Читать книгу Zähmung des Feuers - Billy Remie - Страница 3
Prolog
ОглавлениеEin Windstoß traf auf das blutbeschmierte Gesicht des Großkönigs. Sein blondes Haar wurde von der reißenden Herbstluft zerzaust, die den Gestank von Blut, verbranntem Fleisch und Tod vom Schlachtfeld wehte, und einen geradezu absurd idyllischen Duft verbreitete, der nicht zu dem Leichenberg passen wollte, auf den Großkönig Melecay Wiglaf von Carapuhr einen Fuß stellte und mit erhobenem Schwert seinen Männern ein Siegesbrüllen schenkte, das von den etwa noch hundert stehenden königlichen Soldaten ebenso hingebungsvoll erwidert wurde.
Wie Hunde knurrten und bellten sie ihrem König entgegen, den sie gleichzeitig respektierten und fürchteten wie nichts Anderes in ihrem kurzen Soldatenleben.
Am Himmel kreisten die dunklen Schwingen mittelgroßer Drachen, so viele, dass sie den Himmel verdunkelten als sei es Nacht. Sie kreischten unisono mit ihrem Gebieter.
Desiderius spuckte blutigen Speichel auf den Boden und wischte sich mit der freien Hand über die aufgeplatzte Lippe. Zum Ende des kleinen Tumults hin hatte er einen Knauf ins Gesicht bekommen, ein Zahn saß nun locker – er hoffte, er würde ihn nicht verlieren und somit gezwungen sein, bis in alle Ewigkeit mit geschlossenen Lippen zu lächeln. Nicht, dass sein Lächeln bisher als schön oder erwähnenswert hätte betrachtet werden können.
Während Melecay sich feiern ließ, stieg Desiderius über sein letztes Opfer, einem rebellierenden Alten, der mit einigen Gleichgesinnten einen Aufstand gegen den Großkönig von Carapuhr angezettelt hatte, weil sie mit Melecay als ihren Herrscher nicht einverstanden waren.
Da Melecay Wiglaf von Carapuhr noch nie dafür bekannt gewesen war, irgendetwas mit Diplomatie zu regeln, hätte es diese Handvoll rebellierender Bürger nicht überraschen sollen, dass Melecay ohne zu zögern ihren Bund aus etwa fünfzig Männern zerschlagen würde.
Die armen Teufel hatten es nicht kommen sehen, noch in der Nacht war ihr Lager überrannt worden.
Nun ging die Sonne über den Tannen Carapuhrs auf, am Horizont war der Himmel in Rot getaucht, genau wie der matschige Hügel, auf dem sie in Blut und Leichen standen.
Desiderius ging langsam auf den Großkönig zu, von der Drachenflügelklinge in seiner Hand tropfte noch frisches, hellrotes Blut. »Melecay …« Es klang tadelnd, aber auch belustigt.
Mit einem breiten Lachen, das in einem vom fremden Blut bedeckten Gesicht prangte, drehte sich Melecay zu Desiderius um und breitete die Arme aus, als wolle er ihn umarmen. Er lachte teils irre, teils kindlich.
»Wir haben gewonnen, würde ich sagen«, verkündete der Großkönig.
Mit einem amüsierten Schmunzeln lehnte Desiderius sich auf sein Schwert. »Wie könnte es auch anders sein, Großkönig?«
Bei dem Klang seines Titels wurde das Funkeln in Melecays blauen Augen noch etwas stärker. »Ich versage nie. Wir sind unbesiegbar, du und ich.«
Das Schmunzeln auf Desiderius‘ Gesicht wurde zu einem müden Lächeln, das jedoch ein großes Maß an Nachsicht für den jungen König ausstrahlte.
Melecay war noch nicht lange Großkönig, und er musste noch lernen, dass er nicht jeden Aufstand mit einem Kampf beenden konnte. Nicht einmal zum Schutze seiner Bevölkerung, vielmehr ging es dabei um Finanzierung. Jede noch so kleine Schlacht kostete viel Silber. Es war zu teuer, jeden Feind mit Gewalt niederzumachen. Doch das war nicht Desiderius‘ Problem. Noch nicht jedenfalls. Im Moment sorgte er sich mehr darum, ob Carapuhr sein Versprechen gegenüber Nohva halten konnte, wenn Melecay nicht umsichtiger mit seinen Ausgaben umging.
Der Großkönig Carapuhrs hatte ein Bündnis mit Nohvas Prinzen, und wenn Desiderius mit seinen Befürchtungen richtiglag, würden sie es letztlich auch in Anspruch nehmen müssen. Auch wenn Wexmell sich noch zierte und zögerte, letztlich würden sie Melecays Armee früher oder später in Nohva als Unterstützung nötig haben. Eine andere Armee stand ihnen derzeit nämlich nicht zur Verfügung.
Melecay drehte seinen Männern den Rücken zu, die schon fleißig dabei waren, ihren Feinden alles Wertvolle abzunehmen – seien es edle Schwerter oder glänzende Ringe –, und kam für ein vertrautes Gespräch auf Desiderius zu.
»Sie werden es zukünftig zweimal überdenken, ob sie etwas an meiner Wahl auszusetzen haben«, sagte der Großkönig mit grimmiger Miene. Er bückte sich und wischte seine Klinge am Harnisch eines Sterbenden ab, aus dessen geöffneter Kehle und offenen Lippen Blut gluckerte wie aus einem zerschlagenem Weinfass.
Melecay steckte das Schwert in die Scheide und rieb sich das dreckige Gesicht mit den ebenso beschmutzten Händen.
Es gab viele Aufstände seit Melecay König war, und es gab gewiss einige Gründe, ihn zu fürchten, vor allem wegen seines Jähzorns und seiner Bereitschaft, Leben zu opfern. Jedoch waren es vermehrt Männer, die nur aus einem Grund an ihrem König zweifelten. Sie waren verärgert, weil Melecay sich keine reinrassige Frau zur Gemahlin genommen hatte, sondern einen spitzohrigen Mann.
Prinzgemahl Dainty stammte aus Elkanasai und war ehemaliger Assassine des Kaiserreichs. Das jungenhafte Spitzohr war wohl mit Abstand Großkönig Melecays größte Passion, und deshalb würde der Großkönig dessen Ruf auch stets mit Blutvergießen schützen.
Wenn eine Rebellion angezettelt wurde, weil der Großkönig Männer liebte, war es keine Frage wert, ob Desiderius Melecay zur Seite stand. Er würde für seinesgleichen immer kämpfen.
Deshalb war er heute hier.
Nun ja, deshalb und weil er – auch wenn er es Wexmell nicht gestehen konnte – das Kämpfen vermisste.
Melecay legte Desiderius einen Arm und die Schultern und stemmte die andere Hand mit einem zufriedenen Seufzen in die Seite. Er war einen guten Kopf größer als Desiderius, so wie alle Landsleute Carapuhrs, und die Hand, die nun um Desiderius‘ Schulter lag, glich einer Bärenpranke. Trotzdem wirkte Melecay keineswegs übertrieben, er war schlank und wendig, mit einer geringen Ähnlichkeit zu einem Berserker, jedoch noch immer ein flinker Krieger, kein Rammbock.
»Lass uns feiern, Derius!« Melecay drückte seine Schulter und lächelte ihm voller Siegesfreude zu. »Ich freue mich darauf, Wexmell wieder zu sehen.«
Desiderius lächelte zurück. »Und er wird sich freuen, dich zu sehen.«
In der Nacht und am Morgen kämpften sie noch Seite an Seite und hatten Leben geopfert, ebenso wie sie zusahen, wie Verbündete weinend und nach ihren Müttern schreiend starben, und schon am Abend saßen sie zusammen, speisten und tranken gutgelaunt, ohne Reue wegen ihrer Taten zu empfinden, weil sie im Namen ihrer Freiheit gekämpft und getötet hatten.
Das war die Lebensweise der Leute in Carapuhr. Eine Art zu leben, die Desiderius und seine Gefährten seit mehr als zwei Jahrzehnten genossen. Doch so sehr sie dieses Leben in Carapuhr auch mochten, Desiderius verspürte schon seit langem nichts Anderes als schmerzliches Heimweh.
Oh ja, er wollte kämpfen. Aber für seine Heimat. Für Wexmells Heimat. Für die Heimat seiner Freunde. Für Heimatland und Volk. Sein Volk. Die Luzianer, von denen nicht mehr viele übrig waren.
Desiderius saß auf seinem Stuhl an der langen Tafel seines Hauses. Melecay und einige seiner engsten Vertrauten, darunter sein Bruder Melvin, saßen ihm gegenüber. Die Feier war ausgelassen, je später es wurde, je größer wurde der Schaden, den die Carapuhrianer im Inneren des bescheidenen Anwesens anrichteten. Satt hingen sie in ihren Stühlen oder lehnte auf dem Tisch, der Dank des Großkönigs großzügig mit Speis und Trank eingedeckt war. Das Innere des Raumes schien zu klein für die Anwesenden, es war kaum möglich, aufzustehen und sich einen Weg zur Tür zu bahnen, um den zuvor getrunkenen Wein gelegentlich wieder loszuwerden.
Es war dennoch gemütlicher als in einer Herberge oder dem vom Drachengestank verpesteten Speisesaal der königlichen Burg. Welch Glück für sie alle, dass das Lager des Aufstandes weit von Melecays Sitz entfernt gelegen war, sonst hätten sie ihr Essen mit den Drachen des Königs teilen müssen. Es hieß mittlerweile, Großkönig Melecay liebte seine Drachen mehr als er seine eigene Männlichkeit liebte. Desiderius – der an einem Stück spitzen Holz nagte, das er benutzt hatte, um die Fleischreste aus den Zähnen zu entfernen – grinste in sich hinein, da er wusste, dass diese Behauptung unmöglich der Wahrheit entsprechen konnte. Er kannte den Großkönig bereits so gut, dass er mit Gewissheit sagen konnte, dass Melecay lieber seine Drachen als sein Gemächt geopfert hätte.
Während der Großkönig – den Titel hatte er sich natürlich großkotzig selbst verliehen – eine maßlos übertriebene Variante ihres Kampfes am Morgen zum Besten gab, und dabei so viel Wein verschüttete, das ihm Luro, der am Ende der Tafel neben Allahad saß, bösartige Blicke zuwarf, weil er am Morgen wieder mit putzen dran war, beobachtete Desiderius seine Ziehtochter Karrah, die ihm gegenüber neben Melvin saß und die Augen verdrehte.
Die wunderschöne Hexe, deren langes Haar in violett schimmernden Wellen auf ihre zierlichen Schultern fiel, machte nie einen Hehl aus ihrer Abneigung gegenüber Melecay. Umso erstaunlicher war, dass sie nicht wieder zurück nach Nohva kommen würde. Desiderius würde seine Ziehtochter, die er wie sein eigen Fleisch und Blut liebte, nicht mit in die Heimat nehmen können. Denn Karrah hatte sich mit Melvin vermählt und erwartete bereits ein Kind von dem Jungen. Sie würde in Carapuhr bleiben. Egal, wie sehr Desiderius dagegen war.
Traurigkeit überkam ihn, obwohl der Zeitpunkt seiner Abreise noch nicht bestimmt war. Einerseits war er froh, dass er sie nicht in den Krieg mitnehmen musste, andererseits verlor er sein einziges Kind.
Wexmells Arm lag auf Desiderius‘ Stuhllehne. Der Kronprinz Nohvas lehnte sich zu Desiderius, als habe er dessen Gedanken erraten, und schmiegte sich an dessen Seite.
»Die Hauptsache ist doch, dass sie glücklich ist«, flüsterte Wexmell.
Desiderius brummte, es klang fast nach einer Zustimmung. Jedoch hatte er Melvin von dem Moment an gehasst, als er erfahren hatte, dass er bei Karrah lag. Zum Glück für Melecays Bruder, dessen verbrannte Seite seines Gesichts zu Desiderius zeigte, während er Melecays Erzählungen lauschte, konnte Wexmell Desiderius davon abhalten, ihm den Kopf abzuschlagen. Desiderius durfte niemals daran denken, was dieser Kerl mit seinem kleinen Mädchen machte, wenn sie beieinanderlagen, sonst würde er ihn mit bloßen Händen in Stücke reißen.
Doch so war das gar nicht. Wenn überhaupt verhielt es sich wohl eher genau anders herum, denn Karrah war älter als Melvin. Genau betrachtet – und wenn man sich daran erinnerte, wonach Hexen strebten – hatte vermutlich Karrah den Jungen verführt, um an das Erbgut seiner Lenden zu gelangen. Sie würde Melvin einen Thronerben schenken, der vielleicht Magie und sogar Drachen beherrschen konnte. Einen Thronerben, der ihr Sohn war und den sie aufgrund dessen beeinflussen konnte.
Doch als Vater sah Desiderius nur einen Mann, der seine Tochter entweihte.
Wexmell lachte dunkel in sich hinein, ein wundervoll kehliger Laut, der tief in Desiderius‘ Inneren vibrierte und sein Herz streichelte. »Du bist so unwiderstehlich, wenn du schmollst.«
Desiderius schielte ihn genervt an, doch davon ließ sich der Prinz nicht beeindrucken. Schmunzelnd beugte er sich vor und stupste Desiderius‘ Wange mit seiner vorwitzig nach oben zeigenden Nasenspitze an, was Desiderius zu einem dämlichen Grinsen veranlasste.
Sie waren schon solange Gefährten, und noch immer so verliebt wie am ersten Tag. Er könnte sich gar nicht vorstellen, auch nur noch einen Tag ohne seinen Prinzen zu leben. Weshalb es für ihn völlig unverständlich war, dass sich viele Männer über lange Beziehungen beschwerten. Wexmells und seine Liebe wurde durch die Jahre ihrer Gemeinschaft nicht geschmälert, sie wuchs mit jedem Tag. Der Gedanke ließ ihn beruhigt lächeln. Was auch immer auf sie zukommen mochte, er wusste, sie würden es durchstehen, solange sie nur zusammen waren. Und nicht einmal die Götter wären fähig, sie zu trennen!
Doch als Desiderius‘ Augen Melecays Gestalt streiften, verdüsterte sich sein Blick.
»Ich werde mit ihm reden, Wex«, beschloss er ernst und sah Wexmell in die Augen. Es lag eine Entschuldigung in seinem Blick, als er fortfuhr: »Wir können nicht noch länger warten.«
In Wexmells Augen trat tiefes Bedauern, doch er nickte zustimmend. »Ich weiß. Dein Heimweh zerfrisst dich. Auch wenn ich wünschte, wir könnten für hierbleiben und in Frieden leben, wir müssen zurück, bevor ich dich verliere.«
»Du weißt, das ist absurd.« Desiderius drehte sich zu Wexmell um und umfasste dessen sanfte Gesichtszüge mit beiden Händen, sein Griff war zärtlich, ebenso seine Daumen, die über die hohen Wangenknochen strichen. »Du bist alles, was ich brauche. Und wenn du nicht wärst, hätte ich keine Ziele.« Schließlich wollte er auch für Wexmell zurück.
Wexmell lächelte traurig. »Versprich mir nur eines, wenn es losgeht.«
»Alles!«
Wexmell sah für einen Augenblick zu Boden, ehe seine eisblauen Augen wieder Desiderius fixierten. »Sollten wir wiedererwarten Erfolg haben, dann verlass mich nicht, egal, was passiert.«
Desiderius musste über ihn schmunzeln. »Wex … nach mehr als zwanzig Jahren könnte ich doch gar nicht mehr ohne dich leben. Wie kommst du nur darauf?«
»Du hast immer durchblicken lassen, dass du dir zu stolz bist, um der Geliebte des Königs zu sein.«
Desiderius zuckte mit seinen massigen Schultern. »Stolz ist etwas, das man im Laufe der Zeit verlieren kann.«
Wexmell lachte ob des Scherzes auf.
»Lass uns nicht darüber sprechen, was passiert, sollten wir Erfolg haben, Wex«, sagte Desiderius ernst, »lass uns darüber sprechen, wie wir Erfolg haben können. Immerhin haben wir eine Pflicht gegenüber jenen, die unsere Hilfe brauchen. Das liegt doch nur in deinem Interesse, oder etwa nicht?«
Wexmell runzelte traurig die Stirn. »Ja. Aber nach all der Zeit hier, da frage ich mich allmählich, warum es ausgerechnet unsere Pflicht ist.«
Desiderius ließ die Hände fallen und nahm dafür Wexmells Finger in seine. »Keine Ahnung. Zufall?«
Wexmell machte diese Antwort nicht glücklich.
»Es ist doch so«, erklärte Desiderius, »irgendjemand muss versuchen, etwas zu verändern. Wenn wir alle nur an uns denken und nichts unternehmen, egal was, dann wird die Welt sich nie verbessern. Ich für meinen Teil möchte meine Heimat und mein Volk in Freiheit sehen. Und dafür möchte ich kämpfen. Es ist das, wofür ich lebe. Ob andere meine Beweggründe gut finden oder nicht ist mir gleich. Denn ich könnte nicht mit mir leben, wenn ich einfach gar nichts tue, nur weil wir hier einen Platz zum Leben und Lieben gefunden haben. Ich möchte, dass auch Nohva diese Freiheit schmeckt.«
Wexmell lächelte, doch es erreichte seine Augen nur halb.
»Wex, ich schwöre dir bei allem, was mir heilig ist – also bei deiner Liebe zu mir – das, was auch immer geschehen mag, ich nicht von deiner Seite weiche. Ob du nun König bist – oder nicht.« Er lächelte und fuhr mit einem Daumen über Wexmells Lippen, eher er ihm leise zu hauchte: »Du gehörst zu mir, ich gehöre zu dir. Bis in alle Ewigkeit.«
Wexmell begann losgelöst zu lächeln und umschlang Desiderius‘ Nacken mit beiden Armen. Sie küssten sich innig und voller Liebe.
Desiderius würde eines sehr vermissen, die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich in Carapuhr lieben durften.
»Ich begleite euch ein Stück des Weges«, beschloss Desiderius.
»Zu freundlich!«, lallte Melecay und schlug ihm beim Verlassen des Hauses auf die Schulter.
Desiderius schüttelte grinsend den Kopf. »Einer muss ja dafür sorgen, dass du nicht vom Pferd fällst!«
»Wir könnten ihm ein Seil um den Fuß binden und hinter den Pferden herziehen«, schlug Karrah vor und folgte mit Melvin dem Großkönig, der sich von einer Leibwache auf sein silbergraues Pferd helfen ließ.
Bevor Desiderius folgen konnte, legte ihm Wexmell von hinten eine Hand auf die Schulter.
Noch einmal drehte Desiderius sich zu seinem Geliebten um und konnte sich kaum überwinden, dem funkelnden Ausdruck in dessen eisblauen Augen zu wiederstehen, den Wexmell immer bekam, wenn er zu viel Bier und Wein getrunken hatte.
»Beeil dich«, bat Wexmell und schmunzelte mokant, »dein Bett erwartet dich.«
»Wärme es für mich vor, unbekleidet und willig, und ich kehre schnell zurück um in deine Arme zu sinken«, versprach Desiderius und küsste ihn noch einmal. Dann warf er sich seinen dicken Wollumhang um die Schultern und trat hinaus ins Freie, wo Wanderer schon auf ihn wartete.
Am Ende eines langen Waldweges verabschiedeten sie sich. Sie stiegen von den Pferden und drückten sich die Handgelenke.
»Pass mir gut auf sie auf«, warnte Desiderius, als er sich von Melvin verabschiedete.
Wie immer nickte der jüngere Mann ein kleinwenig eingeschüchtert.
Als er sich von Karrah verabschiedete, nahm er sie in den Arm und fragte leise in ihr Ohr: »Hast du was von Zazar gehört?«
Doch Karrah schüttelte den Kopf.
Desiderius versuchte, seine Trauer über seinen seit Monaten verschollenen Bruder zu verbergen und löste sich von seiner Ziehtochter.
Er legte ihr eine Hand auf den aufgedunsenen Bauch, der sich deutlich unter ihrem schwarzen Kleid abzeichnete. »Wenn er raus will, möchte ich dabei sein.«
Sie lächelte nur, sagte aber nichts dazu.
Plötzlich fiel ihr etwas ein. »Oh, warte!« Sie durchsuchte ihre dunkelroten Gewänder. »Hier, nimm das an dich.«
Zögerlich nahm Desiderius das kleine Buch in die Hand, das sie ihm reichte, und drehte es herum. Seine Augenbrauen schnellten nach oben. »Melecays Tagebuch?«
Sie nahm es ihm wieder ab, um es ihm unter die Kleidung zu schieben, wo es genau über dem Herzen stecken blieb. Karrah klopfte darauf und sah traurig zu ihm auf. »Trag es an deinem Herzen, vielleicht schützt es dich vor einem Pfeil.«
»Wie kommst du da ran?«, fragte er verwirrt.
Sie zwinkerte frech. »Ich habe es gestohlen. Er wird es nicht vermissen.«
»Du musst es ja wissen«, schmunzelte er. Immerhin konnte sie gelegentlich mehr sehen, als alle anderen.
»Wieso ausgerechnet dieses Buch?«
In Karrahs Blick lag etwas tief Trauriges, als sie zu ihm aufsah. »Du wirst es brauchen, Vater.«
Stutzig geworden runzelte er die Stirn.
»Ich weiß nicht viel«, gestand sie nervös, noch immer lag ihre Hand auf dem Buch und über seinem Herzen. »Ich habe von dir geträumt. Du standst auf einem Berg im Abendrot und hattest das Buch in der Hand. Dreck und Blut hafteten dir an, wie nach einem schweren Kampf. Dein Gesicht war eine Maske des Grauens. Ich weiß nicht, was es bedeutet.«
Es behagte ihm nicht, dass sie von ihm geträumt hatte. Karrahs Träume bedeuten nie eine harmlose Wendung. Er nickte und vertraute auf sie.
Noch einmal umarmten sie sich, und er sagte ihr, dass er sie liebte. Dann ließ er sie los und hatte das bedauernde Gefühl, sie für eine lange Zeit nicht mehr wiederzusehen.
Schließlich trat er zu Melecay. Sie führten ihre Pferde noch ein kleines Stück den Weg entlang.
Nach kurzem Schweigen brachte Desiderius den Mut auf, den anderen Mann um etwas zu bitten. »Melecay, ich brauche ein Schiff.«
Melecay nickte. »Ich habe mich schon gefragt, wann es endlich soweit ist.«
»Wexmell möchte nicht, dass ihr uns begleitet, aber …«
»Ich werde eine Armee bereitstellen, falls ihr Hilfe benötigt, doch ich dränge trotzdem darauf, euch begleiten zu dürfen.«
»Ich muss Wexmell leider zustimmen«, gestand Desiderius und blieb stehen. »Nohva ist nicht Carapuhr. Und wenn wir mit einer Barbarenarmee einfallen, könnten die Völker Angst bekommen. Das wollen wir jedoch vermeiden. Wexmell will so wenig Blut vergießen, wie möglich. Und – tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber – du bist nicht gerade für deine Zurückhaltung bekannt. Ebenso wenig wie deine Männer.«
»Mit Diplomatie wird Wexmell König Rahff nicht dazu bringen, abzutreten«, warf Melecay belustigt ein.
»Mittlerweile ist viel Zeit vergangen, und Gerüchten zu Folge hat Rahff wegen der Tyrannei seiner Kirche viele Anhänger verloren. Wir wollen versuchen, ihn damit in die Enge zu treiben, indem wir den Großteil unserer Völker auf Wexmells Seite ziehen. Das gelingt uns besser, wenn wir ohne eine beängstigte Zahl Fremder anreisen.«
Melecay betrachtete ihn für einen Moment, dabei war ihm deutlich anzusehen, dass er nicht an ihren Plan glaubte.
»Außerdem möchte ich nicht warten, bis ihr genug Schiffe für eine Flotte gebaut habt. Wenn Rahff stirbt, bevor wir zurückkehren, könnte man uns Feigheit vorwerfen. Und den Weg über Elkanasai will ich nicht gehen. Wie ich dir bereits mehrfach sagte, werde ich erst mit dir über einen Einmarsch ins Kaiserreich sprechen, wenn wir Nohva zurückerobert haben.«
Wie jedes Mal enttäuschte das Melecay. Er sah in den Wald hinein, der den Weg einzäunte, und sagte murmelnd: »Das Kaiserreich ist ein großes Imperium und ein mächtiger Gegner, den ich noch immer fürchte. Ich brauche einen Mann auf dem Thron des Kaisers, dem ich vertraue. Und davon gibt es nur noch wenige.«
»Wir finden eine Lösung. Aber nicht jetzt.«
Melecay nickte einverstanden, er wusste, wie sehr das Herz eines Mannes an seiner Heimat hängen konnte. »Also gut. Solange meine Heimat nicht bedroht wird, kann ich geduldig sein. Aber was, wenn ich dir sage, dass es vielleicht eine Möglichkeit gibt, ohne Schiffe nach Nohva zu gelangen? Und ohne über Elkanasai zu reisen?« Er grinste verschwörerisch. »Dürfte ich euch dann begleiten? Und sei es nur ich und ein kleiner Trupp, um meine Verbundenheit zu euch zu demonstrieren? «
Desiderius wurde stutzig. Die kalte Herbstluft wehte durch sein Haar, als er neugierig darauf wartete, dass Melecay erklärte, was ihm vorschwebte.
»Es gibt ein Portal unterhalb Carapuhrs, in alten Bergruinen«, platzte Melecay heraus.
Desiderius verstand kein Wort und schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht …?«
»Wir fanden Hinweise darauf in alten Schriften. Laut einigen Überlieferungen gibt es Portale, die die Kontinente unserer Welt miteinander verbinden. Sie werden von deinem Volk Götterportale genannt. Laut einer Legende, soll der Eroberer Carapuhrs sie entdeckt und genutzt haben, um Truppen gegen die Spitzohren schneller in das Land zu schleusen. Er kam nie über das Meer, wie viele glaubten. Er nutzte die Portale. Er war ein gerissener Lügner.«
»Wie kann das möglich sein?«
Melecay zuckte mit den Schultern. »Die Schriften sprachen von alten Zauberern und Hexen, die diese Portale genutzt haben, um schneller reisen zu können. Eine uralte Magie, deren Verständnis im Laufe der Zeit verloren ging. Seit mehreren Jahrtausenden stehen sie still. Doch es soll Schlüssel geben. Wir sind dabei, herauszufinden, ob wir das Portal mit Hexenkraft öffnen können.«
»Ihr habt danach gesucht und wirklich eines gefunden?«, hakte Desiderius ungläubig nach. Ihm wollte das alles noch nicht so richtig in den Kopf.
»Ja. Jedoch …« Melecay sah zu Boden, er wirkte nicht, als wollte er aussprechen, was er angefangen hatte.
»Was?«, drängte Desiderius.
»Den Schriften zu folge, befindet sich der letzte existierende Schlüssel in Nohva«, erklärte Melecay. »Gut möglich, dass eure Feinde durch das Portal kommen können, noch bevor wir herausgefunden haben, wie wir hindurch können.«
Desiderius‘ Gedanken überschlugen sich, als er nach Hause ritt.
Portal oder Schiff?
Es wäre natürlich viel vorteilhafter, durch ein Portal zu schreiten und direkt in Nohva aufzukreuzen, ohne eine gefährliche Seefahrt unternehmen zu müssen. Andererseits wusste niemand, ob das Portal überhaupt in naher Zukunft geöffnet werden konnte, und wenn, wohin es genau führte. Magie war niemals einfach und Magie fürchtete er nach wie vor. Er wollte kein Portal benutzen, ohne zuvor Bellzazar um Rat zu fragen.
Doch sein Bruder erhörte keinen seiner Rufe, und Desiderius spürte ihn auch nicht mehr. Nicht nur sein Heimweh war es, das ihm zusetzte und was Wexmell in den letzten Monaten zu spüren bekommen hatte, es war auch seine Sorge um seinen Bruder. Desiderius fürchtete, Bellzazar könnte etwas Schlimmes zugestoßen sein. Und zwar in einer Welt, in die er ihm nicht folgen konnte.
Und dann hatte Nohva auch noch den Schlüssel zu diesem Portal? Das war alles andere als vorteilhaft. Spione könnten schon in Carapuhr sein. Oder noch schlimmer: Meuchelmörder. Das einzige, das ihn nicht in Panik geraten ließ, war das Wissen, das Wexmell für tot gehalten wurde, und ihm dadurch kaum Gefahr drohte.
Doch all das geriet vollkommen in Vergessenheit, als er am Haus ankam.
Etwas stimmte nicht.
Die Tür stand offen. Der Duft von Wein und halb verspeisten Braten drang nach draußen in die kühle Luft. Die Pferde irrten umher, jemand hatte die Ställe offengelassen.
Mit einem Ziehen im Magen glitt Desiderius aus dem Sattel und klopfte beruhigend Wanderers Hals ab, als der Hengst nervös den Kopf hochwarf.
»Wex?«, rief Desiderius halblaut und schlich langsam auf die Stufen zu, die hinauf zur Tür führten. »Luro? Allahad?«
Niemand antwortete ihm.
Etwas auf den Stufen glänzte dunkel. Ein Teil von ihm hoffte, es sei verschütteter Wein, doch als er nähertrat, konnte er das Rot auf den Stufen nicht mehr mit etwas anderem verwechseln. Es war eine Schleifspur aus Blut.
Sofort machte sein Herz einen Satz. Er sprang die Stufen hinauf, ungeachtet der Tatsache, dass er fast ausrutschte, und stolperte ins Innere.
»Wex!«, rief er, doch sein Ruf erstickte in einem Aufschrei.
Die Bodendielen waren blutgetränkt, Lachen aus roten Pfützen bildeten sich unter am Boden liegenden Körpern, die sich nicht bewegten. Schwerter lagen herum. Schwerter, die zu spät und in purer Verzweiflung ergriffen worden waren. Leichen von vermummten Männern lagen herum, sie trugen ein Symbol auf der Brust, das Desiderius nicht fremd war. Eine halbe Sonne und ein halber Sichelmond. Das Symbol der Kirche Nohvas.
Allahad und Luro lagen regungslos am Boden, dunkles Blut floss aus ihren zahlreichen Wunden, ihre Augen waren geschlossen, sie atmeten nicht mehr … Kälte erfasste Desiderius` Herz. Er war beinahe zu gelähmt, um zu begreifen. Das konnte nur ein Alptraum sein …
Hastig suchten Desiderius‘ Augen den Boden ab, bis er … »Wex!«
Wexmell lag mit dem Gesicht nach unten im eigenem Blut. Sein Brustkorb war still, er atmete nicht mehr, und sein schönes, goldgelocktes Haar war rotgefärbt. Frisches Blut sickerte aus einer großen Kopfwunde.
Desiderius stolperte über die Leichen auf ihn zu. Doch bevor er bei seinem Prinzen angelangen konnte, spürte er eine Bewegung hinter sich.
Er wirbelte erschrocken herum.
»Haben wir dich!«
Das letzte, was er sah, bevor der Schwertknauf sein Gesicht traf, war das Wappenzeichen mit dem aufsteigenden, schwarzen Hengst auf der Brust eines gepanzerten Ritters.