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Kapitel 10

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»Bist du nervös?« Desiderius schloss die Riemen an Fels` Sattel und blickte dabei rüber zu Rahff, der zwischen zwei Obstbäumen Schnee sattelte. »Du wirkst nervös.«

Das war eine Lüge, Rahff war die Ruhe selbst, jedoch schwieg er seit dem gestrigen Abend und den ganzen Morgen hindurch, weshalb Desiderius annahm, dieses Schweigen ließe auf Nervosität schließen.

Auf Desiderius` Frage hin, schüttelte er jedoch lediglich den Kopf.

Wie abgesprochen hatte Desiderius die Stadt zuvor erkundet. Tatsächlich waren die Straßen von Dargard zu dieser Jahreszeit überfüllt. Menschenmassen strömten auf die vielen Märkte innerhalb der Mauern. Desiderius war von der reichen Kultur beinahe erschlagen worden. Angefangen bei den vielen unterschiedlichen Völkern, großen Gebirgsmenschen, schmächtigen Waldmenschen, schönen Menschen aus den Ebenen, vermummten Luzianern, die die Sonne scheuten, dunkelhäutigen Westländer mit mandelförmigen Augen und ernsten Gesichtern. Aber darüber hinaus ebenso die Häuser und verschiedene Stadtviertel, jedes beschrieb eine andere Herkunft, ein anderes Leben, andere Werte und Ideale. Hier wurde aus jedem Winkel des Landes Waren angeboten, von Reis über Mais bis hin zu exotischen Früchten. Jedoch auch Schmuck, aus robusten Fasern oder poliertem Silber. Goldschmuck war hier weniger gern gesehen, so nahe an der Kirche, immerhin war dieses kostbare Material allein den Göttern vorbehalten. Trotzdem gab es hier und dort Ringe, Armbänder und Ketten, die ihren Besitzer wechselten. Für die Sterblichen besaß das tragen oder besitzen von Gold etwas Erhabenes, das ihnen die Götter näherbrachte. Oder sie sich wie Götter fühlen ließ. Je nach dem, welche Absichten in ihren Herzen wohnten.

Die Stadt war schön, an einem großen See gelegen, der ihren Namen trug. Ihre Mauern waren hoch und ihre Tore massiv. Die Wachen innerhalb waren fein rausgeputzt, ihre Eisenplatten poliert, ihre Schwerter blitzten wie neu. Sie trugen ein freundliches Lächeln auf den Lippen, aber Strenge in den Augen.

Desiderius hatte das Westtor durchschritten, direkt am See. Dort gab es viele Stege und Fischerboote dümpelten auf der spiegelglatten Oberfläche des Wassers. Die Wachen durchsuchten ihn, doch seinen Dolch durfte er behalten, sofern er ihn dort trug, wo man ihn sehen konnte.

Er hatte sich unter die Menge gemischt, die ihn eine breite, gepflasterte Hauptstraße aufwärts trieb, bis er auf dem großen Markplatz direkt vor dem riesigen Kirchenschiff stand. Die Glocken des Turms läuteten zum Mittag, sodass er sich die Ohren zu hielt.

Es hatte nach warmen Wein, nach Wildschweinbraten mit Honigkruste, nach Obstkuchen und feinen Duftwässerchen gerochen.

Die Händler waren freundlich, die Käufer hektisch. Viele Frauen liefen von Stand zu Stand. Hochgeborene, deren Haare hochgesteckt waren, und deren schlanke Gestalten in seidenen, hellen Gewändern steckten. Kinder liefen umher, denen Ammen in weniger schicken Wollkleidern nachjagten. Gestriegelte Edelmänner gab es wenige zu sehen, die meisten überquerten lediglich den Platz und fanden sich in den Schenken am Markt ein.

All diese Eindrücke hatten Desiderius beinahe blind und taub werden lassen, jedoch gewöhnte er sich recht schnell daran und genoss es schließlich, als ein Gesicht von vielen in der Menge untergehen zu können. Genau wie damals als er noch ein Kind gewesen war, wurde er kaum beachtet. Wobei Damals gerade mal fünf Jahre her war. Er war ein Fremder, gewiss, vielleicht ein Söldner, aber niemand hielt ihn für eine Gefahr. In Dargard herrschte ein friedliches Miteinander, anders als in der Schwarzen Stadt, wo man jederzeit mit einem Dolch zwischen den Rippen rechnen konnte.

Ein paar Diebe gab es auch, ungeschickte Kinder, die ihm den Beutel abschneiden wollten. Er packte den kleinen Drecksack, der es versuchte, schubste ihn mit dem Gesicht gegen eine Hauswand in einer dunklen Gasse zwischen dem Schneider und dem Apotheker und raunte ihm ins Ohr: »Versuch das ja nie wieder, du Amateur, oder ich stehle mir etwas von dir, das dir wesentlich mehr bedeutet als mir mein Silber.« Um es zu verdeutlichen, drückte er seine Lenden gegen die warmen Gesäßbacken des Jüngeren.

Das verstand der Kleine nur zu gut, er verspannte sich merklich. Desiderius ließ ihn los, mit großen kristallblauen Augen drehte der Junge sich zu ihm um, blinzelte unter seinem dunkelbraunen Haarschopf. Er stammelte wortlos, dann rannte er davon.

Hoffentlich war ihm das eine Lehre.

Nach dieser Begegnung hatte Desiderius sich die Stadt angesehen, vor allem die Mauern. Die Zinnen waren stark bewacht, außerdem war die Mauer wahrlich zu hoch, um sie zu erklimmen, und er wagte zu bezweifeln, dass es im Palastviertel geeignetere Mauern zum Übersteigen gab.

Er schlich sich zu den Abwassergittern, begutachtete ihre Schlösser. Manche von ihnen besaßen gar keine Türen, nur jene, die bei einer Besetzung der Stadt einen Fluchtweg bieten konnten.

Nichts von den Wegen, die Rahff nehmen konnte, schien der idealste, also musste er auf sein Bauchgefühl hören. Zum Palast kam er nicht, der Weg dorthin war zu gut bewacht, und er fürchtete sich davor, erkannt zu werden, wenn sie ihn fassen sollten. Sein Vater wäre außer sich, wenn er davon erfuhr!

Oder vielleicht auch nicht, gäbe es ihm doch eine Gelegenheit, sich endgültig von seinem Bastard zu lösen.

Schließlich ging Desiderius zurück zu Rahff und berichtete ihm am Lagerfeuer von seinen Erkenntnissen. Gemeinsam hatten sie einen Plan ausgetüftelt, der so offensichtlich und einfach schien, dass er Erfolg erzielen sollte. Wie Rahff jedoch zum Palast vordringen wollte, ohne von einem Scharfschützen kalt gemacht zu werden, stand auf einem anderen Blatt.

»Bring mich so weit hinein wie du kannst«, hatte Rahff mit entschlossener Stimme erwidert, »den Rest überlasse mir.«

Nun war der Moment des Aufbruchs gekommen. Rahff hob Nebelkralle aus dem hohen Gras und setzte ihn in den Sack, der an Schnees Sattel befestigt war. Die kleine Raubkatze grummelte unzufrieden, fand sich aber mit ihrem Schicksal ab. Mittlerweile hatte er ordentlich zugelegt und an Masse gewonnen. Tierkinder wuchsen schneller als Menschen, bald würde der Sack nicht mehr genügen.

Von ihrem Standpunkt aus konnten sie aus einem lichten Wäldchen über grüne Ebenen zum Stadttor blicken, ohne bemerkt zu werden. Desiderius sah nachdenklich hinüber zu der Menschenschlange, die in die Stadt drängte.

»Ich lasse Schnee hier.« Rahff trat neben ihn und Fels, Desiderius sah ihn an. »Wenn du also …« Er brach ab, lächelte schüchtern und rieb sich dabei den Nacken. Nun wirkte er wirklich nervös. Seufzend setzte er erneut an, versuchte es mit anderen, unverfänglicheren Worten: »Ich komme hier her zurück, wenn ich alles erledigt habe.«

Das unausgesprochene: »Ich hoffe, du bist dann auch hier«, stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Dazu sagte Desiderius nichts, spürte noch zu sehr die Enttäuschung, die Verwirrung, die Rahff nicht lösen konnte. Er hatte sich auch keine Mühe gegeben, außer in jener einen Nacht, als er sich zu ihm gelegt hatte. Doch eine leise Stimme in Desiderius` Kopf machte diese liebliche Erinnerung zunichte. Denn er glaubte, Rahff habe das nur getan, damit Desiderius ihm die Hilfe nicht verweigerte.

Er wusste nicht, was er tun sollte, wohin er gehen sollte. Aber in einem war er sich sicher: Er wollte und konnte sich nicht auf einen anderen Mann verlassen. In keiner Weise. Sei seine Sehnsucht nach dessen Berührung noch so groß.

»Lass uns gehen«, sagte er zu Rahff und führte ihn zur Stadt.

*~*~*~*

»Lasst mich durch! Er ist verletzt! Bitte, lasst mich durch!«

Rahff hatte den Arm um Desiderius` Nacken geschlungen und versuchte dabei, möglichst schlaff zu wirken. Sein Wollumhang verdeckte sein Gesicht, das Schild und die Axt hatte er wohlweißlich bei Schnee zurückgelassen, nur das Langschwert versteckte er unter dem schwarzen Umhang, da es ihn als den verraten könnte, der er war.

»Bitte, lasst mich durch!« Desiderius` Sorge klang aufrichtig, er wäre ein guter Schausteller geworden.

Rahff bekam nicht mit, was um ihn herum geschah, ganz in seiner Rolle als Halbtoter, ließ er sich mehr schlecht als recht von Desiderius über die braune Straße zum Stadttor zerren, seine Stiefel hinterließen Schleifspuren auf dem von der Sommersonne staubigen Grund. Sein Kopf hing herab, er sah Stiefelspitzen und nackte Zehen in Sandalen, die aus dem Weg sprangen.

»Halt!« Der herrische Tonfall einer Torwache. »Was geht hier vor sich?«

»Ich brauche umgehend einen Heiler!« Desiderius korrigierte mit einem Ruck Rahffs schlaffen Körper, damit er ihm nicht entglitt. Rahff spannte sich unmerklich etwas an, damit der Vagabund unter seinem Gewicht nicht einbrach. Doch er unterschätzte Desiderius` Stärke, er hielt ihn nämlich beinahe mühelos.

Rahff musste sich einen Narren schimpfen, weil er ausgerechnet in diesem Moment die Hitze in seinen Lenden spürte, die die Nähe zu Desiderius verursachte. Dass er dessen angespannte Muskulatur deutlich an seiner Seite spüren konnte, machte es nicht besser. Unversehens erinnerte er sich an den herben Geschmack seiner Haut, an das Geräusch, das er machte, wenn er leise einatmete, sobald Rahffs Lippen seinen Nacken berührten.

Und genau deshalb hätte er sich von ihm ferner halten sollen, weil er gewusst hatte, dass er nur noch daran denken konnte, ihn zu berühren. Rahff konnte sich noch nie gut beherrschen, vor allem nicht seine Gedanken. Er war schließlich froh, dass er nicht bei Desiderius gelegen hatte, dass es nicht zu mehr gekommen war, sonst würde er alles andere als schlaff auf ihm hängen können.

Er musste sich konzentrieren und eine Rolle spielen, doch seinem Herz war all das gleich, es sehnte sich nur danach, dass seine Hand einen Weg unter Desiderius` Harnisch fand. Oder in seine Hose.

Reiß dich mal zusammen!

»Bitte«, flehte Desiderius, »er braucht umgehend einen Heiler. Lasst uns durch!«

»Ihr könnt euch nicht einfach vordrängeln!«, wandte eine andere, jüngere Stimme ein. Ebenfalls ein Torwächter, der nun hinzukam.

»Er stirbt!«, fauchte Desiderius in Manier eines sorgenvollen Verwandten. »Bitte, er ist mein Bruder. Wir wurden auf der Straße überfallen.« Er deutete hinter sich, mitten ins Nirgendwo, Rahff konnte die Bewegung spüren. »Sie haben den Karren abgebrannt, unser Silber genommen und die Pferde gestohlen. Ich bitte Euch, ich habe ihn hier hergeschleppt, den ganzen Weg. Lasst mich ihn zum Heiler bringen, bevor er stirbt. Er ist alles was mir bleibt.«

Rahff zuckte innerlich zusammen. Desiderius sprach derart verzweifelt, dass er beinahe vergessen hätte, dass die Worte nur ein Schauspiel waren. Enttäuschung senkte sich auf sein Herz. Es wäre schön gewesen, hätte sich jemand tatsächlich um ihn gesorgt. Aber abgesehen davon, dass mancher Bauer aus dem Gebirge ihn für einen recht respektablen Lord hielt, gab es in Rahffs Leben niemanden, der sich je wirklich etwas aus ihm gemacht hätte. Niemand, der ihn derart mochte oder gar liebte, dass er in Tränen ausbrechen würde, sollte er sterben.

Nun, vielleicht Ehvon. Aber Ehvon … das war eine andere, sehr alte Geschichte, die ihren Zweck schon lange überdauert hatte.

Eine kurze Pause entstand, hinter ihnen wurde gemurmelt. »Bei den Göttern, wie schrecklich!« und »In was für Zeiten leben wir nur …«. Ein Herr bemerkte: »Wir kamen ebenfalls von der Königstraße, es hätte auch uns erwischen können!«

»Ich muss Euch durchsuchen«, wandte der Wächter ein und trat näher.

Rahff spannte sich an. Wenn sie durchsucht wurden, würde er die Kapuze abziehen müssen, dann könnten alle Umstehenden sein Gesicht sehen und ihn erkennen. Darauf warteten Attentäter nur, die überall lauern könnten. Deshalb spielten sie diese Phrase doch überhaupt, damit Rahff sein Gesicht nicht lüften musste.

»Bei den Göttern, was soll er schon anrichten, lasst den armen Mann durch!«, rief jemand aus der hinteren Menge. »Bevor ihr ihn auf einem Karren wegschaffen müsst.«

Manchmal waren Menschen, oder besser gesagt Zuschauer, tatsächlich zu etwas gut.

Die Schlange hinter ihnen hob zum Protest an, sie unterstützten Desiderius. Zugern hätte Rahff in diesem Moment die hilflosen Gesichter der Torwächter gesehen.

»Lasst den Burschen endlich durch, ich habe es eilig!«, sprang ihnen nun ein Kaufmann bei. Zumindest nahm Rahff an, es sei einer. Aufgrund des großen Marktes, der geöffnet hatte, und der lauten, imposanten Stimme, die vor Selbstvertrauen triefte.

»Also gut, geht durch. Es gibt einen Heiler direkt die Straße hinunter, ihr erkennt sein Haus an dem Apothekersymbol auf dem Schild.« Die Wache winkte sie durch, immerhin blieb ihr keine Wahl, wenn sie keinen Aufstand riskieren wollte.

Eine zwiespältige Tätigkeit, die diese Männer tagtäglich verrichteten. Einerseits sollen sie die Sicherheit der Stadt gewährleisten, andererseits die Ruhe wahren. Beides war manchmal schwierig. Und bevor eine wütende Menge ihn steinigte, ließ der Wächter lieber die beiden augenscheinlich friedlichen Besucher herein.

Desiderius schleppte Rahff tatsächlich bis zu dem Heiler, falls ihnen jemand nachblickte oder gar folgte. Sie stolperten neben der gemauerten Wand des Gebäudes in eine Sackgasse. Dort auf dem schmutzigen Boden sammelten sich Essens- und schmutzige Verbandsreste, sowie allerlei anderer undefinierbarer Müll, den die Bewohner aus der Hintertür warfen.

Rahff nahm wirklich ungern den Arm von Desiderius` Schultern, doch als dieser seine Hand von Rahffs Hüfte nahm, wusste er, dass es Zeit war, loszulassen. Mehr als in einem Wortsinn.

Desiderius spähte aus der Gasse auf die Hauptstraße, niemand nahm Notiz von ihnen, außer die Ratten, die Rahff mit dem Stiefel verscheuchte, als er dem Vagabunden folgte.

»Ist uns jemand gefolgt?« Er stand dicht an Desiderius` Rücken gedrängt und sprach leise in dessen Ohr. Er hätte schwören können, den Vagabund wohlig erzittern zu sehen. Er lächelte gewitzt.

»Glaube nicht.« Desiderius´ Stimme klang angespannt, kratzig vor Nervosität. »Warten wir einen Moment, bevor wir weiter gehen.«

Damit niemand aus der Schlange vor dem Tor sie erkennen konnte, mussten sie etwas länger warten, ehe sie sich unbemerkt wieder hervorwagen konnten. Rahff lehnte sich gegenüber von Desiderius an die Hauswand, sie schwiegen.

Die größte Gefahr hatte an den Toren gelauert. Meuchler würden dort besonders gute Ohren und Augen haben, immerhin musste jeder, der in die Stadt wollte, erst einmal durch eines der drei Tore gelangen. Trotzdem wollte Rahff keine unnötige weitere Gefahr eingehen und behielt die Kapuze auf.

Er sah Desiderius an, der seinen Blick spürte und ebenfalls die Augen hob. Noch immer faszinierte Rahff diese exotische Schönheit, mit dem kahlrasierten Haar unter dem schwarzen, kurzen Zopf, den jadegrünen Augen und der spitzen Fänge, die bei jedem Lächeln gefährlich aufblitzten.

Sein Magen zog sich zusammen, krampfte, weil er den Burschen so sehr begehrte. Noch nie hatte er eine solche Lust verspürt.

Aber ihre Wege würden sich heute trennen. Und nach den schweigsamen letzten Tagen hegte er wenig Hoffnung, dass Desiderius ihn weiterhin begleiten wollte. Er konnte es ihm nicht verübeln, erst reizte er ihn, dann wies er ihn ab.

Aber Nicht jetzt, bedeutete nicht Niemals.

Für Desiderius machte dies keinen Unterschied. An dem Morgen nach der Nacht, als Rahff an ihn gekuschelt geschlafen hatte, hatte er mit kalter Stimme gesagt: »Ich laufe niemanden nach, Lord Silberlöwe.«

Der Vagabund war sehr stolz, das bemerkte Rahff nicht zum ersten Mal. Er lächelte. Es war erfrischend, jemanden zu begegnen, der die eigenen Charakterzüge noch weit übertraf.

»Wirst du da sein?« Er konnte sich die Frage in der stillen Gasse nicht verkneifen.

Desiderius wandte den Blick auf die Hauptstraße, die sich gelichtet hatte. Er war manchmal derart unnahbar, dass Rahff ihn gern geschüttelt hätte. »Ich würde nicht mit mir rechnen«, antwortete er abweisend.

»Es wäre schön, wenn du da wärst.« Rahff lächelte gewinnend. »Ich würde dich vermissen.«

Desiderius sah ihn nicht an. »Wir können weiter gehen, es ist genug Zeit vergangen.«

Sie überquerten die gepflasterte Hauptstraße. Ein Edelmann samt Gefolge ritt sie fast um, doch der Herr war sich keiner Schuld bewusst.

»Komm, weiter.« Desiderius musste Rahff mit sich ziehen, da er diesem hochnäsigen Wicht gern vom Rücken seines Falben gestoßen hätte. Und dann ritt er auch noch auf einem Wüstenpferd!

Rahff schüttelte über die dünnen Beinchen des Tieres den Kopf. Er dachte an die kräftige Muskulatur seines Schimmels und wäre vor Stolz beinahe geplatzt.

»Die Palaststraße ist nicht weit.« Desiderius führte sie durch Nebengassen an den Rückwänden der Gebäude vorbei. Dort standen viele Zelte aus Stroh und Geäst, unter denen Bettler schliefen.

Rahff war nicht unbedingt für sein Mitgefühl bekannt, schließlich war jeder Mensch selbst für sein Schicksal verantwortlich. Doch als er die Zustände in diesem dunklen Viertel nahe der Mauer erblickte, wurde ihm doch das Herz schwer. Diese Leute hatten nichts, wirklich gar nichts, nur die dreckige Kleidung, die sie am Leibe trugen. Ihre Mägen knurrten so laut, dass sie sich wie bösartige Hunde anhörten.

Wie nahe war Rahff daran, hier zu landen und zusätzlich zur Armut auch seines Verstandes beraubt.

Er trieb Desiderius an, schneller zu gehen, während er das Gefühl hatte, dass ihm die Zeit aus den Fingern rann wie trockener Sand, den man mit geöffneten Händen scheffeln wollte.

Die Stadt war groß, es stellte sich beinahe als Kinderspiel heraus, in ihr unterzugehen. Vor allem wenn man einen geübten Dieb bei sich hatte, der scheinbar aus dem Ärmel allerlei Schleichwege zauberte. Desiderius wusste genau, worauf er achten musste, sein Gespür für abgeschiedene Gassen war bemerkenswert. Rahff wäre allein überfordert gewesen, er kannte nur einen Weg – und der war immer der direkte.

Sie liefen Stunden durch die Stadt, bis die Sonne wieder tiefer sank.

»Es gibt eine weitere Mauer und ein Tor«, berichtete Desiderius ihm, »die die Palastgärten von der Stadt trennen.« Er blieb vor dem Hinterhof einer Schmiede stehen, das helle Hämmern des Handwerkers übertönte das Stimmengewirr, das vom Markt in jede Ritze der Stadt drängte. »Die Palastgärten sollen groß sein, fast so groß wie ein Herzogtum. Die Königswachen patrouillieren in jeder Ecke.«

Rahff nickte. »Stehen Königswachen am Tor der Palaststraße?«

»Ja! Natürlich!«, erwiderte Desiderius, als hielte er Rahff allein deshalb für dämlich, weil er diese Frage überhaupt gestellt hatte. »Denkst du, man könnte ohne weiteres zum Palast spazieren?«

»Bring mich einfach zu dem Tor, Desi!« Rahff knirschte mit den Zähnen. Je näher sie dem Palast kamen, desto nervöser wurde er.

»Ich gehe aber nicht mit rein.« Desiderius drehte sich entschlossen um, schwang sich behände über den niedrigen Zaun und durchquerte den Hinterhof der Schmiede.

Rahff folgte ihm schweigend, während der Schmied ihnen Flüche nachrief.

Sie traten auf die Hauptstraße, der Markt erstreckte sich vor ihnen. Dank Rahffs Größe konnte er die Menge überblicken. Die schwerlich zu übersehene Kirche am Rande des Platzes war imposanter als jede Burg. Weiße Außenwände, rote Ziegeln und Buntglasfenster, die in der Sonne funkelten. Sie warf einen breiten Schatten auf die Menschen, die sich auf ihrem großen Markplatz tummelten. Die Menge war so dicht gedrängt, dass sie wie ein Teppich wirkte, der sich vor der Kirche auf dem Boden ausbreitete.

Desiderius stieß Rahff einen Ellenbogen in die Rippen. »Mach dich gefälligst etwas kleiner!«

Zwar war Rahff bei weitem nicht der einzige Südländer unter all den Menschen, dennoch war Vorsicht geraten, da er auch diese an Größe trumpfte. Immerhin war seine Familie die letzten Giganten. Wobei er damit der wirklich letzte Gigant wäre, da Zareth die falschen Gene abgekommen und ein ziemlicher Kümmerling war.

Er krümmte sich, bis er einen Buckel hatte, und erntete ein belustigtes Schmunzeln seitens des Vagabunden. Mit verengten Augen warf er einen Blick auf Desiderius.

»Komm, weiter.«

Sie verschmolzen mit der Menge. Das Gedränge und Geschubse ging Rahff mächtig auf den Geist, er murrte, bis er Desiderius` Brust an seinem Rücken spürte, und seinen heißen Atem im Nacken. Mit einem Mal konnte es nicht eng genug sein.

»Dort vorne«, raunte der Dieb. Rahff folgte seinem Nicken.

Wie erwähnt erstreckte sich eine weitere Mauer innerhalb der Stadt. Alle paar Fuß gab es bemannte Wachtürme. Ein Tor war in sie eingelassen, zwei Wächter standen in weiß-goldenen Rüstungen links und rechts an den geöffneten Torflügeln.

»Wie willst du hineingelangen?«, fragte Desiderius.

»Ganz einfach«, erwiderte Rahff, »ich sage ihnen, wer ich bin.«

»Was?«, bellte Desiderius schockiert.

Einige Leute drehten sich nach ihnen um, der Vagabund schwieg beschämt, bis sie weiter gingen.

Schließlich wandte er sich mit leiserer Stimme wieder an Rahff: »Ich dachte, dich darf niemand erkennen.«

»Ich wage zu bezweifeln, dass sich Meuchler in die Wachen des Königs einschleusen«, warf Rahff ein. »Der König erwartet mich, ich habe ihm geschrieben und er schickte mir einen Boten. Die Schwierigkeit bestand darin, durch die Stadt zu kommen. Ab hier sollte ich in Sicherheit sein.«

»Sollte«, wiederholte Desiderius mit schmalen Lippen.

Rahff drehte den Kopf über die Schulter und grinste den Vagabunden schelmisch an: »Du machst dir doch nicht etwa Sorgen um mich?«

Desiderius schnaubte, er wich seinem Blick aus. »Würde mir nie in den Sinn kommen.«

Darüber lächelte Rahff müde.

Zu gerne hätte er sich zum Abschied vorgebeugt und Desiderius` Wange geküsst, und sei es nur, um dessen Augen leuchten zu sehen. Doch sie standen auf einem überfüllten Marktplatz, in einem Land, in denen ihre Religion derlei Berührungen zwischen Männer als Todsünde erachtete.

Man würde sie noch an Ort und Stelle Hängen.

Also musste es genügen, dass er verborgen zwischen ihren Körpern Desiderius´ Hand suchte und sie für einen flüchtigen Moment sanft umfasste. Sein Daumen malte kreise auf den Handrücken.

Desiderius sah ihn mit unbewegter Miene an, ließ kein noch so winziges Gefühl erkennen. Schließlich zog er die Finger aus Rahffs Griff und machte einen Schritt rückwärts.

»Viel Glück«, wünschten seine Lippen, doch seine Stimme wurde von dem Rauschen in Rahffs Ohr übertönt.

Gleichzeitig drehten sie sich um und gingen in verschiedene Richtungen. Rahff blickte noch einmal über die Schulter, doch Desiderius` schlanke Gestalt wurde bereits von der dichten Menge verschluckt.

Er trat vom Markplatz, ging durch angelegte Blumengärten und steinernen Bänke, auf denen sich junge Pärchen tummelten – verborgen vor den Blicken ihrer Eltern und ihren wahren zukünftigen Ehepartnern – und trat zum Tor.

Die Wächter beäugten ihn argwöhnisch, als er ihnen sein Anliegen vortrug.

»Oh, ja natürlich«, spotteten sie, »er will zum König. Der König wartet auf ihn.«

»Wie originell«, witzelte der andere, mit der Hand auf dem silbernen Schwertknauf, »das haben wir ja noch nie zu hören bekommen.«

»Wenn ihr wollt, amüsiert euch nur weiter«, erwiderte Rahff ruhig, »doch ob der König es gutheißen wird, wenn ihr seine Verbündeten warten lasst, würde ich an eurer Stelle anzweifeln. Er erwartet mich!«

»Schon gut, schon gut«, der rechte Wächter schickte den anderen zum Palast, »Ihr müsst ja nicht gleich knurren.«

Der schnelle Sinneswandel des Torwächters verdankte Rahff mal wieder seiner Größe und seiner Statur. Es war ihm nicht fremd, dass er Menschen imponierte, er nahm es als selbstverständlich hin. Er blickte sich um, während er wartete, und ertappte sich dabei, wie er erneut nach Desiderius Ausschau hielt. Doch der schwarze Zopf war nirgends zu entdecken.

Vermutlich war er schon über alle Berge, wie angekündigt. Rahff konnte nicht verhindern, dass ihn das ärgerte. Er hatte sich mehr Loyalität von dem Burschen erhofft. Er fühlte sich im Stich gelassen – schon wieder.

Hätte Rahff ihm gegeben, was er sich in dieser Höhle gewünscht hatte, wäre Desiderius vermutlich schon längst auf und davon. Desiderius hatte es schließlich selbst zugegeben, er hatte Rahff nur deshalb vor seinen Feinden gerettet, weil er ihn schön fand.

Trau nie einem Fremden, erinnerte er sich selbst, scheint er noch so aufrichtig.

Der Wächter kam zurück, es hatte eine kleine Ewigkeit gedauert. Neben ihm lief ein untersetzter, alter Mann, der sich tief verbeugte. »Eure Majestät empfängt Euch jetzt, Lord Rahff Youri aus dem Schwarzfelsgebirge. Bitte folgt mir.«

Noch einmal blickte Rahff sich um, doch keine jadegrünen Augen sahen ihm nach. Er schüttelte frustriert den Kopf, dann folgte er dem Diener.

Jetzt ist die Zeit, zu handeln.

Herz des Südens

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