Читать книгу Zähmung des Feuers - Billy Remie - Страница 11

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Der Tag verflüchtigte sich und am Horizont. Wo die Sonne als großer Feuerball unterging, vermischten sich Orange- und Rottöne zu einem prächtigen Farbenspiel, dessen Anblick jeden noch so ruhelosen Wanderer innehalten gelassen hätte, um ihn in sich aufzunehmen.

Langsam drang wieder Leben in den Leib des Vergessenen, warmes Licht vertrieb die Schwärze, in der er versunken gewesen war.

Du bist noch nicht tot, alter Junger, sagte ihm eine innere Stimme.

Stöhnend regte er sich. Er lag auf dem Rücken und hatte sich im Schlaf den schmerzenden Bauch gehalten. Das Stechen kam jedoch mehr aus der Rückenpartie und strahlte in seinen Magen. Sein Gesicht fühlte sich trocken an, als wäre es von Schlamm bedeckt, auf seiner Zunge lag ein metallischer Geschmack. Blut.

Der Vergessene rollte sich herum, bis er auf dem Bauch lag. Sein Körper fühlte sich zu schwer an, um ihn aus eigener Kraft in die Horizontale zu bewegen. Er öffnete die Augen und blickte über den Rand einer bewaldeten Klippe hinweg auf einen weit entfernten Horizont.

Für die nächsten Augenblicke war er außerstande, sich von dem tröstenden Rot des Sonnenuntergangs und den letzten warmen Strahlen des Tages abzuwenden.

Er lag auf weichem Grund, nasses Geäst, halb vermodertes Laub und vereinzelte Grashalme betteten ihn weich. Um ihn herum war Wald. Urwald, um genau zu sein. Hohe Laubbäume, an denen Lianen hingen, verdunkelten seine Umgebung. Sein schmerzender und von Prellungen übersäter Körper war umzingelt von großen Gesteinsbrocken, die nicht in diese Urwaldidylle zu passen schienen. Sie waren aus der Felswand gebrochen, die sich zu seiner Linken in den Himmel erstreckte. Es glich einem Wunder, das sie ihn nicht zerquetscht hatten.

Was war geschehen?

Er erinnerte sich nicht. Ihm war nur noch lebhaft in Erinnerung, wie das Richtbeil an Eagles Haut zerbrochen war, dann hatte etwas anderes die Kontrolle über den Vergessenen übernommen.

Etwas sagte ihm jedoch, dass er nun in Sicherheit war, und das Eagle lebte.

Er blinzelte, um seine Umgebung erneut in Augenschein zu nehmen, dieses Mal jedoch, um nach seinem Freund Ausschau zu halten. Er sah zwischen grauem Geröll und grünem Farn zwei nackte Fußspitzen herausragen.

Nur mit dem Aufbringen all seiner verbliebenen körperlichen und mentalen Kräfte gelang es ihm, sich vom Boden wegzudrücken und sich zumindest schon einmal hinzuhocken.

»Eagle!« Er wollte schreien, doch es kam nur ein raues Flüstern aus seiner Kehle.

Er schmatzte, weil der metallische Geschmack in seinem Mund deutlicher wurde. Er versuchte, nicht daran zu denken, weil das, was er schmeckte, unmöglich sein eigenes Blut sein konnte. Er hatte sich nicht auf die Wangen oder die Zunge gebissen, noch war seine Lippe aufgeplatzt. Sein Gesicht war, bis auf einen schmerzenden, angeschwollenen Wangenknochen, unversehrt.

»Eagle!« Beim zweiten Mal war seine Stimme schon etwas kräftiger.

Doch noch kam keine Antwort von seinem Freund.

Stöhnend brachte er sich auf die Beine. Die Welt drohte umzukippen, als er vorwärts schwankte und sich dabei die schmerzenden Rippen hielt.

Er stolperte auf die nackten, von Dreck überzogenen Füße zu, und brach neben dem dazugehörigen Körper zusammen.

Es war Eagle. Er lag mit dem Gesicht nach oben zwischen einigen herabgestürzten Gesteinsbrocken. Blut lief ihm aus einer Kopfwunde über die Stirn, sein hellrotes Haar klebte ihm im Gesicht. Er war blass und ohne Bewusstsein.

Der Vergessene wollte eine Hand nach ihm ausstrecken, als jemand stöhnte.

Erschrocken fuhr er herum, bereit, auch in seinem Zustand seinen Freund zu beschützen.

Nur wenige Fuß von ihnen entfernt regte sich der Bastard des Königs, er schien auch gerade erst wieder zu Bewusstsein gekommen zu sein. Er lag in einem Gestrüpp aus trockenen, abgestorbenen Geäst, dass wie ein Knochenhaufen wirkte.

Er schien unversehrt zu sein. Außerdem trug er Rüstung und Schwert, was den Vergessenen beunruhigte.

Doch der andere Mann, der sich langsam aufsetzte und sich dabei mit schmerzverzerrtem Gesicht den Rücken hielt, hob zur Abwehr eine Hand, als er den nervösen Blick des Vergessenen bemerkte.

Das bedeutete wohl, dass sie einen kurzen Waffenstillstand ausriefen.

Der Vergessene achtete nicht weiter auf den Bastard des Königs und wandte sich wieder Eagle zu. Er kroch noch ein Stück näher und nahm behutsam den Kopf seines Freundes in seine Hände. Sie waren so groß, dass Eagles Kopf darin fast wie der eines Jungen wirkte.

Seltsam, dachte der Vergessene, dass ihm selbst seine eigenen Hände fremd vorkamen, so, als gehörte seine Seele überhaupt nicht in diesen Körper.

Eagle wimmerte etwas Unverständliches, als der Vergessene seinen hellroten Kopf in seinem Schoß bettete.

Der Bastard des Königs war mittlerweile auf die Beine gekommen und taumelte aus dem Geäst. Er torkelte solange, bis er einigermaßen standfest stehen bleiben konnte. Auch in seinem Kopf schien Schwindel zu herrschen. Er drehte sich um und streckte den Rücken durch, es knackste laut und er grunzte unterdrück.

Eagle petzte die Augen zusammen und hob eine Hand, um sich durchs Gesicht zu fahren, doch der Vergessene hielt ihn auf.

»Nicht. Du bist verletzt.«

»Verdammt«, fluchte Eagle und versuchte, die Augen zu öffnen, nur um zusammenzuzucken, weil ihn das letzte Licht des Tages blendete.

Plötzlich fiel ein Schatten über sie. »Hier!«

Beide blinzelten argwöhnisch zu dem anderen Mann auf, der nun vor ihnen stand und einen Trinkschlauch zu ihnen hinabreichte.

»Es ist nicht viel«, entschuldigte sich der Mann, »aber es genügt, um die Wunde zu säubern.«

Warum war er so freundlich? Das machte den Vergessenen nur umso neugieriger auf den Mann.

Gleichzeitig hätte es wohl kaum einen anderen geben können, an dem er größeren Zweifel hegen konnte als am Sohn des einen Königs, der ihn hinrichten lassen wollte.

Trotzdem glaubte er nicht, dass das Wasser vergiftet war.

Der Vergessene riss dem Bastard das Trinkgefäß förmlich aus der Hand. In großer Eile schüttete er etwas in seine Hand und ließ das Wasser dann langsam über Eagle Kopf fließen, der derweil noch immer voller Skepsis den Bastard betrachtete.

»Aua! Verdammt!« Eagle zuckte zusammen, als der Vergessene das getrocknete Blut um die Platzwunde herum von der Haut rieb.

»Stell dich nicht so an.« Der Vergessene führte den Trinkschlauch zum Mund und trank einen kleinen Schluck, um seine trockene, nach Blut schmeckende Kehle anzufeuchten.

Dabei beobachtete er aus neugierigen Augen den Bastard, der mit dem Rücken zu ihnen ein Stück der Umgebung abging und schließlich die Felswand hinaufstarrte.

Es sah aus, als ob etwas Großes in den Felsen gekracht wäre.

»Hier, trink«, trug der Vergessene Eagle auf und gab ihm den letzten verbliebenen Schluck des Wassers.

»Danke«, seufzte Eagle. Diesem Wort war fast anzuhören, wie durstig er war.

Der Vergessene stand auf und fuhr sich über den Mund. Was er ursprünglich für Schlamm gehalten hatte, war ebenfalls getrocknetes Blut. Wahrscheinlich war es auch nicht seines, genau wie der Geschmack von fremden Blut in seinem Mund.

Er schauderte, wollte nicht darüber nachdenken, was dies zu bedeuten hatte.

Er stieg über die Bruchstücke aus der Felswand, den Blick weiterhin voll brennender Neugierde auf den Bastard gerichtet.

Warum griff er sie nicht an? Warum versuchte er nicht, sie zu töten?

»Danke«, hörte er sich selbst sagen, sehr darauf hoffend, der andere Mann möge sich ihm zuwenden.

Der Bastard sah sich über die Schulter. Wieder einmal brachte der Anblick seines Gesichts Kopfschmerzen und andere Gefühle mit sich.

»Wasser gehört uns allen«, sagte der Bastard kurz angebunden, »auch wenn es in meinem Gefäß steckt, ist es trotzdem eine Ressource der Natur, auf die jeder Anspruch hat.«

Seine Worte sorgten nur für mehr Neugierde.

Sein Anblick, so sagenhaft schön auf seine natürlich männliche Art, löste ein Wirrwarr der Gefühle im Magen des Vergessenen aus. Er spürte Argwohn, aber da war auch Dankbarkeit.

Eagle drehte sich auf die Knie und hievte sich grunzend wie ein Ochse hoch. »Du hättest mir ruhig sagen können, dass du ein verdammter Blutdrache bist!«

Da fiel dem Vergessenen alles wieder ein. Die unbändige Wut. Das Loslassen. Die Verwandlung. Die tierischen Instinkte und Gedanken. Der Kampf. Das Töten. Das Fliegen. Die zu große Erschöpfung, die schließlich zum Absturz geführt hatte.

Er fuhr herum und blickt nun mit völlig anderen Gefühlen die Felswand hinauf. Er war verwirrter denn je, doch nun fühlte es sich so an, als habe ein Stück von ihm einen Weg zu ihm zurückgefunden. Ein großes Stück.

»Ich hätte es dir wohl erzählt, mein Freund«, hauchte er gedankenverloren, »so fern ich es denn gewusst hätte.«

»Das ist eigentlich völlig unmöglich!« Der Bastard schüttelte ungläubig seinen Kopf. »Es gab seit Jahrtausenden keine Blutdrachen mehr. Sie sind ausgestorben.«

Eagle schnaubte amüsiert und deutete mit einer schwingenden Handbewegung auf den Vergessenen: »Er erscheint mir recht lebendig.«

Der Bastard seufzte frustriert. »Ich sagte ja auch eigentlich unmöglich. Dass er einer ist, kann ich nicht leugnen. Was das zu bedeuten haben könnte, macht mir aber erhebliche Sorgen.«

Der Vergessene wandte ihm das Gesicht zu. Die rötlichbraunen Augen des Bastards durchbohrten ihn mit zahlreichem Interesse.

Eagle hustete und spuckte blutigen Speichel aus. Als er sich wieder aufrichtete, wischte er mit dem Unterarm recht unsittlich die Spucke von seinem hellroten Bartschatten.

Er sah sich um. »Wo sind wir eigentlich?«

Der Bastard riss zuerst den Blick von dem Vergessenen los, noch bevor dieser ebenso dazu im Stande gewesen war, und sah sich zur anderen Richtung um.

Eagle deutete auf das Schwert, das an der Hüfte des Bastards baumelte, und fragte geradeheraus: »Werdet Ihr das gegen uns richten?«

Der Bastard sah an sich hinab, als bemerkte er es erst jetzt. Er umfasste das Heft der Klinge, ohne sie ziehen zu wollen, und erklärte verneinend: »Wir sitzen alle hier fest. Lassen wir die Feindschaft doch ruhen, bis wir wieder im Inland sind.«

Das schien Eagle bereits zu beruhigen, er nickte knapp und einverstanden und ging auf den Klippenrand und den davorstehenden Bastard zu.

Der Vergessene atmete tief durch und wandte sich, den schmerzenden Nacken reibend, ab. Er wusste wirklich nicht, was er von dem Bastard halten sollte. Sie waren doch seine Feinde, warum bekämpfte er sie nicht?

Er versuchte, die Beweggründe des Bastards beiseite zu schieben, da er sie nicht erraten konnte, und lenkte seine Gedanken auf sich selbst. Noch immer war er gedächtnislos, das gefiel ihm ganz und gar nicht.

Eagle ging zum Rand der bewaldeten Klippe und blickte hinunter in die schwindelerregende Tiefe. »Oh … das sieht nicht gut für uns aus.«

Der Vergessene ließ sich ermattet auf einem Gesteinsbrocken nieder. Wo sie sich befanden, interessierte ihn in jenem Augenblick recht wenig. Erst nach und nach fing er zu begreifen an, dass er jetzt zwar frei war, aber noch immer keinerlei Erinnerung hatte.

»Wir sind in der Südöstlichen Wildnis«, sagte der Bastard und stemmte die Hände in die Seiten, während er den Berg hinaufsah. »Ich fürchte, wir sind in den Sugrain Berg gekracht. Dem höchsten Berg der Wildnis.«

Der Vergessene rieb sich verzweifelt das Gesicht. All die Zeit im Kerker hatte er gedacht, wenn er nur einen Weg in die Freiheit fände, würde er sich erinnern. Doch die Ernüchterung holte ihn schnell ein. Er wusste nicht einmal seinen Namen, konnte sich einfach nicht erinnern.

Eagle lehnte sich noch etwas weiter über die Klippe. »Und wie kommen wir wieder runter?«

»Noch nie hat es jemand so hoch geschafft, wie wir. Seht ihr? Die Spitze ist ganz nah«, der Bastard drehte sich um und deutete nach oben. Er klang ein wenig beeindruckt über ihre Lage, aber auch ebenso beunruhigt.

Der Vergessene beachtete die Beiden gar nicht. Er war in jenem Moment zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Man verwandelte sich ja nicht alle Tage in einen Drachen, ohne gewusst zu haben, dass man dazu überhaupt fähig war.

Was wohnte noch in ihm, von dem er nichts wusste …?

»Der Weg nach unten erscheint mir ziemlich steil«, bemerkte Eagle mit nachdenklicher Stimme, während er die Klippe hinab spähte.

»Wir werden wohl klettern müssen«, stimmte der Bastard unglücklich zu. »Und ich kann nicht von mir behaupten, dass ich darin geübt wäre.«

»Dann sind wir ja schon zwei.« Eagle drehte das Gesicht in die Richtung des Vergessenen und fragte halb ernst gemeint, halb scherzend: »Vielleicht fliegt uns der Blutdrache ja wieder runter?«

Der Vergessene hörte ihn überhaupt nicht. Er saß auf dem grauen Gesteinsbrocken und starrte in seine Handteller, als könnte er darin die Antworten auf seine unzähligen Fragen finden.

Er versuchte, sich daran zu erinnern, ob und welche Gedanken er gehabt hatte, als er ein Drache gewesen war. Er hoffte, irgendetwas zu finden, das ihm dabei half, sich an etwas aus seiner Vergangenheit zu erinnern.

Eagle tauschte mit dem Bastard besorgte Blicke aus, als sie ihn in seiner tiefen Grübelei beobachteten. »Äh … Vergessener?«

Da war nichts in seiner Erinnerung, nur grauer Nebel und wirre Empfindungen.

Er erinnerte sich an das Gefühl, kurz nach der Verwandlung. Er hatte sich befreit und übermächtig gefühlt. Trotz der starken tierischen Instinkte, hatte er gewusst, dass er ohne Eagle nicht losfliegen konnte. Er erinnerte sich an die Soldaten, die er mit den Zähnen durchbohrt hatte – was den Geschmack auf seiner Zunge erklärte – erinnerte sich an seine Wut und an die Zerstörung, die er angerichtet hatte. Erinnerte sich an den Bastard, der mit dem Schwert auf ihn kletterte …

Langsam hob er den Kopf, fixierte mit wütender Miene den Mann an der Klippe, als er sich an die Augenblicke als Drache erinnerte.

Er war maßlos enttäuscht, begriff er doch in jenem Moment, dass er den anderen zu Unrecht für keine Gefahr gehalten hatte.

»Du … hast … versucht … mich zu töten

***

Cohen schluckte schwer, angesichts dieses Blickes.

Noch nie, nicht einmal auf dem Schlachtfeld, war Cohen mit einem solchen Zornesfeuer in den Augen angesehen worden. Es ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.

Aber nicht nur das. Die Wildheit in diesem männlichen Gesicht war so sagenhaft schön, dass kein Dichter sie hätte angemessen beschreiben können. Müsste Cohen nicht um sein Leben fürchten, er hätte ein warmes Prickeln unter der Haut gespürt, überall dort, wo der brennende Blick seine Haut traf.

Der Dieb sah zwischen den beiden beunruhigt hin und her, entschied sich aber doch, sich rauszuhalten.

Der Luzianer war außerstande, zu sprechen, er schüttelte nur den Kopf.

»Du warst ein Drache«, beeilte Cohen sich zu sagen, »und außer Kontrolle. Ich wollte nur mein Volk schützen. Jemand musste dich aufhalten.«

»Du …«, der Luzianer spuckte das Wort aus wie giftige Galle, » … wolltest mich töten!«

Cohen begriff, dass Worte hier nichts mehr nützen würden …

Noch bevor er den Gedanken zu Ende gebracht hatte, sprang der Luzianer auf und raste auf ihn zu.

Cohen taumelte mit geschocktem Gesicht einige Schritte zurück.

Wenn er sich wieder in einen Drachen verwandelte, dachte er noch, bin ich auf der Stelle tot.

Aber nichts dergleichen geschah, stattdessen rammte der Luzianer Cohen die Schulter in den Magen und mähte ihn um, wie ein Stier einen Zaun, der ihm im Wege war.

»Was soll das denn jetzt?«, hörte Cohen den Dieb rufen.

Mit dem Luzianer verflochten, rollte Cohen rückwärts einen Hang hinab, ohne zu wissen, ob der Aufprall sie beide töten würde.

Spitze Äste, massive Wurzel, die aus dem Hang ragten, und messerscharfe Steinkannten rissen ihm die Haut im Gesicht auf.

Zum Glück endete die kleine Klippe nach wenigen Fuß und sie krachten gemeinsam gegen einen Baumstamm, der sie abfing und davor rettete, den nächsten Hang hinab zu stürzen.

Cohen packte blind das halb zerrissene Leinenhemd des Luzianers und versuchte, ihn auf Abstand zu halten.

Der Luzianer hob seine massige Faust und schlug zu, doch Cohen konnte sich ducken, sodass die Knöchel den Baumstamm trafen.

Rinde splitterte, was bewies, dass der Schlag Cohen das Gesicht zertrümmert hätte.

Kein leichter Gegner, trotz, dass er unbewaffnet war. Zum Glück beging Cohen nie den Fehler, einen Feind zu unterschätzen, jedoch war er doch überrascht, dass der Luzianer in seinem angeschlagenen und erschöpften Zustand so dumm war und einen Kampf begann.

Er konnte nicht gewinnen; ausgeschlossen.

Weitere Schläge gingen auf ihn nieder. Cohen wehrte sie ab, indem er die Arme hochriss und die Fäuste auf seine muskulösen Unterarme treffen ließ. Die Wucht der Schläge wurde von der erstaunlich robusten Rüstung gedämpft.

Cohen trat dem wütendem Luzianer gegen das ungeschützte Schienbein.

»Ahh«, schrie der andere Mann auf und kam ins Straucheln. Cohen nutzte seine Chance und verpasste ihm einen Haken von unten gegen das Kinn.

Der Luzianer biss sich auf die Zunge. Von Blut rosafarbener Speichel spitzte hervor.

Cohen stieß ihn weg und zog die Klinge, die an seiner Hüfte baumelte.

Er wollte den Luzianer nicht töten, er wollte ihn nur zum Aufgeben zwingen, gleichwohl ihm bewusst war, wie dringend der andere Mann es jetzt gebrauchen konnte, all seine verzweifelte Wut an demjenigen auszulassen, der ihn fast bezwungen hätte.

Cohen verstand ihn, doch er würde deshalb nicht sterben wollen. Er war mehr als bereit, sein Leben zu verteidigen.

Außerdem hatte sein Vater ihn beauftragt, den Luzianer nicht entkommen zu lassen.

So? Und warum lebt er dann noch, fragte eine innere Stimme.

Cohen ging in Kampfstellung und zeigte seine Bereitschaft, das Schwert zu benutzen, als der Luzianer sich wieder mit Zornesmiene nach ihm umsah. Blut lief ihm aus den schmalen Lippen über das spitze Kinn.

Der Luzianer schnaubte verachtend. »Du ziehst das Schwert also doch?«

Cohen zuckte mit den Schultern.

»Ehrloser Hund«, spuckte der Luzianer aus, er begann, Cohen langsam wie ein Raubtier zu umkreisen.

Cohen ließ ihn nicht aus den Augen und drehte sich immer mit ihm, sodass sein Feind nie seine Flanke oder seinen Rücken zu sehen bekam.

»Du ziehst bei einem Faustkampf eine Waffe? Hast du keine Ritterehre, Bastard?«

»Man hört, du seiest auch nicht gerade ein Mann, der ehrenvoll kämpft«, konterte Cohen, der sich nicht provozieren lassen wollte.

Der Luzianer stockte einen Moment, ehe er grimmig erwiderte: »Das kann ich nicht beurteilen, ich erinnere mich ja nicht.«

Cohen spürte einen Stich im Herzen, der von seiner Schuld gegenüber dem anderen Mann aus ging.

Der kurze Moment genügte, um ihn abzulenken. Zu spät bekam er mit, wie sich der Luzianer einfach auf den Boden fallen ließ und ihm mit den Füßen die Beine wegzog.

Hart kam Cohen auf dem Rücken auf, das Schwert fiel ihm aus der Hand, es landete nur wenige Fingerbreit entfernt.

Er hatte keinen Blick für seinen Feind, er warf sich herum und streckte sich nach der Waffe.

Da warf sich der Luzianer auf seinen Rücken, sein wuchtiger Körper presste Cohen die Luft aus dem Brustkorb.

Gemeinsam kämpften sie darum, an das Schwert zu gelangen. Der Luzianer packte in Cohens dunkles Haar und riss daran, bis er Cohen fast das Genick brach.

Aufschreiend schlug Cohen ihm einen Ellenbogen in die Rippen, woraufhin der Griff in seinem Haar lockerer wurde.

Erneut streckte Cohen den Arm aus, seine Fingerspitze berührte das Heft des Schwerts, er zog es näher, während der Luzianer versuchte, ihn daran zu hindern, indem er über ihn drüber kriechen wollte.

Cohen bekam das Schwert zu fassen. Da packte der Luzianer erneut Cohens Hinterkopf, doch dieses Mal drückte er ihn nieder, sodass Cohens Gesicht im Dreck landete.

Er stöhnte erstickt und atmete staubigen Geröllsand ein, während er unter dem Luzianer mit Armen und Beinen zu zappeln begann.

Von oben her rief der Dieb verwundert und leicht entnervt: »Kämpft ihr – oder begattet ihr euch? Ist von hier oben schwer zu deuten.«

Hätte Cohen Zeit zum Denken gehabt, hätte er den Dieb erneut für einen Idioten gehalten.

Cohen nahm all seine Kraft zusammen und warf sich gegen seinen Angreifer.

Er war zum Glück rein körperlich dem anderen nicht unterlegen – nicht in seiner menschlichen Form. Cohen war etwa einen halben Kopf größer, dafür war er etwas schlanker. Doch die Strapazen im Kerker hatten den muskulösen Leib des Luzianers ausgezerrt und schwach gemacht, während Cohen noch immer gut trainiert war.

Deshalb war er weit im Vorteil.

So glaubte er.

Als er mit dem Luzianer unter sich auf dem Rücken landete, und spüren konnte, dass der Körper des anderen Mannes auch ohne Rüstung steinhart war, überlegte er es sich jedoch noch einmal anders.

Der Luzianer schubste Cohen von sich, der den Schwung nutzte und auf die Füße sprang.

Er wirbelte herum und schlug direkt mit der Klinge nach dem unberechenbaren Luzianer. Das Schwert durchschnitt die Luft, das metallische Scharben der Schneide schwebte für einen kurzen Augenblick zwischen ihnen wie ein liebliches Glockenspiel.

Cohen schlug erneut zu, noch bevor die Melodie verklang.

Der andere Mann duckte sich blitzschnell unter dem Hieb hinweg, schrie jedoch schmerzerfüllt auf und taumelte etwas außer Reichweite, dabei hielt er sich die Rippen, die ihm offenbar noch von dem Absturz schmerzten.

»Lasst doch diesen Unsinn!«, rief der Dieb. »Wir hängen alle hier oben fest. Schlagen wir uns die Köpfe ein, wenn wir wissen, wie wir hier runterkommen.«

Er wurde ignoriert.

Cohen atmete keuchend aus. »Du bist schon jetzt besiegt. Gib auf!«

Der Luzianer lachte doch tatsächlich! Für Cohens Geschmack hatte der andere ein wenig zu viel Freude an diesem Kampf.

Cohen hingegen nahm jeden Kampf sehr ernst. Jeden. Er holte aus und stürmte auf den Luzianer zu, dabei führte er die Klinge in einem perfekten X vor sich her.

Geschickt, trotz Erschöpfung – was bewies, dass Wut belebend wirkte –, wich der Luzianer nach hinten aus und lehnte sich zurück, um die Klinge immer knapp über seinen Körper gleiten zu lassen.

Es war fast so, als wollte das Schwert ihn nicht verletzten, sie schien gegen Cohen zu arbeiten. Cohen spürte, wie der Griff immer heißer wurde, doch er hielt das Schwert tapfer fest.

So abgelenkt von der wundersamen Waffe, bemerkte Cohen nicht, dass der Luzianer sich mehr unter den Hieben weglehnte, als auszuweichen, sodass er immer näher an Cohen herankam.

Urplötzlich packte der Luzianer Cohens Handgelenk, mit dem er die Waffe geführt hatte, und zerrte ihn mit einem schnellen Ruck an sich vorbei. Er verpasste Cohen noch einen Tritt in den Rücken, sodass er an ihm vorbeistolperte und weit von ihm weg katapultiert wurde.

Mit einem wütenden Knurren wirbelte Cohen herum und schlug mit der Klinge blind nach seinem Feind.

Der Luzianer stand direkt hinter ihm und hob gerade einen schweren Ast vom Boden auf, der mehr einem Baumstamm glich. Er duckte sich gerade noch rechtzeitig mit überraschten Augen, sodass Cohens Hieb über ihn hinweg sauste.

Als der Schlag ins Leere ging, riss der Schwung fast Cohens gesamten Körper herum.

Der Luzianer nutzte es aus, dass Cohen sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte, holte mit dem Ast aus und traf Cohen mitten im Gesicht.

Die Wucht, die ihn traf, drehte seinen ganzen Körper herum. Er sah buchstäblich Sterne und kippte vorn über.

Er verlor das Schwert und wusste auch nicht, wo es hingefallen war.

Cohen schüttelte den Kopf, um die Schwärze zu vertreiben, die ihn einzuhüllen drohte. Der Boden unter ihm schwankte. Ihm wurde schlecht, warmes Blut lief ihm als dünner Rinnsal zwischen den Augen hinab …

»Ich wüsste gern«, unter den nackten Füßen des Luzianers knirschte der Boden, »was du mir über mich erzählen kannst.« Er trat neben Cohen, bückte sich nach dem Schwert und hob es gemächlich auf, da Cohen gerade keinen ernstzunehmenden Gegner mehr darstellte.

Im Augenwinkel sah Cohen das mystische Leuchten, blau wie frostiger Nebel, dass die Klinge erhellte, sobald der Luzianer sie in die Hand nahm.

Ein grober Fußtritt warf Cohen auf den Rücken, ein spitzer Ast, der nun unter ihm lag, wollte sich durch die Rüstung bohren.

Über ihm ragte in wilder Rohheit der Luzianer, dessen Rücken vom letzten warmen Licht des Tages angestrahlt wurde. Der Himmel über ihm war klar, einige Baumkronen stahlen sich in das Bild. Und milder Frühlingswind bewegte das rabenschwarze Haar des Mannes, dessen von der Folter und dem Absturz geschundener Körper in voller Pracht über Cohen ragte.

»Ich kann dir nichts erzählen«, ächzte Cohen. »Alles was ich weiß, habe ich dir bereits gesagt.«

»Du kennst doch gewiss meinen Namen.« Der Luzianer hob einen Fuß und stellte ihn über Cohens Kehle, der instinktiv die Hände gegen das Gewicht drückte, weil er nicht ersticken wollte. Dann hob der Luzianer die geschwungene Klinge und zeigte damit auf Cohens Gesicht. »Ich glaube dir, dass wir beide uns nicht kennen, aber ich glaube dir nicht, dass du nichts über mich weißt. Also raus damit!«

Cohen sah ihm entgegen. Er wusste, dass von ihm verlangt werden würde, zu sterben, statt dem Erzfeind dabei zu helfen, Erinnerungen zurückzuerlangen, die seinem Königreich gefährlich werden konnten. Aber dann erinnerte er sich seltsamerweise ausgerechnet in diesem Moment an die einzige gemeinsame Nacht mit Sigha.

Cohen, sagte ihm eine innere Stimme, was, wenn du Vater wirst?

Ihm wurde bewusst, dass er nicht sterben durfte. Er hatte höhere Verpflichtungen als seine Pflichten gegenüber der Kirche.

Er ließ den Fuß los und packte stattdessen den Unterschenkel des Luzianers. Die Überraschung brachte den muskulösen Körper des anderen Mannes etwas ins Schwanken und lenkte ihn zumindest für einen Moment davon ab, Cohen ins Himmelsreich zu schicken.

Oh Götter, steht mir bei, flehte Cohen innerlich um Beistand. Er riss an dem starken Bein, um den Luzianer zu Fall zu bringen, der bereits mit den Armen ruderte.

Der Luzianer entwendete Cohens Griff sein Bein und taumelte zurück, um wieder sein Gleichgewicht zu finden.

Cohen nahm mit angezogenen Beinen Schwung und stieß die Füße nach vorne, um der Brust seines Feindes einen ordentlichen Stoß zu versetzen.

Der Luzianer wurde von Cohen geradezu weggeschleudert, er ließ das Schwert fallen, weil das zusätzliche Gewicht ihn beinahe zu Fall gebracht hätte.

Das Leuchten der Klinge erlosch, sobald die Hand ihres Herrn sie nicht mehr berührte.

Cohen drehte sich zunächst auf den Bauch, um dann die Füße in den Boden zu stemmen und aufzuspringen. Er rannte wie ein junger Hase vor dem Fuchs davon.

Er konnte hier nicht gewinnen. Nicht, weil er körperlich unterlegen gewesen wäre, sondern weil die Wut des Luzianers ihn unberechenbar machte und ihm zusätzliche Kraft verlieh.

Die beste Lektion, die ein Soldat nicht von seinen Befehlshabern lernen konnte, war jene, die Cohen jetzt anwandte: wenn du nicht gewinnen kannst, dann lauf, so schnell und soweit du kannst.

Der Luzianer ließ das Schwert liegen, um Cohen nachzueilen.

Ein Gemisch aus Wettrennen und Kampf entstand, das beinahe wie amüsantes Theaterstück wirkte.

Cohen rannte weiter den Berg hinab, der Luzianer saß ihm im Nacken, er ließ nicht locker.

Schwer keuchend stolperten sie durch den Urwald, ohne zu bemerken, an welch Schönheit sie vorübergingen.

Kleine Bergquellen, die im Sonnenuntergang funkelten, wie ein Fluss aus Diamanten, schlängelten sich zwischen grauen Felsen entlang, über die sie nacheinander sprangen. Grüne Lianen hingen von überdimensionalen Laubbäumen, deren jungfräulichen Blätter in einem satten Grün erstrahlten. Bunte Paradiesvögel wurden von ihnen aufgeschreckt, die ihren lieblichen Gesang unterbrachen, um davon zu fliegen. Echsen, von klein bis groß, zogen sich in ihre Höhlen zurück, wenn sie an ihnen vorüber rannten.

Cohen umfasste einen dünneren Baumstamm, der Abwärtslauf hatte ihm eine enorme Geschwindigkeit eingebracht, sodass er um ihn herumwirbelte und plötzlich vor dem überraschten Luzianer stand, der ihm dicht auf den Fersen war.

Mit einer steinharten Faust schlug Cohen ihm ins Gesicht.

Der Kopf des Luzianers flog herum, seine Lippe platze auf, aber er ließ sich davon nicht lange aufhalten. Cohen rannte an ihm vorbei, und er eilte Cohen barfuß nach.

Allmählich ging Cohen die Luft aus, er brauchte eine Pause. Aber er glaubte noch immer, eine Pause würde sein Ende bedeuten, also rannte er weiter, bis ihn seine Beine nicht mehr trugen.

***

Eagle versuchte, die zwei Narren nicht aus den Augen zu verlieren. Er eilte ihnen nach.

Ihm war es jedoch absolut schleierhaft, wie der Vergessene ohne Stiefel so leichtfüßig über den tückischen Boden der Wildnis rennen konnte. Eagle zuckte bei jedem seiner Schritte zusammen, sei es wegen eines spitzen Astes oder eines kleinen Steinchens.

Eagle blieb immer ein Stück weiter oberhalb, um die beiden Männer beobachten zu können.

Er sah ihnen nach, wie sie fast blind die Hänge auf und abliefen, nur auf sich achtend, immer kurz davor, irgendwo in die Tiefe zu stürzen.

»Ein wirklich ungeeigneter Ort für so etwas!«, rief er.

Doch abermals wurde er ignoriert.

Kopfschüttelnd ging er in die Hocke, um recht unbeholfen den kleinen Hang hinab zu rutschen, damit er näher zu ihnen gelangte.

Was war bloß in seinen Freund gefahren?

Gut, er konnte vielleicht zu einem gewissen Teil die Wut des Vergessenen verstehen. Denn auch er hatte kurz das Bedürfnis verspürt, dem Bastard ins Gesicht zu schlagen, immerhin hätte sein Vater Egale beinahe töten lassen. Doch der Bastard war nicht der König, und er hatte sich anständig verhalten. Ohne ihn wäre Eagle vom Rücken des Drachen gestürzt.

Er schuldete dem Mann also etwas, auch wenn ihm der Gedanke ein klein wenig zu wieder war.

Was den Zorn des Vergessenen anbelangte, so erschien er Eagle etwas übertrieben, allerdings war er auch nicht derjenige, der sein Gedächtnis verloren hatte.

Eagle vermutete, sein Freund war gar nicht wütend auf den Bastard, er suchte einfach nur jemanden, dem er die Schuld an etwas geben konnte, an dem niemand Schuld trug.

Der Vergessene, der hinter dem Bastard her war, packte eine Liane, hing sich daran und schwang sich um einen Baumstamm herum, um den anderen abzufangen.

Er trat den Bastard um, der wie eine umgestoßene Steinstatue auf dem Rücken landete.

Eagle war fast bei ihnen. »Warte!«

Der Vergessene ließ die Liane los und stürzte sich mit bloßen Händen auf den Bastard, der angsterfüllt die Augen aufriss.

Die großen Pranken des Vergessenen schlossen sich unverzüglich um die Kehle des Bastards und drücken unermüdlich zu.

Eagle rannte los.

Der Bastard wandte sich vergebens, während der Vergessen auf seinem Brustkorb saß und ihn zu ersticken drohte.

Keuchend kam Eagle neben ihnen zum Stehen, er sah von dem in Todesangst geratenen Gesicht in das von Zorn zerfressene Gesicht des Vergessenen.

»Von Waffenstillstand hältst du nichts?«, fragte Eagle seinen Freund.

Der Vergessene achtete nicht auf ihn, er drückte weiter zu und fragte aus zusammen gebissenen Zähnen: »Sag mir, wer ich bin!«

»Ich glaube nicht, dass er dir so antworten kann ...«, befürchtete Eagle.

»Wie lautet mein Name?«, wollte der Vergessene wissen und schüttelte dabei den Kopf des Bastards, dessen Gesicht bereist rot anlief. »Deine Leute fragten mich nach Verbündeten! Also sag mir, wen ihr sucht, zu wem ich gehöre!«

Der Bastard gab erstickte Laute von sich, dabei spie er Speichelfäden aus.

Noch einmal schüttelte der Vergessene den hilflosen Mann, sodass zu befürchten stand, dass ihm gleich das Genick brach. »Sag es mir! Sag es mir sofort!«

»Äh …« Eagle trat vorsichtig noch ein Stück näher. »Ich weiß ja nicht, was du vorhast, aber wenn du ihn umbringen willst, bist du auf einem guten Weg …«

»Ich will ihn ja auch umbringen!«, spie der Vergessene aus. »Er soll endlich reden!«

»In Ordnung, gut«, sagte Eagle ruhig. »Aber … nur so ein Vorschlag … sollten wir ihm nicht vielleicht so viel Luft lassen, damit er deine Fragen beantworten kann …?«

Der Vergessene drückte weiter zu, wirkte nun aber nicht mehr ganz so enthusiastisch.

»Du bringst ihn um!«, fauchte Eagle seinen Freund schließlich an.

Immer weiter lief das Gesicht des Bastards rot an, bis es einen dunklen, fast violetten Stich bekam. Seine Augen traten hervor, er öffnete den Mund, als wollte er nach Luft schnappen, die ihm jedoch ausblieb. Er schlug nun mit den flachen Händen gegen die starken Arme des Vergessenen, in einem erbärmlichen letzten Versuch, sich zu retten.

»Das ist Mord!«, betonte Eagle entsetzt. »Komm zu dir!«

Der Vergessene blinzelte, sofort brach die Spannung in seinen Armen ab. Es war, als bemerkte er erst jetzt, was er hier trieb. Als hätte zuvor ein anderer die Kontrolle über seinen Körper gehabt, nicht er selbst.

Fluchend stieß er sich von dem Bastard ab und taumelte einige Schritte zurück.

Hustend und nach Luft schnappend krümmte sich der Bastard zusammen, seine Augen waren glasig, als er zu Eagle aufblickte.

»Ihr habt mein Leben gerettet«, sagte Eagle zu ihm, »und ich das Eure. Wir sind quitt.«

Damit wandte er sich ab und ging auf den Vergessenen zu. Blieb jedoch vorsichtshalber mit etwas Abstand stehen.

Im Kerker hatten sie eine enge Freundschaft aufgebaut, was sich auch nicht mehr rückgängig machen ließ, aber er wollte seinem Freund etwas Raum für sich lassen, um sich zu beruhigen.

Er hatte keine Angst vor ihm. Eagle wusste, dass er von seinem Freund nichts zu befürchten hatte.

Der Vergessene riss entsetzt über sein Tun die Augen auf. »Ich … ich …«

»Schon gut«, Eagle hob beschwichtigend die Hände, »er lebt ja noch. Na ja, halbwegs.«

»Verflucht …« Der Vergessene raufte sich verzweifelt das dunkle Haar. »Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was … was in mich gefahren ist.«

Eagle nickte zustimmend. Es hatte ganz danach ausgesehen, als ob ein Dämon ihn gelenkt hätte.

»Es ist nur …«, der Vergessene suchte angestrengt nach Worten, » … ich habe nur … keinerlei Erinnerung. Und ich bin nur so … so wütend. Ich … ich weiß nicht, woher ich komme … wie alt ich bin … ob jemand mich vermisst … « Er drehte das zutiefst verwirrte und verängstigte Gesicht zur Seite und ließ die schweren Schultern hängen. »Nicht einmal meinen Namen kenne ich …«

»Desiderius!«, spuckte der Bastard hustend aus. »Dein Name ist Desiderius M`Shier.«

Sie sahen ihn fassungslos an. Vor allem Eagle war Unwillens, es zu glauben.

»Desiderius?«, wiederholte er. »Der Desiderius?«

Sein Freund fuhr zu ihm herum. »Du kennst mich?«

Eagle sah erschrocken in diese ruhelosen Augen, die in ihrer Verzweiflung jeden Strohhalm ergriffen. Schnell schüttelte er den Kopf, er richtete unbemerkt das kleine Buch unter seiner rechten Achsel zurecht, als wollte er es noch tiefer verstecken.

»Äh, nein«, antwortete er, »hab nur mal von ihm gelesen – äh, von dir, mein ich.«

Das war ja nicht mal gelogen.

Eagle wollte seinem Freund nichts verheimlichen, er glaubte nur nicht, dass er ihm damit half. Wenn er ihm das Buch gab, würde er es lesen und nichts davon wiedererkennen. Es stand ohnehin nicht viel über ihn darin, König Melecay war zu selbstverliebt, als dass er mehr als nötig über andere als sich selbst geschrieben hätte.

»Der Desiderius«, bestätigte der Bastard, während er sich über den Boden in den Schatten eines Baumes zog. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm. »Du bist Kommatand des M’Shier Ordens. Du warst König Wexmell Airynn treu ergeben, bis er verraten wurde. Du hast seinen letzten Erben beschützt, bis mein Vater ihn in der letzten Schlacht an der zerstörten Luzianerbrücke besiegte. Dein Prinz fiel, du und deine Männer wurden verbannt.«

Während er den Worten des Bastards gelauscht hatte, zeichnete sich tiefes Bedauern im Gesicht des Vergessenen – Desiderius – ab. Er blickte mit einer tiefen Falte zwischen seinen Augen zu Boden und flüsterte leise: »Ich kann mich nicht erinnern. Selbst mein Name erscheint mir fremd.«

»Lord Schavellen fürchtete deine Rückkehr, er schickte Meuchelmörder aus, doch mein Vater sandte Ritter hinterher, die dich lebend hierher zurückbringen sollten«, fuhr der Bastard mit kühler Stimme fort, »wir konnten nur dich retten. Deine Männer sind Lord Schavellens Meuchlern zum Opfer gefallen. Du wurdest in den Kerker gesperrt und gefoltert, weil mein Vater wissen wollte, wo der Halbdämon ist, der dir geholfen hat.«

»Halbdämon?«, plötzlich hob Desiderius neugierig den Blick, als erinnere er sich an etwas. Aber seine aufgehellte Miene hielt nicht lange vor, sie wich noch größerer Verwirrung.

»Er hat dich nicht gerettet, also scheint er fort zu sein.« Der Bastard schloss seine Erklärung mit dem ernüchternden Satz: »Alle, die du kanntest, sind tot.«

Eagle sah zu Desiderius – es fiel ihm schwer, seinen Freund auch nur in Gedanken bei einem Namen zu nennen – und legte mitleidvoll den Kopf schief.

Es war so unendlich traurig, diesen großen, starken Mann derart niedergeschlagen zu sehen, weil Eagle nicht geglaubt hatte, dass ihn irgendetwas brechen konnte.

Der Bastard senkte den Blick und hauchte bedauernd: »Es tut mir leid.«

Schwer ausatmend wandte Desiderius sich ab, nur um sich zwei Schritte entfernt wieder umzudrehen und sich vollkommen ernüchtert mit den Hintern in die Gräser fallen zu lassen.

Eagle konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was jetzt in ihm vorging.

»Es tut mir leid«, wiederholte der Bastard.

Eagle glaubte ihm. Er sah es in diesen rotbraunen Augen, die mit aufrichtigem Bedauern zu Desiderius hinüber starrten.

»Desiderius«, sagte Eagles Freund wie zur Probe, »Desi-De-Rius.« Er schnaubte über sich selbst und griff sich an den Kopf. »Das klingt, als höre ich den Namen zum ersten Mal in meinem Leben.«

Und genau deshalb wollte Eagle ihm nicht das Buch zeigen. Es würde rein gar nichts ändern, es würde nur dazu führen, dass er noch verwirrter war als zuvor. Noch verzweifelter, weil er sich nicht erinnern konnte.

Er wollte seinem Freund diese Qual ersparen.

»Wer auch immer du warst«, sagte Eagle, »spielt überhaupt keine Rolle. Wichtig ist nur, das du lebst. Dass wir alle leben.« Er warf einen kurzen Blick auf den Bastard. »Und wir befinden uns gerade ziemlich in der Scheiße, wenn ich das mal so ausdrücken darf. Denn wir sitzen ohne Vorräte auf einem Berg fest. Und es wird bald dämmern.«

Desiderius nickte zwar zustimmend, doch seinen ruhelosen Augen war deutlich anzusehen, dass in seinem Kopf weiterhin großes Chaos herrschte.

»Also gut«, seufzte Eagles Freund schließlich und fing den Blick des Bastards auf. »Danke, dass du Antworten hattest.«

»Ist ja nicht so, als hättest du sie nicht aus ihm rausgeprügelt«, murmelte Eagles sarkastisch.

Die beiden anderen ignorierten ihn. Sie hielten nur miteinander Augenkontakt. Eagle bekam das ungute Gefühl, dass sie in jenem Moment einen stillen Pakt schlossen. Und das behagte ihm nicht, weil er nicht ausgeschlossen werden wollte.

»Also, ich bin Desiderius, wie du mir selbst sagtest«, er versuchte sich an einem Schmunzeln, dann zeigte er auf Eagle, »und das ist Eagle. Welchen Namen trägst du?«

Der Bastard antwortete: »Cohen.«

»Kowen?«, hakte Eagle belustigt nach. »Wie der Gott der List?«

»Gesprochen, ja. C-O-H-E-N, geschrieben. Cohen, wie der Sohn des Gottes der List, der die Sünden seines Vaters bei den Göttern wieder wettmachte.«

Eagle schnaubte amüsiert: »Soll das passend sein?«

Cohen sah ihn nur ärgerlich an.

Desiderius nahm es nickend zur Kenntnis, dann stand er wieder auf. Neugierig sah Eagle ihm nach, wie er hinüber zu dem Schwert ging und es aufhob. Was er anschließend tat, hielt Eagle für unglaublich gefährlich.

Er trat zu Cohen und reichte es ihm.

Ebenso überrascht wie Eagle, sah der Bastard auf. Glücklicherweise wollte er es nicht, sodass Eagle sich entspannen konnte.

»Nein«, lehnte Cohen ab, »es gehört ohnehin dir. Nimm es wieder an dich. Es scheint mich ohnehin abzustoßen.«

»Ich hoffe, euch beiden ist bewusst, dass es völlig egal ist, wer das Schwer nimmt«, mischte Eagle sich ärgerlich ein, »wenn wir keinen Unterschlupf finden, bevor die Nacht hereinbricht, wird uns ein einziges Schwert nicht vor den Bestien retten können.«

Mit einem geradezu schelmischen Grinsen band sich Desiderius den Gürtel der geschwungenen Klinge um und rammte sie in die Scheide. »Du fürchtest dich doch nicht etwa?«

Ach nein, nicht doch. Er liebte es geradezu, halbnackt und barfuß durch die stockfinstere Wildnis zu streifen. Nein, nein, das machte ihm überhaupt keine Angst. Von einer Raubkatze zerfleischt zu werden stand ganz oben auf seiner Liste der Möglichkeiten, wie er am liebsten abtreten würde …

Desiderius bot dem Bastard seine Hand dar. Cohen zögerte keinen Augenblick, einzuschlagen. Er wurde auf die Beine gezogen.

Die beiden argwöhnisch beobachtend, wusste Eagle nicht, was er von dem Blick halten sollte, mit dem sein Freund den Bastard musterte.

Was es auch war, es bedeutete nichts Gutes. Sie durften nämlich nicht vergessen, dass Cohen weiterhin ihr Feind blieb, der versuchen würde, sie wieder gefangen zu nehmen, wenn sie erst einmal aus der lebensfeindlichen Umgebung raus waren.

Aber Desiderius betrachtete Cohen nicht wie einen Feind.

Oh nein, ganz und gar nicht …

Zähmung des Feuers

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