorisch) noch ein Gestaltungsrecht auszuüben, was ihn von der Schuld befreit. Betroffen sind von der Streitfrage daher immer nur Schuldner, denen ihr Gestaltungsrecht im Ausgangsrechtsstreit unbekannt war. Diese sind im Regelfall schutzwürdig.
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Vereinzelt wurde früher darauf abgestellt, wann der Kläger Kenntnis von der Möglichkeit der Ausübung des Gestaltungsrechts erhalten hat. Diese Meinung ist entschieden abzulehnen und wird soweit ersichtlich nicht mehr vertreten. Sie würde dazu führen, dass im Prozess Beweis darüber geführt werden müsste, wann der Schuldner „Kenntnis“ von bestimmten Tatsachen erhalten hat. Das ist teuer, zeitaufwendig und kaum Erfolg versprechend. Zudem ist das taktische oder querulatorische Zurückhalten von Einwendungen, dem diese Ansicht entgegenwirken möchte, praktisch irrelevant.