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Kapitel 6

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Sie waren den ganzen Tag lang durchgeritten, ohne Rast. Und doch waren sie nicht sehr weit gekommen. Der östliche Fluss rauschte bereits in näherer Umgebung, wenn auch noch nicht ersichtbar, morgen würden sie ihn erreichen und an einer seichten Stelle hoffentlich überqueren können.

Wenn es nach Desiderius gegangen wäre, würden sie bis in die Dunkelheit weiter reiten und sich sputen, um den Fluss zu erreichen, aber Rahff machte sich sorgen wegen des Geländes. Der dichte Wald war tückisch und eng. Zu Pferde kam man nicht gut voran, zumindest nicht schnell. Aber immerhin angenehmer, als selbst über die Wurzeln zu steigen.

Bevor sich die Tiere noch die Beine brachen, hatte Rahff darauf bestanden, mit Vorsicht zu reiten und bei Einbruch der Dämmerung ein Lager aufzuschlagen. Er glaubte nicht daran, dass man sie verfolgte – und wenn doch, würde man sie nicht so schnell einholen. Dessen war er sich sicher.

Desiderius hätte diese naive Zuversicht gern mit ihm geteilt, doch er spürte schon Zecks Dolch an der Kehle und wäre liebend gern noch drei Tage länger durchgeritten, um viel Waldfläche zwischen sich und seine Verfolger zu bringen.

Letztlich siegte die Vernunft, denn die Schmerzen von den Schlägen forderten ihren Tribut, er fühlte sich müde und ihm war übel. Sein geschwollenes Gesicht pochte und spannte, seine Lippe platzte immer wieder auf. Zudem würde Zeck vor dem Morgengrauen ohnehin keinen Fuß mehr aus der Stadt setzen. Rahff hatte ihn ordentlich zugerichtet, so viel stand fest. Es wäre ein Wunder, wenn er weniger als drei Tage bräuchte, um das Bett wieder zu verlassen.

Immerhin konnte Zeck von nun an von sich behaupten, von einem Giganten vermöbelt worden zu sein und es überlebt zu haben.

Doch Desiderius bezweifelte, dass Zeck die gute Seite daran sehen würde können.

Er schmunzelte verschlagen bei diesem Gedanken.

Sie ließen sich in einer Senke nieder. Sie bot perfekten Sichtschutz, war umgeben von dichten Blätterwänden und eng stehenden Bäumen. Der Wald bot jenen, die vor den Augen ihrer Feinde verschwinden wollten, seitjeher angemessenen Schutz. Und sofern niemand den Hang hinunterstieg, würde man sie nicht entdecken.

Sie hatten gewagt, ein kleines Feuer zu machen, und es niederbrennen zu lassen, bis nur noch Glut vor sich hin glomm. Es genügte, um im rötlichen Dämmerschein etwas Licht zu haben. Zu Essen hatten sie nichts, aber immerhin gab es Wasser. Morgen könnten sie vielleicht jagen, und wenn das Glück ihnen hold war, würden sie vielleicht sogar etwas erlegen. Wenn nicht, war es Desiderius nicht fremd, sich von Beeren zu ernähren. Bei Rahff hatte er jedoch berechtigte Zweifel, wenn er sich an die Suppe erinnerte.

Der Gigant saß ihm gegenüber. Im Schneidersitz auf seinen Decken, sein dunkles, kinnlanges Haar hing ihm wie üblich im Gesicht, nur auf einer Seite hatte er es hinter das Ohr gestrichen. Eine Geste, die Desiderius mit Neid verfolgt hatte, da er bereits, seit sie aufgebrochen waren, den drängenden Wunsch verspürte, ihm das Haar aus dem Gesicht zu streichen. Nicht, dass er es nicht gemocht hätte, wie die dunklen Strähnen Rahff im Gesicht hingen …

Gemocht?! Was war nur in ihn gefahren? Er schüttelte den Gedanken ab.

Der kleine Puma lag auf Rahffs Arm, schlaff wie ein Faultier auf einem Ast, schlief friedlich, hegte das größte Vertrauen, das ein Tier zu einem Menschen haben konnte. Die Pranke des Giganten streichelte sanft über den sandfarbenen Pelz des kleinen Rackers. Es war ein seltsames Bild, das die beiden abgaben. Am Morgen hatte dieser Mann noch eine Schar Räuber niedergeprügelt, am Abend saß er völlig friedlich am Lagerfeuer und streichelte unglaublich zärtlich den winzigen Pelzball. Dieser riesige Gigant, der einem Mann vermutlich mit einem einzigen Hieb seiner Hand den Kopf abschlagen konnte, streichelte dieses zierliche, kleine Kätzchen mit solcher Sanftheit, dass man beim Zusehen neidisch werden konnte. Dazu dieser tiefgründige, stille Blick, der in die Leere der Glut reichte. Desiderius kam nicht umhin, ihn länger als wirklich nötig zu beobachten.

Rahff spürte, dass er angesehen wurde, und hob den Blick. Dabei bewegte er lediglich seine honigbraunen Augen, aber nicht den Kopf, sodass er von unten herauf Desiderius anschaute. Er lächelte durch seine Strähnen. Ein offenes, schiefes Lächeln, das seine weißen Zähne präsentierte. Kein Strahlen, wie Desiderius es von Adeligen kannte, die einen für sich gewinnen wollten, sondern das sanfte, ruhige Lächeln eines Mannes, der sonst sehr ernst war.

Auf diese Weise lächelte er nicht zum ersten Mal. Immer dann, wenn Desiderius ihm einen Blick zuwarf, antwortete Rahff mit dem Heben seiner Mundwinkel darauf.

Blick – Lächeln. Blick – Lächeln. Blick, Frage – Lächeln – Antwort, breiteres Lächeln. So verlief sich der Tag.

Räuspernd sah Desiderius zur Seite, tat ganz so, als hätte er nur zufällig in Rahffs Richtung geblickt. Er wusste nicht, was er von dem Giganten halten sollte. Einerseits erschien er freundlich, und zu seinen Tieren war er bemerkenswert einfühlsam, liebevoll hütete er sie, andererseits sprach seine oftmals eisenharte Miene eine andere Sprache. Von dem Feuer in seinen tiefgründigen Augen wollte Desiderius gar nicht erst anfangen. Rahff war schlichtweg nicht einzuschätzen. Nicht auf den ersten Blick. Und vielleicht war es genau diese Ungewissheit, die Desiderius derart an ihm faszinierte. Auch er wäre gerne ein solch stilles Geheimnis wie dieser Mann. Dann würden die Menschen sich vielleicht auch vor ihm besser in Acht nehmen.

Vielleicht war er dafür einfach noch zu jung, die Leute sahen nur einen Burschen in ihm, den sie ausnutzen oder gar hintergehen könnten. Ein Fehler, den auch Markesh nicht noch einmal unterlaufen würde.

Rahff und Desiderius hatten um die heißglühenden Kohlen ihre Schlafstätten aufgeschlagen. Desiderius nahm in den Decken, auf denen er saß, noch den Duft des fremden Kriegers wahr, der sie einst nutzte. Esbert oder Eskern. Irgendwie so etwas in der Art. »Die Decken eines Toten«, hatte er gemault, als Rahff sie ihm reichte, »das ist etwas … widerlich!«

»Dir steht es frei, auf dem Boden zu schlafen«, hatte dieser schulterzuckend gekontert.

Desiderius gab sich geschlagen.

Der Geruch war keiner, der ihn tatsächlich abstieß, aber etwas makaber fühlte sich dieser Umstand dennoch an. Das Aroma war noch derart gut in den Fasern der Decken wahrzunehmen, dass es beinahe unwirklich war, dass Desiderius diesen Mann erst einen Tag zuvor getötet hatte. So nah kam er seinen Opfern für gewöhnlich nicht. Es ließ den Toten lebendig wirken und führte Desiderius damit vor Augen, dass das Leben mehr als nur ein fremdes Gesicht war. Dass er eine lebendige Geschichte getilgt hatte.

Im dichten Wald um sie herum raschelten die Blätter leise im Wind, die rötliche Dämmerung verwandelte das Licht in eine warme Feuerflut, die Tiere gingen murmelnd zu Bett oder krochen zur Jagd aus ihren Unterschlüpfen. Vögel zwitscherten, eine Krähe schrie und eine Wildtaube gurrte. Irgendwo röhrte ein Hirsch, er klang zu weit entfernt, als dass man ihn finden und erlegen könnte, bevor die Nacht hereinbrach.

Schnee graste hinter Rahffs Rücken, schnaubte zufrieden, er war abgesattelt und frei. Rahff wollte ihn nicht anbinden. Fels und Erde hingegen waren an einem Seil befestigt, das sie hinter Desiderius zwischen zwei Bäumen gespannt hatten. Offenbar traute Rahff den beiden Hengsten nicht die gleiche Treue zu, die er seinem Schimmel zu Teil werden ließ.

»Wie geht es deinem Gesicht?« Die Frage wurde mit einem amüsierten Grinsen hervorgebracht.

Desiderius umfasste seinen Kiefer und bewegte ihn hin und her. Es schmerzte. »Hm. Ich werde es überleben.«

»Was hast du mit diesen Lumpen überhaupt zu schaffen?«

Daraufhin musste Desiderius erst einmal schwer seufzen. »Nun ja, sie sind … sie waren meine Familie.«

»Wie kommt es, dass ein junger Bursche wie du, in eine Gilde aufgenommen wird?«

Woher Rahff wusste, dass Markesh eine der Diebesgilden anführte, wusste Desiderius nicht, vermutlich hatte es sich der Gigant selbst zusammengereimt. Abgesehen von Straßenräubern, waren Diebe die einzigen, die sich gern zu einer Gemeinschaft zusammenschlossen. Meuchelmörder blieben unter sich – aus den naheliegenden Gründen. Mörder kannten keinen Kodex. Wenn der Preis stimmte, würden sie auch ihre Gildenmitglieder ins Gras beißen lassen.

»Sie zogen mich aus dem Moor«, erklärte Desiderius. »Und Markesh beschloss, mich zu behalten. Hat mich zum Taschendieb ausgebildet. Ich sollte jahrelang für ihn auf großen Märkten Beutel von Gürteln schneiden.«

»Sie zogen dich aus dem Moor?«, widerholte Rahff überrascht.

Desiderius nickte stumm. Da er Rahff noch immer nicht in die Augen sehen konnte, ohne in Starre zu verfallen, nahm er einen Ast zur Hand und stocherte in der Kohle herum.

»Wie das?«, hakte der Gigant nach. Diese Geschichte schien in zu interessieren. Das wunderte Desiderius, immerhin hatte ihn nie jemand nach seiner Vergangenheit gefragt. Er wusste auch nicht, ob er sie erzählen wollte. Gewisse Dinge sollten besser in Vergessenheit geraten.

»Ich steckte fest«, erzählte er Rahff aber dennoch, da es nicht wichtig erschien, wie er Markesh traf.

Das brachte Rahff beinahe zum Lachen. Desiderius erkannte es daran, dass er schwieg. Und als er aufsah, kämpfte der Gigant mehr als deutlich mit dem Gelächter, das ihm auf der Zunge lag.

»Ich war dreizehn! Kannte mich nicht in den Wäldern aus und plumpste in den Matsch«, verteidigte sich Desiderius umgehend. »Stand bis zum Arsch drin! Und das Moor wollte mich gar nicht mehr loslassen. Hat mich fester gehalten als eine Glucke ihren Bengel.«

Nun lachte Rahff doch. Leise, beinahe gackernd wie ein Huhn. Kopfschüttelnd blickte er nach unten, weshalb Desiderius sich ein leichtes Lächeln erlaubte.

»Ich saß dort einen Tag lang fest, hab aus Verzweiflung Rotz und Wasser geheult und mich mit einem Ast vor wilden Tieren verteidigen müssen. Als plötzlich Markesh und sein kleiner Bruder, angelockt von meinen Schreien, auftauchten. Ich hielt gerade einen hungrigen Wolf auf Abstand. Sie verscheuchten ihn für mich, warfen mir ein Seil zu und zogen mich raus. Ich schuldete ihnen mein Leben, weshalb Markesh mich in seine Dienste stellte, um meine Schuld zu begleichen.« Desiderius verzog gleichgültig die Mundwinkel. »Das ist auch schon die ganze Geschichte.«

»Hat deine Mutter dich nicht vermisst?«

Die Frage versetzte Desiderius einen kalten Stachel ins Herz. Mutter? Ach ja, er hatte Rahff erzählt, dass er der Sohn einer Hure war. Jedoch verschwiegen, dass er sie nie gekannt hatte. Er schüttelte einfach nur den Kopf. Ihm war nicht daran gelegen, dass Rahff ihn fragte, wo er aufgewachsen war, bevor Markesh ihn aufgenommen hatte. Dann müsste er von seinem Vater und den Jahren im Kloster anfangen … Es wäre besser, wenn Rahff nicht wusste, wessen Bastard Desiderius wirklich war. Nein, er durfte es nicht wissen. Rahff könnte daraus falsche Schlüsse ziehen.

»Und was will Krähenfratze von dir?«, bohrte Rahff weiter nach.

So viele Fragen! Weshalb interessierte er sich so sehr dafür?

Desiderius lehnte sich zurück, stützte sich lässig auf einen Ellenbogen. »Hab ihm was gestohlen.«

Da wurde Rahff hellhörig. »Was hast du gestohlen?«

»Nur das, was mir gemessen an den Jahren, die er mich zu seinem Sklaven machte, zustand«, konterte Desiderius gereizt. Soweit käme es noch, dass ein Fremder sich anschickte, ihm zu sagen, er wäre im Unrecht!

»Ich dachte, sie wären deine Familie.« Es klang ganz nach einem unschönen Vorwurf. »Haben Diebe keinen Kodex?«

»Familie kann man sich nicht immer aussuchen«, hielt Desiderius dagegen. »Ich wollte schon vor Jahren gehen, aber Markesh entließ mich nicht aus meiner Schuld. Er sagte, ein ganzes Leben könne man nicht in fünf Jahren voller Diebstähle aufwiegeln. Kann es ihm nicht verübeln, ich war sein bester Dieb. Doch … mir war nicht länger daran gelegen, die ganze Beute an ihn abzudrücken und nichts für mich behalten zu dürfen. Also mussten sich unsere Wege trennen.«

Das war nur die halbe Wahrheit. Vor seinem Inneren Augen blitzte eine Szene auf. Eine Schlafkammer in der Schenke, der Widerschein einer Kerze, der nackte, tätowierte Oberkörper.

Er schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen zu vertreiben.

Immerhin begann Rahff verständlich zu nicken. »Wer ist schon gern ein Sklave.«

»Eben.«

»Was hast du ihm nun gestohlen?«

»Schmuck. Goldene Rubinketten, die er aus dem Herzogtum der Dame Derish gestohlen hatte.«

Rahff pfiff anerkennend. »Ich habe die alte Witwe mal auf einem Bankett getroffen. Ihr Hals war schon immer zu fett für Schmuck gewesen.«

Desiderius lachte schmutzig. »Und du bist wirklich ein Adeliger?«

Rahff sah ihm in die Augen, schmunzelte belustigt. »Nicht alle Blaublüter haben einen Stock im Arsch.«

»Nein, aber ich dachte, ihr würdet untereinander eine gewisse … Loyalität hegen, wenn es sich um Diebe allgemein handelt.«

»Ist doch nur Schmuck«, winkte Rahff gleichgültig ab. »Und im Grabe wird sie ihn nicht mehr brauchen.«

»Sie ist tot?« Das überraschte Desiderius. Erst im Frühjahr hatten Zeck und er ihre Kutsche überfallen, als sie auf dem Weg von ihrer Villa in den fruchtbaren Hügeln zur Hauptstadt in die Ebenen reiste. Sie war immer ein beliebtes Ziel, schlecht bewacht und reich an Beute. Man munkelte bereits unter den Dieben, sie läge es darauf an, überfallen zu werden, in der Hoffnung, einer der Diebe würde sich an ihr vergreifen. Doch selbst der hungrigste Halunke wäre bei ihrer Leibesfülle und ihrer starken Gesichtsbehaarung lieber einem Maultier zu Willen, als die Herzogin Derish zu schänden.

Rahff nickte bestätigend. »Ihre Ländereien fielen der Kirche zu. In ihrer Villa leben jetzt Mönche. Du solltest da lieber nicht noch einmal einbrechen. Die Kirche holt sich ihre Reichtümer immer zurück.«

»Von Abteien und dergleichen halte ich mich ohnehin fern«, versicherte Desiderius nachdenklich. Er würde um das ehemalige Herzogtum einen sehr weiten Bogen schlagen, so viel stand fest. Es war gut, dass Rahff ihm davon berichtet hatte. Er sollte ihn weiter aushorchen, um in Erfahrung zu bringen, wo er zukünftig einbrechen konnte. »Außerdem hängen selbst Diebe an ihren Göttern. Markesh würde nie die Kirche berauben – ein Grund mehr, ihn zu verlassen.« Desiderius hielt nicht viel von den Göttern, sie hatten ihm immer nur Schlechtes gewollt. Er zweifelte ohnehin an ihrer Existenz.

Nebelkralle gähnte, und Rahff kraulte ihn mit einem dicken Finger hinter den kleinen, abgerundeten Ohren. Desiderius beobachtete ihn wieder mit Herzklopfen dabei. Erneut bewunderte er die plötzliche Zagheit, die der Gigant aufbrachte, um dieses kleine Wesen zu umsorgen.

»Hast du ein Weib?« Die Frage rutschte ihm unversehens heraus, als er sich Rahff gänzlich ungewollt mit einer Frau vorstellte. Ob er sie genauso liebevoll und sanft nehmen würde, wie er das Tier auf seinem Arm behandelte, oder doch wild und brutal, wie der ungezähmte Bär, der am Morgen furchtlos in die Räuber hineingerannt war. Legte er sich behutsam zu seinem Eheweib auf die Felle im Schein eines Kaminfeuers, beide nackt, und wiegte langsam seine kräftigen Hüften zwischen ihren zarten Schenkeln? Oder warf er sie auf den Bauch und nahm sie von hinten wie ein Tier, schnell und hart, als sei er wütend auf sie und wollte sie bestrafen?

Willst du nicht warten, bis er schläft, bevor du diesen Gedanken nachhängst?

Es wäre wohl klüger.

Rahff blickte auf, suchte seinen Blick. »Nein«, sagte er bedächtig, als sich ihre Augen trafen.

Es fühlte sich für einen Moment so an, als habe er mit diesem einem Wort eine Tür aufgestoßen. Weit aufgestoßen. Sodass ein Sturm frischer Luft durch eine große Öffnung in ein zuvor dunkles, stickiges Haus zog.

»Du bist etwas alt, um ohne Gattin zu sein.« Desiderius schlug die Tür schnell wieder zu.

Rahff schmunzelte über diese Frechheit. »Ich war vermählt«, gestand er dann, »zweimal.«

»Oh.« Die Tür war plötzlich verriegelt. »Was ist mit ihnen geschehen?«

»Meine erste Frau starb während der Geburt meiner Tochter, beide haben es nicht überlebt.« Er sprach derart sachlich und nüchtern darüber, dass Desiderius annahm, dass es eine arrangierte Ehe gewesen war, keine Liebe. »Die zweite Frau ließ unsere Vermählung lösen, um ein Leben im Kloster zu führen. Soweit ich weiß, starb sie vor zwei Jahren an der Pest.«

Verwundert darüber schüttelte Desiderius den Kopf. »Sie konnte eure Ehe lösen?«

»In der Nacht unserer Vermählung, als es darauf ankam … ich konnte die Ehe nicht vollziehen.« Es schien ihm nicht peinlich zu sein.

»War sie so unansehnlich?«, fragte Desiderius dreist.

Rahff schmunzelte ihm lediglich zu.

»Du hast also keine legitimen Nachkommen«, stellte Desiderius ernst fest, »und auch kein Weib. Wenn es deinem Onkel gelingt, dich tötet zu lassen, ist er demnach auch rechtmäßig der Erbe deiner Burg und Ländereien.«

Rahff nickte mit leerem Blick. Dieses Thema schlug ihm sichtlich auf das Gemüt. Wer könnte es ihm verübeln? Sein Leben schien auch nicht rosig verlaufen zu sein. Desiderius musste wenigstens seine Familienehre nicht wahren. Im Gegenteil, würde er nach Hause zurückkehren wollen, würde er sie mit seiner bloßen Existenz beschmutzen.

»Es geht nicht nur um die Burg, es geht um Gerechtigkeit«, raunte Rahff plötzlich. Noch immer starrte er auf einen Punkt in der rotglühenden Kohle. »Was wäre ich für ein Feigling, würde ich nicht mein Leben in Gefahr bringen, um einen Verräter seiner gerechten Strafe zuzuführen? Er ermordete meinen Vater!«

»Ehre.« Desiderius schnaubte. »Aber die meisten Männer sind ehrenvoll. Was bringt dir Heldenruhm, wenn du im Grabe liegst? Solltest du nicht lieber einen Meuchler suchen, der deinen Onkel im Schlaf die Kehle aufschlitzt?«

»Damit rechnet er gewiss.« Rahff sah ihn wissend von unten herauf an. »Auch wenn ich dir die Tat durchaus zutraue, vergiss nicht, dass Ehre die Größe eines Mannes bestimmt!«

Letzteres nagte sehr an Desiderius, weshalb er diese philosophischen Gedanken über Ehre und Männer beiseiteschob. »Er wird auch damit rechnen, dass du den König um seine Hilfe bittest.«

Schwer seufzend verlagerte Rahff sein Gewicht von der einen strammen Gesäßbacke auf die andere und drückte das breite Kreuz durch. »Ich weiß. Aber mir fällt nichts besseres ein! Ich sollte Verbündete aufsuchen, Herzöge an ihre Eide erinnern und eine Armee aufstellen. Aber mir läuft die Zeit davon!«

Das Drängen in Rahffs Stimme, und die Verzweiflung in seinem Blick, ließen Desiderius die Augen verengen. »Was meinst du damit?«

Rahff fuhr sich durch sein kinnlanges Haar, die Strähnen fielen sofort wieder zurück. »Mein Onkel stahl nicht meinem Vater, sondern viel mehr mir die Burg, Desi.«

Desiderius blinzelte überrascht. Nicht wegen der Worte, sondern wegen des seltsamen Spitznamens, der ihm gegeben wurde. »Nenn mich nicht so!« Es fühlte sich ungewohnt an.

»Mein Vater«, sprach Rahff unbeirrt weiter, schüttelte bedauernd den Kopf, »war schon seit Jahren nicht mehr in der Lage, seine Ländereien zu verwalten. Er war nur noch des Titels wegen Lord, ich traf alle wichtigen Entscheidungen. Unserm Volk ging es gut, während ich herrschte!«

»Ich verstehe nicht. War dein Vater krank?«

»Er war verflucht.« Rahff hob den Blick, als hätte er ein gut gehütetes Geheimnis offenbart. »Alle meine Vorväter waren mit einem Fluch belegt, der ihre guten Seiten nach innen und ihre schlechten nach außen kehrte. So wurden aus guten Männern, herrschsüchtige Tyrannen, die ihre Wut nicht mehr beherrschen konnten! Aus Hoffnung wird Mutlosigkeit. Aus Liebe wird Hass…«

Desiderius schmunzelte belustigt. »Natürlich. Verflucht. Hm. Was sonst.«

»Warum machst du das?«, fragte Rahff ärgerlich. »Alles ins Lächerliche ziehen?«

»Flüche gibt es nicht.« Lachend breitete Desiderius die Arme aus. »Das ist Humbug!«

»Oh doch, es gibt sie!« Rahff klang sehr ernst, ihn konnte nichts von seiner Überzeugung abbringen. Armer Narr! »Glaub mir. Es ist leicht, über etwas zu lachen, das man nicht kennt, aber ich habe es gesehen!«

Er wäre ein guter Geschichtenerzähler, so dramatisch wie er die Stimme senkte.

»Was gesehen?«, fragte Desiderius gelangweilt.

Rahff gab vollkommen ernsthaft zurück: »Die Augen eines Verfluchten. Die Finsternis.«

Desiderius schüttelte von großem Bedauern ergriffen über diesem abergläubigen Narren den Kopf. »Und warum sollte jemand deine Familie verfluchen?«

Rahff senkte traurig den Blick. »Hexenfluch«, hauchte er geradezu beschämt, seine breite Brust erzitterte unter einem tiefen Atemzug. Desiderius konnte die Augen nicht mehr von der Fläche abwenden. Wie es wohl unter dem Harnisch aussehen mochte? Er stellte sich unwillkürlich die schönste Berglandschaft vor, die er je gesehen hatte, mit zwei mächtigen Zwillingsbergen auf denen zwei rosige Knospen schimmerten.

»Es war eine Hexe«, es klang nach einem Schuldeingeständnis. Desiderius runzelte neugierig die Stirn. »Sie wurde als junges Mädchen meinem Vorfahren als Gemahlin übergeben, aus dem Volk der Waldmenschen, niemand wusste von ihren Kräften. Leider war sie nicht in der Lage, meinem Vorfahren Nachkommen zu schenken, jedes Kind kam tot zur Welt. So ließ er die Ehe auflösen und nahm sich eine neue Frau. Die Hexe fühlte sich verschmäht und tötete ihre Rivalin am Tage der Vermählung mit einem Blitz aus ihrer Hand. Daraufhin verurteilte die Kirche sie zum Tode. Auf dem Scheiterhaufen brüllte sie dann den Fluch, auf dass sich alle Liebenden von dem Lord abwanden und er die Einsamkeit spürte, die auch sie verspürte, als er sie verstoßen hatte. Jeder Erstgeborene ist davon betroffen. Sobald der Vater stirbt, geht der Fluch auf den Sohn über. Nur wer wirklich reinen Herzens ist, kann den Fluch besiegen, oder ein Gott müsste das Herz des Verfluchten berühren, um ihn zu heilen. So heißt es.« Er machte eine kurze, bedeutende Pause, ehe er Desiderius begreiflich machte: »Deshalb bleibt mir nicht viel Zeit, wer weiß, wie lange ich noch ich selbst bin? Bis dorthin muss ich die Burg zurückerobert haben! Wer weiß, ob ich es noch kann, wenn der Fluch zuschlägt? Mein Vater wollte jeden seiner Diener in heißem Öl braten. Er sagte, ihre Schreie würden seinen Ohren deutlich mehr schmeicheln als ihr lauter Atem! Er hasste Menschen, dachte nur an Mord und Folter. So … war er früher nicht gewesen. Hätte ich nicht gewusst, dass der Fluch dafür verantwortlich war, hätte ich ihn gehasst.« Rahffs Blick wurde wieder leer. Oder war es gar keine Leere, die in seinen Augen Einzug erhielt, sondern Trauer, die er zu verstecken versuchte? »Ich weiß nicht, ob mir die Burg – ob mir überhaupt noch etwas wichtig ist, wenn der Fluch mich erfasst. Verstehst du? Wer würde meinen Onkel dann noch zur Rechenschaft ziehen?«

Desiderius atmete leise aus. Das war ja alles schön und gut, klang aber trotzdem sehr stark nach einem Ammenmärchen. Die Südländer brauchten ihre magischen Geschichten, allerdings war Desiderius kein dummer Mensch. Er war ein Luzianer! Und sein Volk glaubte an das greifbare, wahrhaftige Böse, das im Wesen entsprang, und nicht durch einen Fluch verursacht wurde. Jeder war fähig, grausame Taten zu vollbringen, dazu war keine Magie von Nöten.

»Hexen mögen über viele magische Fähigkeiten verfügen, aber nicht über Flüche«, versicherte Desiderius dem abergläubischen Menschen. »Die größte Gefahr besteht in ihren Tränken, wenn sie dafür Kinderzungen abschneiden wollen, um einen Liebhaber gefügig zu machen. Aber sie können keine ganze Blutlinie verdammen.«

»Ich weiß, was ich gesehen habe!« Rahff ließ geknickt die Schultern hängen. Er konnte einem leidtun, wie er da so saß und sich unverstanden, gar lächerlich gemacht fühlte.

»Rahff«, sagte Desiderius, und ihm fiel deutlich auf, dass er den Namen zum ersten Mal aussprach – er mochte den Klang, ganz gleich was er behauptete, er schmeckte dieser einen, wilden Silbe genüsslich nach. »Rahff«, wiederholte er erneut, dieses Mal etwas einfühlsamer, sodass der Gigant ihn neugierig ansah. »Es gibt keine Flüche.«

Rahff wirkte unglücklich, als er das Thema mit den Worten schloss: »Wir werden sehen.«

Herz des Südens

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