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Teil 1: Tod den Sündern

»Welcher Sterbliche von sich glaubt, den Willen eines Gottes zu kennen, und in seinem Namen Sünder zu ernennen, um sie aus reiner Mordlust zu töten, begeht das schwerste Verbrechen gegen die Göttlichkeit, weil er sich somit selbst zu einem Gott ernennt.«

 Auszug aus einer Mitschrift einer Rede des ersten wahren Königs von Nohva

Nohva war mit dem düsteren Schatten des Krieges bedeckt.

Wer nach all den Jahren noch immer etwas Anderes behauptete, war blind und taub. Überall auf dem Kontinent war das Land von zahlreichen Schlachten gezeichnet. Unzählige Scheiterhaufen, auf dem die Gefallenen zu tausenden aufgehäuft waren, brannten in jedem Dorf. Jedes noch so kleine Feld hatte mindestens einmal als Schauplatz eines Kampfes gedient. Die vom langen Winter feuchte Erde war blutdurchdrängt. Dämonen gingen umher. Alte und Kinder wurden in die Armeen beordert, und ihre Frauen und Mütter warteten zu Hause darauf, von ihrem Tod zu erfahren – oder die Dörfer waren bereits von Heeren geplündert worden. Vom Krieg blieb niemand verschont, und welcher Mann glaubte, seine Frau und Kinder seien zu Hause sicherer als auf dem Schlachtfeld, der irrte sich. Der irrte sich gewaltig. Ob Feind oder eigene Kameraden, sobald nach einer Schlacht ein Dorf gesichtet wurde, wurden aus angeblich ehrenwerten Kriegern wilde Tiere, die plünderten und vergewaltigten. Ob Mensch oder Tier, ob tot oder lebendig.

Das war Krieg.

Und das würde sich im Krieg nie ändern. Egal, wie viele ehrenwerte Seelen es tatsächlich unter den Soldaten gab, die Kämpfe machten mehr als über dreiviertel der Männer zu abgestumpften Perversen, für die Gewalt und Tod etwas völlig Normales wurde.

Und doch war es schwer ihnen als eigener Kamerad wütend zu sein. Man konnte schockiert sein, man konnte es verachten, man konnte versuchen, sie aufzuhalten, aber man konnte sie auch zu einem gewissen Teil verstehen, wenn man selbst die Hölle des Krieges gesehen hatte. Es war purer Zufall – vielleicht war es auch Glück – wenn man selbst nicht völlig kalt und herzlos wurde, trotz der Dinge, die man gesehen hatte und nie wieder vergessen konnte.

Cohen spürte den milden Wind des Frühlings im Haar. Die Luft schmeckte salzig, weil sie vom Meer her geweht kam. Unter ihm erstreckte sich eine gewaltige Wüstenlandschaft, staubiger Sand wurde im Morgenrot aufgewirbelt und verdeckte die halbe Sicht auf die gut verteidigte Tempelanlage, die ihm und seinem Reitertrupp regelrecht zu Füßen lag.

Galia, seine wunderschöne Stute, bewegte ihr Gewicht von einem Huf auf den anderen. Sie strahlte eine bemerkenswerte Ruhe aus, die sich auf ihn übertrug. Pferd und Reiter vertrauten einander wie Mutter und Kind es täten. Und das war für seinen Aufgabenbereich auch unabdingbar.

Einige Männer schworen auf Hengste, weil sie furchtlos und unbändig in die Schlacht ritten. Doch da verschätzten sich viele Reiter, denn das Wesen eines Tieres war – ebenso wie bei Zweibeinern – nie an sein Geschlecht gebunden. Galia war mit Abstand das stärkste, schönste und vor allem auch mutigste Kriegspferd, das je in Nohva geboren worden war. Jedenfalls für Cohen.

Er schloss für einen kurzen Moment die Augen und genoss den Kuss des Frühlings im Gesicht. Noch immer war es kalt von der sternenklaren Nacht, selbst am Rand der Wüste. Der Winter im Süden war noch nicht gänzlich vergangen, da begann im Westen schon die erste Schlacht.

Es waren relativ ereignislose Wintermonate gewesen, da alle Seiten des Krieges in der kalten Jahreszeit zu wenig Ressourcen hatten, um Krieg zu führen. Hin und wieder hatten die Rebellen einen Lord angegriffen, und die königlichen Truppen hatten versucht, den betroffenen Adeligen zu verteidigen. Doch im Vergleich zu den Schlachten, die sie über den Sommer und den Herbst mit dem Wüstenvolk geführt hatten, waren die Kämpfe gegen die Rebellen nichts weiter als harmlose Dispute gewesen.

Die Rebellen waren zwar eine mittlerweile beängstigt große Gruppe geworden, jedoch ohne Vorräte und mit schwindendgeringen Waffen und Rüstungen. Der größte Krieg spielte sich zwischen König Rahffs Truppen und dem völlig außer Kontrolle geratenem Wüstenvolk ab, das von ihren Feinden nur noch »Goldis« genannt wurde. Und das nicht nur wegen ihrer bronzefarbenen Haut, sondern vielmehr wegen den erst vor einigen Jahren entdeckten Golderzadern unterhalb der Wüste.

Gold war mehr wert als Silber, doch Cohens Glaube verbot Gold als Zahlungsmittel, da Gold in seinem Glauben allein den Göttern gehörte. Cohens Glaubensbrüder errichteten Kirchen und heilige Schreine aus Gold, opferten Gold, indem sie es in Truhen verschanzten und an heiligen Stätten für die Götter vergruben, in voller Hoffnung, so die Gunst der heiligen Wesen zu erlangen.

Doch die Goldis glaubten nicht an Götter. Sie beteten nur zu einem Gott. Einem Gott, der noch grausamer sein konnte als Cohens eigene Götter.

Sie waren bereit gewesen, das Gold für den König abzuschürfen und es zu einem angemessenen Preis zu verkaufen, so wie es ihr gutgegebenes Recht gewesen wäre, immerhin gehörten diese Minen ihnen. Aber ihr Vorschlag wurde abgelehnt.

Wie dem auch sei. Das Gold war der eigentliche Grund, weshalb Lord Schavellen – Lord von Dargard – Krieg beginnen wollte. Natürlich im Namen der Götter. Und auch König Rahff war ebenso erpicht darauf, die Minen für sich zu beanspruchen, doch einem Krieg hätte er rein aus finanzieller Sicht wohl kaum zugestimmt, wenn ihn Lord Schavellen und sein sadistischer Sohn nicht dazu erpresst hätten. Wie so oft hatte sich der König Nohvas von den Anhängern der Kirche unterdrücken lassen, weil seine Herrschaft davon abhing, dass er von den Gläubigen unterstützt wurde.

Cohen konnte all das überhaupt nicht verstehen, von Politik hatte er ohnehin keine Ahnung. Aber er sah mehr als die hohen Köpfe, die im Hintergrund die Fäden zogen. Er war ein Krieger mitten in den Schlachten, und er, als einfacherer Soldat, wusste mehr als jeder Adelige, dass es den Männern und Frauen der Völker nicht um Gold ging. Nein, das alles hier, der gesamte Krieg – zusätzlich zum Aufstand der Rebellen – war in einen heiligen Krieg ausgeartet. Götter gegen einen Gott. Religion gegen Religion. Ein Glaube gegen einen anderen. Am Rande des Krieges kämpften die Rebellen für etwas Freiheit, die sie wohl nie erlangen würden, und die großen Heere schlugen sich gegenseitig die Köpfe ab, während die Götter, für deren Rechte sie töteten, vermutlich gar nicht mehr existierten.

Cohen war einst ein Mann gewesen, der ohne nachzufragen alles im Namen der Götter getan hätte. Er war sehr gläubig gewesen, obwohl sein eigener Glaube ihn unterdrückte. Er war nur ein Bastard, und als Bastard war man in den Augen seiner Götter nichts wert, also hatte er nie zu etwas Höherem aufsteigen können als zu dem, was er heute war. Er durfte einen kleinen Reitertrupp anführen, aber nur, weil er des Königs Bastard war, und nur, weil die Männer, die ihm unterstanden, ebenfalls Bastarde waren.

Sie waren die Schandflecke ihres Volkes, und doch waren sie es, die immer wieder ihr Leben zum Schutze jener riskierten, von denen sie verurteilt wurden.

Wie gesagt, Cohen war ein gläubiger Mann gewesen. Nicht einmal der Umstand, dass er niemals die Truppen seines Vaters anführen würde – wie der König es ihm als Kind stets versprochen, aber nie eingehalten hatte – hatte daran etwas ändern können. Doch nun, nach dem Winter und nur wenige Augenblicke vor einer weiteren Schlacht, musste Cohen sich eingestehen, dass er in seinem Glauben erschüttert worden war.

Denn der Glaube an die Götter war schuld, dass er vor wenigen Monaten seinen letzten noch verbliebenen Bruder verloren hatte. Einen Bruder, den er mehr geliebt hatte, als sein eigenes verfluchtes Leben.

Cohen spürte Solrans Blick auf sich. Der Reiter war viele Jahre älter als Cohen und hätte es verdient, an Cohens Stelle zu stehen. Aber wie gesagt, Cohen war der Befehlshaber, weil er nicht irgendein Bastard war, sondern des Königs Bastard.

Zu irgendwas musste dieser winzige Unterschied ja gut sein.

Cohen wandte seinem Kameraden nicht das Gesicht zu, er starrte weiter hinab auf die Tempelanlage, nur seine düsteren Gedanken lichteten sich etwas.

Es war Zeit, sich zu konzentrieren, es stand ein Kampf bevor.

Solran betrachtete Cohen noch eine ganze Weile nachdenklich, erst dann richtete er seinen Blick ebenfalls auf die Tempelanlage und betrachtete die aus weißem Stein gefertigten Türme, deren Spitzen im Morgenrot golden schimmerten.

»Wofür kämpfen wir eigentlich?«, flüsterte Solran in die milde Morgenluft. »Für Lords, die Bastarde und Frauen unterdrücken? Für eine Heimat, die von Ausbeutung gekennzeichnet ist? Kämpfen und sterben wir für Männer, die uns gar nicht wahrnehmen?«

Cohens Lippen öffneten sich unwillkürlich, weil seine Brust und Kehle bei diesen Fragen so eng wurden, dass er zu ersticken glaubte.

Ihm wurde von seinen Männern in letzter Zeit oft diese Fragen gestellt, als spürten sie, dass er ihnen nach dem Tod seines letzten Bruders näher war denn je.

Denn vor Sevkins Ermordung – und für Cohen war es nichts als Mord gewesen – waren sie gegenüber Cohen eher distanziert gewesen, nach dem Winter jedoch waren ihre Blicke und Worte voller Respekt gegenüber ihrem Kommandanten.

Früher hatten sie ohne ihn getrunken und getuschelt, und wenn er in ihre Nähe gekommen war, waren sie verstummt und hatten sich vielsagende Blicke zugeworfen. Ganz nach dem Motto: »Er ist des Königs Bastard, sagt bloß nichts Falsches!«

Als Cohen nach einem längeren Aufenthalt in seinen Gemächern ­­– angeblich musste er sich von einer schlimmen Verletzung erholen – wieder freigelassen wurde, hatte sich seine ganze Welt verändert. Und auch seine Männer. Denn sie wussten, dass er in keiner Schlacht verletzt worden war. Sie ahnten, dass er unfreiwillig weggesperrt worden war. Sicher fragten sie sich, was im Winter in der königlichen Burg tatsächlich geschehen war, aber keiner drängte danach, es von ihm bestätigt zu bekommen.

Fakt war, ihr Kommandant wusste selbst nicht mehr, wohin er gehörte, und das war ihre Chance, ihn an ihren Gedanken teilhaben zu lassen.

Wie immer konnte Cohen die Frage darüber, wofür sie heute kämpften, nur mit einer lieblosen Erwiderung beantworten, die ihm sein Vater eingefleischt hatte.

»Wir kämpfen für unsere Heimat. Für die Ehre und den Ruhm unseres Königs«, murmelte er gedankenverloren.

Er liebte seinen Vater, er schätzte ihn wie keinen anderen Mann. Ihre Verbindung war stark, ihr Verhältnis war einmalig und lobenswert. Cohen mochte nur die Hintermänner nicht, die seinen Vater erpressten.

Warum, verflucht noch mal, hatte er nicht den Tod seines letzten Erben verhindert?

Cohen schloss die Augen und versuchte, jetzt nicht an Sevkin zu denken, oder daran, wie er auf den verlassenen Platz getreten war, mutterseelenallein, über verfaultes Obst und Dreck gestolpert war, um auf den Galgen zu klettern und den Körper seines Bruders loszuschneiden. Er wusste noch, wie angeschwollen und blau Sevkins feine Gesichtszüge gewesen waren, und wie ihm die dicke Zunge aus dem lieblichen Mund gequollen war, als wäre sie ein Fremdkörper und könnte unmöglich zu ihm gehören.

Seine Erinnerung daran wurde brüsk unterbrochen, als die ersten Soldaten über die Sandhügel rannten und auf die Tempelanlage zusteuerten, kurz darauf waren die Warnrufe von Dienerinnen zu hören. Die Fußtruppen machten den ersten Vorstoß, nach ihnen brachten einige Soldaten einen Rammbock, um die massiven Tore der Mauern aufzustoßen, damit sie ungehindert in den Tempel eindringen konnten.

Cohen und seine Männer waren erst dann gefragt, wenn wiedererwarten Soldaten in der Tempelanlage versteckt waren.

Ja, dafür waren sie gut. Nicht auszudenken, die Soldaten des Lords von Dargard würden mal einen feindlichen Soldaten gegenübertreten müssen, statt unschuldige Zivilisten zu ermorden, dachte Cohen zynisch.

»Wir brauchen Rüstungen und neue Waffen für den Frühling«, hatte Lord Schavellen dem König vorgetragen. »Uns fehlen Ressourcen, wir haben keine Wahl, wir müssen uns finanzielle Mittel beschaffen.«

Kriegsbeute nennen sie es. Cohen nannte es Plündern. Wenn man im Krieg eine bedeutende Stadt des Feindes erobert, sie einnimmt und dann die darin befindlichen Güter für die eigenen Armeen verwendet, war dies unabdingbar. Doch einen ungeschützten Tempel auszurauben und die Heiligtümer zu stehlen war ein Kriegsverbrechen in Cohens Augen. Zumal sie damit nur noch mehr die Wüstenbevölkerung gegen sich aufbrachten.

Solran betrachtete das Gemetzel innerhalb der Tempelanlage, als die ersten Soldaten der Ebenen durchbrachen und die ersten qualvollen Schreie der Unschuldigen laut wurden. Er schüttelte leicht den Kopf voller innerlicher Abscheu, dabei wackelte sein grauer Haarschopf.

»Ja«, flüsterte Solran in die Morgenröte hinein, »für Ehre und Ruhm unseres Königs …«

»Was hat das noch mit Ehre zu tun?«, ließ Arrav verlauten. Er war ein grimmiger Geselle, groß und schlank – zu groß für seinen kleinen weißen Hengst – dessen dunkles Haar in Wellen auf seine Schultern fiel.

Als Cohen sich im Sattel mit nachdenklichem Blick zu ihm umwandte, schnitt er gerade in aller Seelenruhe mit einem Dolch ein Stück von einem hellgrünen Apfel ab und schob es sich in den Mund.

Arrav hatte keine Probleme damit, zu töten, er war Cohen immer sehr kaltherzig erschienen, doch nachdem sie in den letzten vier Jahren zusammen zu Felde gezogen waren, wusste Cohen, das Arrav nicht kalt, sondern nur abgestumpft war. Arrav kannte den Unterschied zwischen Töten und Morden. Etwas, das die Soldaten unterhalb dieses Sandhügels vergessen hatten.

Cohen sah sich weiter nach seinen Männern um. Es waren fünf, die ihm unterstanden. Solran, der mehr ein Mentor als ein Untergebener war. Arrav, der im Herzen mehr wie ein kalter Meuchelmörder aber ein treuer Gefährte war. Iksbir, der ein erstaunlich diplomatisches Gespür besaß. Ugrath, Iksbirs jüngerer Bruder, der vom Töten eigentlich nichts hielt und nur kämpfte, weil er dazu gezwungen war. Und schließlich Misa, der so jung war, dass er in Frauenkleider locker mit einem Mädchen zu verwechseln wäre. Nicht einmal in den Stimmbruch war der Junge gekommen, bevor er in die Armee gesteckt wurde.

Fünf, von ursprünglich sechzig Mann. Sie waren nur noch fünf …

Eigentlich vier, denn der fünfte im Bunde, Misa, war in diesem Jahr zum ersten Mal dabei. Ein Junge im Alter von gerademal zwölf Sommern, der am Abend zuvor noch große Reden geschwungen hatte, welch guter Reiter und Kämpfer er wäre, und der nun, so kurz vor der Schlacht, wie ein nasser Sack im Sattel hing und blass um die zierliche Nase wurde.

Während der Junge voller Angst das Plündern betrachtete, sahen die anderen vier Cohen entschlossen entgegen. Ja, sie verabscheuten, was dort unten geschah, aber sie würden kämpfen. Weil sie ihn nach all den Jahren als Kommandanten respektierten, so wie er sie respektierte. Der Krieg hatte sie zu Brüdern gemacht, ihre Lebensumstände verbanden sie alle miteinander. Sie wussten, dass er der beste Reiter in ganz Nohva war, und sie vertrauten auf seine Fähigkeiten. Außerdem würde der König sie allesamt hinrichten lassen, wenn sie Cohens Befehlen nicht gehorchten.

Doch was anfangs der Grund für ihr Folgen war, war heute bereits vergessen. Sie ritten an Cohens Seite, weil er sich vor ihnen bewiesen hatte. Und er wollte sie jetzt nicht enttäuschen.

Voller Unbehagen blickte er wieder hinab und sah zu, wie Blut und Tod den hübschen Tempel besudelte. Auf den weißen Stufen, die zum Heiligtum hinaufführten, lagen eine Handvoll verstreuter Leichen, kein Soldat war unter ihnen. Einige Priester und Dienerinnen schafften es aus der Tempelanlage und flohen in die unerbittliche Weite der Wüste. Cohen hatte den Befehl, jeden Flüchtigen abzufangen und zu töten.

Das war nicht richtig.

Wofür kämpfen wir?

Er wusste es nicht.

Jedenfalls nicht dafür. Nicht, um die reichen Männer noch reicher zu machen. Nicht, um unschuldige Dienerrinnen und Priester abzuschlachten.

Cohen sah all seine gefallenen Kameraden vor sich, so als wäre es erst wenige Augenblick her. Über Fünfzig seiner Männer hatte er verloren, obwohl er für jeden einzelnen von ihnen sein Leben riskiert hatte. Es hatte nichts genützt. Die Götter hatten ihre schützenden Hände nur über ihn, jedoch nie über seine treuen Gefährten gehalten.

Seine Brüder hatte Cohen auch nicht retten können. Raaks, einstiger Kronprinz, starb in der ersten Schlacht gegen die Goldis mitten in den Tiefen Wäldern. Aber nicht durch Feindeshand. Ein Dämon ergriff von Raaks besitz, der Kronprinz war besessen und richtete in seinen eigenen Reihen ein Blutbad an, das sie fast den Sieg kostete. Cohen war gezwungen gewesen, ihn zu töten.

Und Sevkin, sein geliebter Sevkin, so jung und voller Lebensfreude, war seiner eigenen Naivität zum opfergefallen. Und Cohen war nicht dort gewesen, um ihn zu schützen.

Das konnte und würde er sich nie verzeihen. Cohen sah immer wieder Sevkins totes, blaues Gesicht vor sich …

»Nein.« Cohen schüttelte den Kopf und packte die Zügel. »Ich mach da nicht mehr mit!«

Damit riss er Galia herum und ritt unter den ungläubigen Blicken seiner Männer zurück zum Lager. Sie hatten ihn absichtlich provozieren wollen, doch hätten sie nie gedacht, dass er sich gegen den Willen der Kirche stellen würde. Das sah er ihren Blicken an.

Trotz, dass Cohen den König bei allem unterstützen wollte, was dieser entschied, hatte Cohen auch seine eigenen Prinzipien. Und diese konnte er nicht einfach vergessen. Er war kein Mörder und er würde niemals einen Unbewaffneten töten. Das verbot ihm der Eid, den er und seine Männer einst dem Gott der Gnade geleistet hatten. Und nichts konnte einen gläubigen Mann mehr in Furcht versetzen als den Zorn seiner Götter.

***

Auf den eigenen Tod zu warten konnte überaus langweilig werden. Das einzige, was man tun konnte, war abzuschätzen, wie man letztlich sterben würde.

Würde es der Galgen werden? Enthauptung? Was blühte einem Dieb?

Oder kam es erst gar nicht zur Hinrichtung, weil in den Gemäuern des königlichen Kerkers eine Krankheit umging, die nicht nur dazu führte, dass sich über die Hälfte der Gefangenen alle paar Augenblicke übergeben mussten, sondern die letztlich auch sehr rasch zum Tod führte.

Eagle lehnte in seiner Zelle an der hinteren Wand, zu seiner Rechten befanden sich die massiven von Rost überzogenen Gitterstäbe der Nebenzelle.

Als er hierhergekommen war – besser gesagt, als er hier hereingeworfen worden war – hatte er noch eine Zelle für sich allein gehabt. Mittlerweile war der Kerker überfüllt und er teilte sich seinen »Freiraum« nun mit einem Dutzend weiteren Gefangener. Es handelte sich dabei größtenteils um betrunkene Penner, die ihre Ausscheidungen seit Ausbruch der Krankheit nicht mehr bei sich behalten konnten.

Selbst Schweine waren sauberer, die Tiere nutzten nur eine Ecke, und machten nicht einfach dorthin, wo sie sich gerade befanden.

Zugegeben, einige von denen, die mit Egale in der Zelle saßen, waren außer Stande, sich zu bewegen, und konnten nichts dafür. So schwach wie sie waren, würden sie nicht mehr lange durchalten. Und dann wurde es erst richtig unschön, denn die Wachen kamen nur noch selten her, aus Angst vor der Krankheit, also blieben die Toten einige tagelang hier sitzen.

Es gab kaum Essen und wenig zu trinken. Die einzigen, die regelmäßig kamen, waren die Ratten und die gepanzerten Ritter, die Eagles einzigen Gesprächspartner tagein und tagaus aus der Zelle zerrten, ihn folterten, sodass seine qualvollen Schreie durch den gesamten Kerker echoten, und ihn dann wieder zurück in die einzig leere Zelle neben Eagle warfen. Der Mann aus der Nebenzelle war der einzige, der allein blieb. Warum, erriet Eagle nicht, doch er hatte die leise Ahnung, dass die Wachen und Ritter Angst vor dem Mann hatten.

Eagle hingegen hatte keine Angst vor seinem Mitgefangenen, zumal dieser so neben sich stand, dass er nicht einmal seinen eigenen Namen kannte.

Mit einem prüfenden Blick sah Eagle in die Nebenzelle. In der hintersten Ecke saß sein Leidensgenosse, den er liebevoll »Vergessener« nannte, weil niemand ihn zu suchen schien, und verkroch sich in den Schatten. Seine Fußgelenke waren mit schweren Ketten an die Wand gekettet, er trug nur verdreckte und von Folter gezeichnete Leinenunterwäsche, genau wie Eagle. Sie saßen schon viele Monate hier drinnen, hatten den bitterkalten Winter in diesem feuchten Drecksloch gemeinsam überstanden und zugesehen, wie alle anderen starben, als gäbe es im Himmel etwas umsonst. Dementsprechend verlaust sahen Eagle und der Vergessene auch aus. Dichte Bärte – der eine rot, der andere schwarz – und mittlerweile so langes Haar, dass es ihnen über die Ohren gewachsen war.

Was würde er nicht alles für ein Bad geben!

Eines war sicher, er würde die Festung seiner Mutter nie wieder verlassen, sollte ein Wunder geschehen und er zurückkehren. Was aussichtlos erschien. Er würde nie wieder sein Zuhause oder seine Mutter sehen. Nur der Tod würde ihn wieder frei machen.

Er brauchte Ablenkung von seinen traurigen Gedanken.

»Ob deine Freunde heute kommen?«, fragte Eagle über die Geräusche der Sterbende und über das Würgen der Kranken hinweg.

Der Vergessene brummte zurück: »Du hast einen seltsamen Humor, Eagle.«

Eagle schmunzelte in sich hinein. Sie konnten ihm alles nehmen, sein Hab und sein Gut, seine Freiheit, aber nicht seinen Humor.

»Sag ihnen doch einfach, was die hören wollen«, scherzte Eagle. »Ich weiß wirklich nicht, warum du dich so zierst. Sind doch ganz nett, die Burschen.«

Der Schatten verbarg halb das Gesicht des Vergessenen, seine Augen lagen im Dunkeln, aber sein schiefes Schmunzeln war zu erkennen.

»Vielleicht geben sie dir danach einen Becher Wein aus.«

»Aber natürlich. Und dann kleiden sie mich noch schick ein und führen mich noch nett auf ein Bankett des Königs.«

»Wer weiß, kann doch sein?« Eagle zuckte mit den Schultern. »So oft wie sie dich holen, frage ich mich allmählich, was da wirklich hinter verschlossenen Türen vor sich geht.«

Noch immer lag ein Schmunzeln auf dem Gesicht des Vergessenen. Es war sehr selten, dass Eagles Freund so gut bei Laune war, dass er sich zum Lächeln bringen ließ. Für gewöhnlich starrte er nur in die Leere oder saß mit geschlossenen Augen da, ohne je echten Schlaf zu finden. Oft hörte Eagle ihn nachts mit sich selbst flüstern, halb seines Verstandes beraubt, weil er weder wusste, wer er war, noch wie er hier hatte landen können. Ohne Eagle wüsste er nicht einmal, dass er sich in Nohva befand – oder was Nohva überhaupt war – und dass der König, in dessen Kerker sie sich befanden, König Rahff Youri hieß.

Als Eagle den Namen zum ersten Mal erwähnt hatte, da hatte er so etwas wie Erkennen in den Augen seines Freundes wahrgenommen. Doch das kurze Aufblitzen war so schnell wieder erloschen, wie es aufgetaucht war. Und mittlerweile bezweifelte Eagle, dass der Vergessene je wieder sein Gedächtnis zurückerlangen würde.

Es tat ihm leid für seinen Freund. Nicht nur, weil er nie erfahren würde, wer er wirklich war, sondern auch, weil die Wachen ihm nicht glauben wollten, dass er sich an nichts erinnerte. Sie folterten ihn und verlangten Dinge zu erfahren, die den Vergessenen nur umso mehr verwirrten.

Ein Husten ließ Eagle wieder in die Nachbarzelle blicken. Es war ein trockenes, tiefsitzendes Husten. Der Vergessene musste halb umkommen vor Durst. Seit drei Tagen hatten sie keine Wasserrationen mehr bekommen.

»He«, flüsterte Eagle und drängte sich an die Gitterstäbe, er sorgte dafür, dass die anderen Gefangenen nur seinen Rücken sehen konnten. »He, komm her, Vergessener. Nimm das hier.«

Eagle zauberte einen Becher hervor, den er seit Tagen in der Ecke versteckte, die er nie verließ, damit die anderen Gauner nicht sein gut behütetes Wasser austranken. Es war nicht mehr viel, aber er teilte es stets mit seinem Freund aus der Nachbarszelle.

In dem dunklen Kerker, und nach all den von Folter beherrschten Monaten, war die Bindung zwischen den beiden Männern stärker als das Band zwischen Brüdern. Wie bei zwei Soldaten, die einen Krieg gemeinsam durch- und überlebten, war eine Verbindung zwischen ihnen entstanden, die sie nicht zum Ausdruck bringen konnten. Aber sie fühlten es beide. Eine so tiefe Freundschaft, die kein Außenstehender je verstehen könnte.

Der Vergessene streckte einen Arm nach dem Becher aus, seine markanten Gesichtszüge tauchten im hellen Licht auf, das durch ein Gitterfenster in die Zellen fiel. Es war schmutzig und fahl. Die Ketten klirrten, als er Eagle den Becher abnahm und einen winzigen Schluck nahm, weil er Eagle nicht das Wasser austrinken wollte. Dabei gehörte es ohnehin ihnen beiden. Um zu überleben, warfen sie seit Monaten alles zusammen. Wasser, Brot. Alles, was sie gereicht bekamen, horteten sie, statt es wie die anderen gleich gierig zu verspeisen. Mal passte der Vergessene darauf auf – etwa, wenn Eagle sich in eine andere Ecke verzog um sich in einen Eimer zu erleichtern – mal versteckte Eagle das Wasser und Essen in einer winzigen Kuhle in der Wand, gegen die er sich lehnte, wenn der Vergessene wieder abgeführt wurde, um gefoltert zu werden.

In diesem stinkenden, feuchten Drecksloch von einem Kerker, wo Tod und Krankheit zu Hause waren, waren sie einander die einzigen Lichtblicke. Ohne ihre Freundschaft hätte keiner von ihnen solange überlebt. Das wussten sie beide.

Als der Vergessene den Becher zurückgab, bemerkte Eagle nicht zum ersten Mal die seltsamen Narben in dessen Handinnenflächen.

»Woher die wohl stammen?«, murmelte Eagle mit einem Nicken auf die Hände des anderen Mannes. Er verstaute das Wasser wieder hinter dem Rücken. Es war nur noch ein winziger Schluck, und er konnte nur hoffen, dass die Wachen bald wieder Wasser bringen würden.

»Das wüsste ich auch gerne«, erwiderte der Vergessene, während er sich seine Hände ansah, als gehörten sie nicht zu ihm.

Es waren nicht die einzigen Naben, die Eagle aufgefallen waren. Unter dem Leinenhemd, das von den Folterungen nur noch in Fetzen auf dem muskulösen Oberkörper hing, war auch eine verbrannte Schulter und eine wulstige Narbe direkt über dem Herzen zu erkennen.

Eines war Eagle ganz deutlich bewusst, bei dem Vergessenen handelte es sich nicht um einen einfachen Bauern oder einen kleinen Dieb. Nein, Eagle war sich sicher, dass er einen Krieger vor sich hatte. Vielleicht gehörte er den Rebellen an.

Aber wie sollte ein Rebell aus Nohva an das Tagebuch des Großkönigs von Carapuhr herankommen?

Noch immer hatte Eagle das Buch, das bei der Inhaftierung des Vergessenen aus dessen Kleidern gefallen war. In der Hektik an jenem Tag, hatten die Ritter dem Mann nicht alles abgenommen. Erst hatten sie ihn aushungern lassen, bevor sie gekommen waren, um ihn bis auf die Unterwäsche auszuziehen. Bis dahin hatte Eagle das nasse Tagebuch bereits an sich genommen, gelesen und bewahrte es seitdem unter seinen Achseln auf. Er wusste nicht, ob und wie er dem Vergessenen sagen sollte, dass er etwas von ihm an sich genommen hatte. Eagle wollte seinem Freund im Augenblick nicht noch mehr verwirren. Dieses Buch würde mehr Fragen aufwerfen, als es Antworten geben konnte. Und das konnte er dem Verstand des Vergessenen nicht zumuten.

Außerdem war es ohnehin sinnlos. Es war vorbei. Für sie beide.

Als hätte er seine Gedanken gelesen, fragte der Vergessene voller Unbehagen; »Was glaubst du, warum sie uns noch nicht hingerichtet haben?«

Bevor Eagle antworten konnte, erhob ein Mann mit schwacher Stimme das Wort. »Der König verbot weitere Hinrichtungen für kurze Zeit.«

Der Mann saß Eagle gegenüber an der Zellentür, nur Lumpen um den abgemagerten Leib geschlungen, graues, kurzes Haar, das von einem kreisrunden Haarausfall zeugte, stand von seinem mit Altersflecken überzogenen Schädel ab.

Er hob den müden Blick, seine Augen waren trüb. »Der letzte seiner legitimen Erben wurde hingerichtet, und der König bat die Bevölkerung um Verständnis, das er Zeit zum Trauern beanspruchte, und in dieser Zeit erst einmal jegliche Hinrichtungen verschoben werden.« Er grinste grimmig. »Aber macht euch keine Hoffnung, diese Zeit neigt sich dem Ende zu. Wir sind alle todgeweiht.«

Der Vergessene und Eagle senkten die Blicke. Sie wussten beide nichts über die Außenwelt. Nichts über den Krieg, der seit Jahren wütete, sie hörten nur von anderen Gefangenen davon. Der Vergessene konnte sich nicht mehr erinnern, ob er im Krieg gedient hatte, und Eagle war sein Leben lang auf der Festung seiner Mutter von allen Ereignissen in Nohva abgeschnitten gewesen, bis er davongelaufen und hier gelandet war.

Eagle wartete, bis der Alte den Kopf wieder hängen ließ, dann flüsterte er so leise er konnte dem Vergessenen zu: »Unsere einzige Chance zur Flucht, ergibt sich auf dem Weg zum Galgen.«

»Und wie genau soll das aussehen, Eagle?«, fragte der Vergessene hoffnungslos.

Wenn Eagle das wüsste, würde ihn die entsetzliche Angst vor seiner Hinrichtung nicht mehr den Schlaf rauben. »Ich … weiß es nicht.«

Es stimmte, sie waren todgeweiht.

Zähmung des Feuers

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