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Kapitel 7

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Als der Morgen graute, trat Rahff die Glut aus. Er hatte die letzte Wache gehalten, da Desiderius auf die erste bestanden hatte. Der Vagabund schlief lieber bis zum Aufbruch, blieb dafür aber gern bis tief in die Nacht hinein wach, um sie zu bewachen. Rahff hatte mit keinem Protest gegen Desiderius` Sturheit ankommen können. Mit dem Burschen zu diskutieren war, als wolle man einen Berg bewegen: sinnlos. Es war ihm schleierhaft, wie sich jemand derart über solch eine Belanglosigkeit aufregen konnte. Ein wahrlich empfindlicher Vagabund, dieser Bursche! Dabei hatte er den Eindruck gehabt, dass Desiderius die Ruhe dringend nötiger gehabt hatte als er.

Und er sollte sich nicht täuschen. Kaum war Desiderius eingeschlafen, hatte Rahff ihn zittern sehen und leise stöhnen hören. Dank der Schmerzen, die ihm sein Gesicht die ganze Zeit über bereiten musste, hatte ihn das Erschöpfungsfieber heimgesucht.

Eine Weile sah Rahff dabei zu, wie das Zittern stärker wurde. Mit aller geistiger Macht wollte er sich davon abhalten, sich um Desiderius zu kümmern. Aus gutem Grund. Er sah ihn schon erschrocken aufwachen und ihn mit wüsten Flüchen von sich schubsen. Trotzdem hatte es ihm das Herz in der Brust zusammengezogen, tatenlos dem Leiden des Burschen zuzusehen, sodass er noch lange vor dem Morgengrauen um die Glut herum gestampft war, seinen Umhang gelöst und das weiche Bärenfell um Desiderius` schlanke Gestalt gelegt hatte. Die Panzerplatten der Schultern hatte er selbstredend abgeschnallt. Als der Vagabund weiterschlief, hatte Rahff es sich sogar erlaubt, dieser schwarzhaarigen, unantastbaren Schönheit flüchtig über den Kopf zu streicheln.

Dieses Haar! Es war pechschwarz! Rahff hatte noch nie solch schwarzes Haar erblickt. Die meisten Haare besaßen einen rötlichbraunen Stich, einen hellen Schimmer, den die Sonne preisgeben konnte. Aber nicht Desiderius. Oh nein. Diese Schönheit hatte wahrhaftig schwarzes Haar, das sich leicht und dunkel schimmernd wie das Federkleid eines Raben im Wind bewegte. Es war faszinierend.

Rahff hatte dem Schlafenden eine Hand auf die Stirn gelegt, bevor er sich dazu hinreißen ließ, sanft mit den Fingern durch die glatten Strähnen zu kämmen. Desiderius war leicht erhitzt, aber nicht beunruhigend heiß. Natürlich war die Geste mehr als die Überprüfung der Körperwärme gewesen, doch davon musste der Schlafende nichts erfahren.

Danach hatte Rahff sich wieder entfernt, aber keine Ruhe mehr gefunden. Stund um Stund tigerte er auf und ab. Konnte weder die Augen von Desiderius` schlafenden Gesicht lassen, noch die Berührung aus seinen Gedanken vertreiben. Seine Hand prickelte, das schwarze Haar hatte sich wie warme Seide angefühlt. Er wusste zu gut, was dieses Drängen in seiner Brust zu bedeuten hatte, weshalb ihn eine unüberwindbare Unruhe erfasste. In solchen Dingen hatte er sich noch nie wirklich beherrschen können. Rahff verlor oft den Kampf gegen seine Empfindungen. Vor allem Wut und Lust konnte er nichts entgegensetzen. Selbst Nebelkralle, der ihm tapfer nacheifern und alles fest im Blick haben wollte, gähnte irgendwann und gab sich geschlagen. Der kleine Kater kroch zu Desiderius auf das Lager, angelockt durch den Geruch, der Rahffs Mantel anhing, und rollte sich neben dem fiebrigen Vagabunden zusammen, schnarchte leise.

Als der Morgen graute, wagte Rahff kaum, die beiden zu wecken. Er wusste nicht, ob er die Hand zurückziehen konnte, wenn er Desiderius an der Schulter wachrüttelte.

Aber sie mussten aufbrechen, durften keine Zeit verlieren. So ging er zu den Pferden und hoffte, genug Lärm zu machen, dass Desiderius von allein erwachte.

Was war eigentlich in ihn gefahren, Desiderius von dem Fluch zu erzählen? Rahff schüttelte den Kopf, als er Erde sattelte. Was hatte er sich davon erhofft? Verständnis? Das hatte er nun davon, außer Spott hatte Desiderius nichts für diese Legende übriggehabt. Rahff wusste ja selbst nicht, wie viel von seiner Geschichte der Wahrheit entsprach, aber eines war gewiss: den Fluch gab es! Er war dabei gewesen, als die Finsternis nach und nach immer mehr Macht über seinen Vater erlangt hatte, der vom liebenden Vater zum brutalen Monster geworden war. Rasch, wie die Flut das Ufer, hatte der Wahnsinn den Verstand eines guten Mannes geraubt. Innerhalb weniger Monate.

Und da sein Vater nun tot war, würde der Fluch auf ihn übergehen.

Davor fürchtete er sich mehr als vor allem anderen. Vor dem Tag, wenn er nicht mehr dagegen ankämpfen und sich selbst verlieren würde.

Vielleicht hatte er deshalb davon angefangen, hatte sich Trost und Zuversicht von Desiderius erhofft. Aber von einem Blutsauger war nichts anderes als Belustigung zu erwarten. Sie konnten schließlich nicht von Dämonen besessen sein, demnach hatten sie auch noch nie etwas von Flüchen gehört, denn das eine ist wie das andere. Man veränderte sich und diente dem Bösen. Luzianer waren davor gefeit.

Rahff schluckte, als ihm der Gedanke kam. Mit der Angst, nicht mehr Herr seines Verstandes zu sein, lebte er nun schon sein Leben lang. Er hatte gesehen, wie sein Großvater daran zu Grunde ging, und seinen Vater daran zerbrechen sehen. Aber der Fluch war trotz hohem Alter immer weit entfernt gewesen. Trotz wirrem Verstand schien sein Vater gewusst zu haben, dass er lange leben musste, damit Rahff frei sein konnte. Aber nun war der Fluch deutlich greifbar. Mehr sogar, Rahff glaubte zu spüren, wie er sich in seinen Geist schlich. Wie der Nebel, der am Morgen aufzog und sich über den Waldboden legte.

Er verscheuchte die trüben Gedanken, konnte seinem Schicksal schließlich nicht entkommen. Nun galt es, so schnell wie möglich den Mord an seinem Vater zu rächen – sei er noch so ein grausamer alter Mann gewesen, er hätte Besseres verdient – und sein Erbe zu sichern. Dass er einen Nachfolger brauchte, der ihn zügelte oder gar einsperrte, wenn der Fluch ihn wütend machte, war ihm bewusst. Er würde ebenso lange sein Dasein fristen, wie es sein Vater für ihn getan hatte. Für die Burg, für ihr Geschlecht. Damit sein Sohn mit klarem Verstand die Burg regieren konnte.

Glücklicherweise dürfte es diesbezüglich keine Probleme geben. Ehvon würde ein gutes Wort bei der Kirche einlegen, damit Rahff seinen Bastard legitimieren konnte. Er kannte den Jungen nicht richtig, hatte ihn früher aber oft besucht. Ihm wohnte eine gute Seele inne, das sah man auf den ersten Blick, er würde unerwartet vom Bastard zum Edelmann werden, aber daran würde er wachsen.

Desiderius regte sich hinter Rahff auf seinem Lager mit einem gemaulten: »Bei den Göttern, ist das widerlich!«

Verwundert drehte Rahff sich um.

»Was soll das?« Angewidert fuhr Desiderius sich mit dem Unterarm über das Gesicht. Er hatte sich auf einen Ellenbogen gestützt, sein Zopf war vom Schlafen unordentlich, seine Haut zerknittert. Neben ihm saß Rahffs kleiner Puma aufrecht und leckte sich gemütlich mit der rauen Zunge die übergroße Tatze, in die er noch reinwachsen würde. Offensichtlich hatte der kleine Silberlöwe sich gedacht, er müsse seinem Bettnachbarn das Gesicht putzen, wenn er schon gerade dabei war, sich selbst zu pflegen. Doch er schien sich keiner Schuld bewusst, er wirkte sogar recht zufrieden, als Desiderius erwacht war.

Rahff lächelte amüsiert, nachsichtig wie ein liebender Vater.

»Mit was fütterst du dieses fette Katzenvieh?«, murrte der Vagabund.

»He, nimm das sofort zurück, er ist nicht fett! Das ist nur sein Kinderpelz!«

Desiderius sah skeptisch zu ihm auf, mit einem rechthaberischen Augenfunkeln, das Rahff zur Weißglut brachte. Er war versucht, sich auf ihn zu werfen und ihm seine Arroganz zu stehlen.

»Gilt das auch für dich, du Bär? Oder brauchst du die ganze Masse für deinen Winterschlaf?«

Rahff knirschte warnend mit den Zähnen.

»Er stinkt, als hättest du ihn mit vergammeltem Fisch gefüttert«, beschwerte sich der Dieb weiterhin, »und dann leckt er mir mit seiner rauen Zunge durchs Gesicht! Das ist widerlich.«

Rahff musste sich daran erinnern, dass Desiderius nicht aus dem Gebirge stammte und deshalb nicht das gleiche Wissen inne hatte wie er. Also versuchte er, ruhig zu bleiben. »Er putzt dich. Du gehörst jetzt zu uns, deshalb will er dir seine Zuneigung schenken.«

»Großartig!«, schnaubte Desiderius uneinsichtig. »Dann soll er mir den Sack lecken, aber nicht das Gesicht!«

Rahff war zugleich schockiert und angeekelt. »Wer ist jetzt widerlich? Dich lasse ich besser nicht mehr mit ihm allein.« Wer weiß, auf welche perversen Gedanken der einsame Dieb noch so kommen würde…

»Hau ab!« Brüsk schubste Desiderius den kleinen Pelzknäuel von seinem Lager.

Rahff machte einen warnenden Schritt auf ihn zu. »He, pass auf!« Er missbilligte Desiderius` gänzlich fehlendes Feingefühl im Umgang mit dem Kleinen. Im Umgang mit allen Tieren! Zu Fels war er auch nicht gerade liebevoll, er schien in ihm nichts weiter als ein Mittel zum Zweck zu sehen.

Nebelkralle sprang eingeschüchtert hinter Rahffs Stiefeln in Deckung und duckte sich flach auf den Boden, als wollte er sich verstecken. Seine, für seinen Kopf, übergroßen, gelben Augen zeugten von seiner Verwunderung. Er konnte nicht verstehen, was er Falsches getan haben sollte. Fragend sah er zu Rahff hoch und mauzte mit kratzigem Stimmchen.

Desiderius schlug Rahffs Mantel beiseite, um aufzustehen. »Dann soll er sich gefälligst von meinem Lager bequemen!« Der mürrische Dieb klopfte sich das Leder seiner verschlissenen Rüstung glatt, die er beim Schlafen anbehalten hatte. »Ich wiederhole mich gern: Er stinkt wie ein drei Wochen alter vergammelter Fischtopf!« Noch einmal fuhr er sich mit dem Unterarm über das Gesicht.

Rahff konnte darüber nur den Kopf schütteln. Er wandte sich ab und sagte verstimmt über die Schulter: »Pack zusammen, wir brechen auf.«

»Seit wann übernimmst du hier das Kommando?«, wunderte sich Desiderius. Dann begehrte er auf: »Glaub ja nicht, du könntest mir Befehle erteilen, nur weil du adelig bist!«

Rahff gürtete gerade seine Axt als er sich wieder zu der schwarzhaarigen Schönheit umdrehte. Ihm lag ein guter Konter auf den Lippen, der jedoch vollkommen in Vergessenheit geriet, als er in diese stechendgrünen Augen blickte, die ihm feurig entgegenfunkelten. Sie leuchteten wie geschliffener Jade. Und … Oh diese Angriffslust! Wie gern er sie ihm genommen hätte, in wilder, roher Leidenschaft, auf dass seine Worte erstickten und aus seiner Kehle nur noch ungläubige, wohlige Laute dringen würden.

»Du bist ein richtiger Morgenmuffel, was?«, war das Einzige, was er schließlich herausbrachte. Wie könnte er verärgert sein, bei diesem exotischen Anblick?

Desiderius schnaubte herablassend. »Nur, wenn mir das Gesicht im Schlaf abgeschleckt wird!« Er warf einen wütenden Blick hinab auf Nebelkralle, der sich eingeschüchtert hinter Rahff in Deckung zog, die abgerundeten Öhrchen reuevoll eingeknickt.

»Du solltest dich geehrt fühlen, dass er dir überhaupt Beachtung schenkt!«, konterte Rahff gereizt. Er konnte gar nicht anders, als seinen Gefährten zu verteidigen.

Desiderius verzog kaltschnäuzig das Gesicht. Dieser Ausdruck sagte bereits alles, er hielt nicht viel von Nebelkralle. Er löste seinen Zopf, kämmte mit den schlanken Fingern durch seine schwarzen Strähnen und band sie wieder streng auf dem Hinterkopf zusammen.

»Ihr Adeligen und euer seltsamer Drang nach dem Ungewöhnlichen!«, sagte er zu Rahff, während er begann, sein Lager zusammen zu rollen. »Ich habe gelernt, dass Raubtiere eine Gefahr sind! Keine Haustiere! Du wirst dich noch umschauen, wenn er eines Tages ausgewachsen ist und dir das Gesicht abbeißt, statt ableckt!«

Da verstand Rahff, dass Desiderius keine Ahnung hatte, was er wirklich war. Er lächelte unwillkürlich in sich hinein, schulterte seinen Schild und schüttelte amüsiert den Kopf.

»Was ist?« Desiderius waren die Gesten der stillen Belustigung nicht entgangen. Und er klang äußerst gereizt. »Was ist so amüsant?«

»Dass du keine Ahnung hast«, sagte Rahff triumphierend in Desiderius` Gesicht.

Dieser blinzelte, bis Wut Einzug in sein leeres Gesicht hielt.

»Ich bin ein Jäger!«, klärte Rahff ihn auf, er musste sich ein Lachen verkneifen. »Ich fand Nebelkralle während meiner Flucht. Oder besser gesagt, er fand mich. Er lag zwischen seinen verhungerten Geschwistern, die Mutter war nicht in Sicht, vermutlich fiel sie einem anderen Raubtier zum Opfer. Zwischen ihm und mir besteht eine tiefere Bindung, als sie zwischen Mensch und Mensch je entstehen könnte. Im Geiste sind wir eins, er und ich.«

Zum ersten Mal seit sie sich begegnet waren, starrte Desiderius ihn sprachlos an. Er blinzelte nicht einmal, presste nur die eingerollten Decken an seine Brust. Unruhig wanderten seine jadegrünen Augen zwischen Rahff und Nebelkralle hin und her, als erwartete er jederzeit einen hinterhältigen Angriff. Rahff würde lügen, hätte ihm dieser Anblick nicht gefallen.

»Also keine Sorge, Desi«, neckte er ihn, trat auf ihn zu und drückte mit seiner behandschuhten Hand beruhigend Desiderius´ Schulter. »Mir wird er das Gesicht bestimmt nicht abbeißen. Und solange ich es nicht will, wird er auch dir kein Leid zufügen.«

*~*~*~*

Sie ritten bedächtig durch den sonnengefluteten Wald. Die dichten Baumkronen konnten die Frühlingswinde nicht abhalten, doch durch die saftigen Blätter erstrahlte das Licht um sie herum in einem dunklen Grün. Vögel tanzten durch die Luft, es waren junge Nesthäkchen, die in den Ästen Fangen spielten. Eichhörnchen flohen vor den Hufen der Pferde in die Bäume. Rahff bewunderte die kleinen Nager immer wieder, wenn sie kopfüber an einem Stamm auf und ab huschten.

Als die Sonne an ihrem höchsten Punkt gelangte, erreichten sie schließlich den Östlichen Fluss. Tatsächlich trug der Fluss keinen anderen Namen, in Nohva benannten die Völker Gewässer gerne nach Eigenschaft oder Lage.

Sie ritten dicht neben dem reißenden Fluss her, das Schmelzwasser hatte ihn anschwellen und zu einer tödlichen Gefahr werden lassen. Sie folgten ihm der Strömung entgegen auf der Suche nach einer seichten Stelle, an derer sie den Fluss durchqueren konnten.

Selbst am Ufer war der wolkenlose Himmel nicht zu erkennen, sodass die reißenden, eiskaltblauen Fluten nicht zum Funkeln gebracht wurden. Die Bäume waren hoch genug gewachsen, dass ihre Äste über das breite Flussbett reichten. Als würden sie sich uferüberbrückend die Hände reichen. Gäbe es hier Menschensiedlungen wäre das Flussufer gewiss gerodet gewesen, doch so konnte Rahff sich der wilden Natur erfreuen. Er hatte sich noch nie so sicher gefühlt, wie in jenen Tagen, als der tiefe Wald seinen blickdichten Mantel um ihn legte.

Nebelkralle war die ganze Zeit über munter. Was Rahff doch etwas wunderte. Der Kleine war noch sehr jung und brauchte viel Schlaf, Rahff hatte gerade erst damit aufgehört, ihm vorgekaute Nahrung zu geben, und ihm die Mäusejagd schmackhaft gemacht. Rahff übernahm in allen Bereichen die Rolle des Muttertieres, bis der Puma erwachsen war. Die Aufzucht war anstrengend, gewiss, aber ebenso vom Vorteil. Ihre Verbindung würde stark sein. Lächelnd beobachtete er, wie der Kater geduckt durch das Unterholz streifte und allem auflauerte, dass sich bewegte. Sein Jagdinstinkt erwachte.

Kaum waren sie am Fluss, beobachtete Nebelkralle mit seinen großen Augen neugierig die Fische im Wasser. Schreckte jedoch zurück, wenn ihm kalte Spritzer ins Gesicht flogen, weil er die Tatze nach einem Flussbewohner schlug. Er verstand nicht, wie sein Opfer sich wehren konnte.

»Ich bin noch nie einem Jäger begegnet.«

Rahff grinste. »Oh, er kann also doch noch sprechen!« Er sah sich über die Schulter. Desiderius trottete seit ihrem Aufbruch in Gedanken versunken hinter ihm her. Beziehungsweise, ließ er Fels hinter Schnee hertrotten. »Und ich dachte schon, es hätte dir die Sprache verschlagen!«

Die schwarzhaarige Schönheit verengte ärgerlich die jadegrünen Augen.

»Du siehst etwas grün um die Nase aus«, bemerkte Rahff. Und es war eine wirklich hübsche Nase, markant, aber nicht auffällig, mit einem Buckel eines alten Bruches. Zurzeit noch etwas geschwollen von der gestrigen Prügelei. »Geht es dir nicht gut?«

Desiderius schluckte, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. »Mir geht es hervorragend!« Doch seine trüben Augen strafte seiner Worte Lüge.

Rahff ließ Schnee zurückfallen, bis er neben Desiderius her reiten konnte. Der Vagabund hing mit hängenden Schultern schlaff im Sattel, sein Körper wankte müde bei jedem Schritt hin und her, wie ein Fähnchen im Sturm.

»Also«, Desiderius wich seinem forschenden Blick aus, »wie kann ich mir das vorstellen? Hast du ihn … gezähmt?« Seine Augen wanderten zum Ufer und beobachteten Nebelkralle, der tapsig neben dem Wasser einem grellgelben Schmetterling nachjagte.

Gezähmt… Rahff verzog missbilligend das Gesicht. Er mochte dieses Wort nicht, wobei Seinesgleichen keinen anderen Begriff verwendeten. Aber es war kein Zähmen, er drängte sich dem Tier nicht auf.

»Nein, gezähmte Tiere werden ihres Instinktes beraubt. Hingegen bleibt Nebelkralle ein wildes Tier«, antwortete er, und Desiderius sah ihn wieder neugierig an. »Es ist spiritueller als das.« Er beobachtete Nebelkralle und spürte die geistige Verbindung zu ihm wie ein festes Seil, das sie miteinander verband. »Ich versprach mich ihm, und er versprach sich mir. Ich kann dir das nicht begreiflich machen, du müsstest es fühlen. Es ist, als sei er in meinem Geist, zu jeder Zeit, und ich in seinem. Ich kann fühlen, was er fühlt, kann mit ihm kommunizieren ohne Worte oder Gesten zu verwenden.«

»Ihr lest also gegenseitig eure Gedanken«, vermutete Desiderius. Seine Stimme klang ein klein wenig nervös dabei, wenn Rahff sich nicht täuschte.

»Nicht gänzlich. So einfach ist es nicht. Wir empfinden, was der andere empfindet, jedoch gänzlich ungewollt.« Rahff schaute Desiderius in die Augen und lächelte nachsichtig. »Es ist keine irdische Verbindung, nichts, was man beeinflussen könnte. Kein Lesen, kein Zuhören. Betrachte ihn einfach als ein Teil von mir, der nicht an meinen Körper gewachsen ist. So wie ich ein Teil von ihm bin, der nicht an ihm festgewachsen ist.«

Anhand der skeptischen Miene konnte Rahff erkennen, dass der Vagabund nicht im Geringsten verstehen konnte, wo von er da sprach. Schade eigentlich.

»Mit anderen Worten«, foppte Desiderius, »als er mir das Gesicht abschleckte, warst eigentlich du es, der mich lecken wollte?«

Rahff musste ob der gewollten Zweideutigkeit leise lachen. Die beiden Männer grinsten sich verschlagen an. Rahff schüttelte den Kopf.

»Ruf dir die tiefste Liebe hervor, die du je empfunden hast, und dann verhundertfache sie«, versuchte Rahff, ihm begreiflich zu machen, »dann hast du immer noch erst ein Viertel der Verbindung gespürt, die ich zu dem Tier spüre, das mich zum Gefährten wählte.«

Desiderius schüttelte den Kopf, als bedaure er Rahff mal wieder zutiefst. »Keine Ahnung. Ich habe nie geliebt.« Kalt erwiderte er Rahffs Blick, der ihn überrascht anblinzelte.

Noch nie? Wirklich noch nie? Er focht einen harten Kampf mit seinem Herzen aus, um in diesem Moment nicht unpassend froh zu lächeln.

Dann war das Herz des Vagabunden noch frei? Welch erfreuliche Neuigkeit.

Natürlich, alter Mann, als ob ein junger Bursche wie dieser auch nur das geringste Interesse an dir hätte, selbst wenn er Männern zugetan wäre …

»Nun«, Rahff richtete den Blick durch Schnees weiße Ohren nach vorne auf das steinige Ufer, »dann wissen wir jetzt wenigstens warum du so launisch bist. Das würde mich erheblich frustrieren!«

Den Faustschlag gegen seinen Arm spürte er gar nicht, aber es brachte Fels und Schnee zum Tänzeln. Rahff beruhigte seinen Hengst wieder, während Desiderius ihn mit bösen Blicken durchbohrte.

Lachend rieb Rahff sich den Arm. »Sag mal, wie alt bist du eigentlich?«

»Offensichtlich erfreue ich mich eines gesünderen und reiferen geistigen Alters als Ihr, werter Lord Silberlöwe.«

Rahff grinste noch mehr.

Desiderius lenkte seinen Grauen wieder neben Schnee. »Was schätzt du denn?«, fragte er herausfordernd. Er grinste ihn an, wobei er wohlbedacht die Lippen geschlossen hielt.

Rahff schnaubte. »Gib dir keine Mühe, Zähnchen! Ich hab deine Werkzeuge schon gesehen.«

Desiderius wandte beleidigt den Blick ab. »Ich bin Achtzehn Sommer alt.«

»In Menschen- oder Luzianerjahren?«, amüsierte sich Rahff. Luzianer waren schließlich ein langlebiges Volk, das sich einer beinahe ewigen Jugend erfreute. Er hatte mal gehört, ein Luzianer konnte bis zu einem Jahrtausend alt werden, und immer noch wie dreißig Winter aussehen.

Und schön waren sie! Dieses Gerücht konnte er bestätigen. Zwar kannte er die Königsfamilie – die ebenfalls dem luzianischen Volk angehörte – und deren Makellosigkeit, aber sie waren blass im Vergleich zu Desiderius.

»In Menschenjahren!«, klärte Desiderius ihn auf.

»Dann bist du ja noch quasi ein Kind unter Deinesgleichen!«, rief Rahff lachend aus.

Das handelte ihm wieder einen bösen Blick ein. »Wenn du dich dann fertig amüsiert hast, hätte ich da noch eine Frage zu deinem kurzlebigen Menschendasein!«

Rahff gluckste fröhlich, nickte aber bereits auffordernd.

»Du hast gesagt, der Puma hätte dich erwählt«, erinnerte sich Desiderius. Er war wirklich neugierig, was dieses Thema anging. Aber interessierte er sich für die Gemeinschaft der Jäger, oder bestand der winzige Funke Hoffnung, sein Interesse könnte Rahff gelten? »Wie genau hat er das gemacht? Hast du ihn … rufen hören?«

Rahff lachte wieder leise, nachsichtig dieses Mal. »Nein. Ich habe ihn gespürt. Mitten im Wald.«

»Wie … gespürt?«

»Wie ein Drängen in der Brust«, Rahff schlug die Faust auf seinen Brustkorb, »es ist wie ein Hustenreiz, der immer schlimmer wird und du irgendwann das Gefühl hast, nicht mehr tief einatmen zu können.«

»Und was passiert dann?« Kindliche, schöne Neugierde in der plötzlich hellen Stimme! Rahff lächelte versonnen.

»Du findest entweder das Tier, oder musst lernen, mit dem Gefühl zu leben.« Rahff zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Ich denke, er hat meine Not gespürt, und ich die seine. Nenn es einen Ausgleich der Natur, wenn du es dir dann besser erklären kannst. Zwei verlorene Seelen, die zusammengefügt wurden, um zu überleben.« Er schlug Desiderius amüsiert gegen den Arm. »So wie wir zwei!«

Diese Behauptung löste bei Desiderius nur ein angewidertes Kräuseln der Lippen aus. »Ich bin nicht verloren!«

Deutlicher hätte die Zurückweisung nicht sein können. Rahff kaschierte den Stich in der Brust mit einem kühlen Lächeln.

»Bringt uns das Vorteile oder Nachteile? Mehr will ich darüber gar nicht wissen«, sagte Desiderius äußerst pragmatisch zu Rahff.

»Kann es ein Nachteil sein, zwei Augen mehr dabei zu haben?«

»Im Moment ist er mehr eine unnötige Belastung.« Desiderius blickte prüfend auf den kleinen Puma herab. Nebelkralle hatte seine Angst überwunden und zog gerade einen kleineren Fisch aus dem Fluss. Er spürte die Blicke der Männer und drehte sich um, aus seinem Maul hing die silberne Flosse seiner Beute und zappelte. Er blickte überrascht drein.

»Er ist nicht unnütz!«, beharrte Rahff mit dunkler, ernster Stimme.

»Wir werden sehen«, hielt Desiderius nicht überzeugt dagegen. Er gab Fels einen Tritt in die Flanken und trabte voran.

*~*~*~*

Wie sah ein Mann vom Ausmaß eines Berges aus, mit dunkelbraunen, wellendem Haar, wenn er auf einem großen, majestätischen Schimmel an einem reißenden Fluss entlang galoppierte?

Wie ein verfluchter Gott!

Woher Desiderius dieses Bild im Kopf hatte? Es drängte sich ihm unwillkürlich auf, als Rahff an ihm vorbei preschte, war es doch genau jenes Bild, das ihn in einsamen Nächten warmhielt. Zu seiner Schande sah Rahff mit seinem mittellangen und dunklen Haarwellen dem Mann aus Desiderius` Träumen gefährlich ähnlich. Wofür er sich hasste! Und Rahff hasste er auch dafür!

Er wusste doch, dass es falsch war. Und bisher hatte es ihm nie Probleme bereitet. Ein wenig Neugierde in der Nacht, das war alles. Aber niemals – wirklich niemals! – hatte sein Herz bei einem wahrhaftigen Mann, den er sehen und anfassen konnte, derart wild geschlagen.

Desiderius musste diesen Giganten schleunigst los werden. Er würde ihn zur Hauptstadt bringen und dann das Weite suchen. Allein weiterziehen, wie er es immer vorgehabt hatte. Er brauchte weder Markesh noch Zeck noch sonst irgendjemanden. Allein kam er besser zurecht, andere Personen nervten ihn, ihre Angewohnheiten, ihre Laute, ihre Anwesenheit trieben ihn zur Weißglut, er hatte keine Geduld, um sich mit ihnen abzugeben. Immer darauf lauernd, dass sie ihm etwas Böses wollten. Er vertraute niemanden, und zwar aus einem guten Grund.

Aber es wurde anstrengend, jedermann zu misstrauen. Vielleicht würde er stehlen – gewiss würde er das tun – und die meiste Zeit allein irgendwo in der Wildnis leben, fernab jeglicher Zivilisation, wo ihn niemand stören, niemand nerven konnte. Nur er, das nackte Überleben, und die Stille der Natur.

Das würde ihm gefallen.

Dann wäre er endlich ungestört mit seinen Gedanken und musste sich nicht mehr zurückhalten. Vielleicht würde er dann wieder an Rahff denken, wie er auf seinem weißen Schimmel an ihm vorbei galoppierte. In seinem Traum würde er allerdings kein Packpferd hinterher ziehen, er würde auch keine Rüstung tragen oder auf einem Sattel sitzen. Oh nein…

»Komm schon, Zähnchen!«, rief Rahff ihm über die Schulter zu, er schenkte ihm ein Lachen.

Desiderius mahlte mit den Kiefern. Wie war es möglich, sich gleichzeitig derart über einen Menschen zu ärgern – und gleichzeitig wildes Herzklopfen zu verspüren.

Dieses Lachen! Diese weißen Zähne! Man erblindete beinahe.

Desiderius wusste nicht, ob er es ihm aus dem Gesicht prügeln oder ein Bild davon malen sollte, um es für die Ewigkeit zu bewahren.

Unwillig trieb er Fels an, der feuchte Kies am Flussufer spritzte unter seinen gewaltigen Hufen hoch. Sein Grauer sputete sich, seiner Herde nachzukommen. Desiderius war kein geübter Reiter, deshalb war er froh gewesen, dass der Hengst einen unstillbaren Drang besaß, immer in Schnees Nähe zu bleiben. Obwohl sie beide potente Hengste waren. Nun, alles aus dem Schwarzfelsgebirge schien anders zu sein. Die Pferde sowie die Menschen, keiner wollte sich an die Gesetze der Natur halten, die Desiderius kannte und verinnerlicht hatte. Giganten wollten offensichtlich nicht zu wachsen aufhören, und Hengste waren mit anderen Hengsten verträglich.

Oder hatte die Ruhe der Pferde gar etwas mit der Tatsache zu tun, dass Rahff ein so genannter Jäger war?

Der Galopp tat ihm nicht gut. Schon seit dem Aufstehen war ihm übel, sein Magen fühlte sich überhaupt nicht gut an. Erst hatte er es auf den Mundgeruch des Pumas geschoben, der ihm quer über das schlafende Gesicht geleckt hatte. Aber das Gefühl verschwand nicht, es wurde sogar von Stund zu Stund stärker.

Er nahm die Zügel in eine Hand und hielt sich mit der anderen den Magen, kalter Schweiß tropfte aus all seinen Poren, ein bitterer Geschmack lag auf seiner Zunge. Galle.

Es sollte ihn nicht verwundern, Zecks Tritte waren schließlich nicht sanft gewesen. Sein Magen schien verletzt, eine innere Wunde, die äußerlich nicht sichtbar war. Das würde vielleicht auch das Fieber erklären.

Er brauchte …

… um zu heilen …

… aber Rahff …

»Wir sollten rasten«, drängte Desiderius, als er Fels neben den Giganten lenkte.

Rahff erwiderte: »Wenn wir auf der anderen Flussseite sind.« Er blickte nach droben und schätzte die Tageszeit anhand des Sonnenstandes ab. »Dann schlagen wir ein Lager auf und gehen jagen.«

Jagen? Bei dem Gedanken an gebratenes Fleisch drehte sich ihm der Magen um. Er stieß einen säurehaltigen Geschmack auf. Aber das würde ihm Gelegenheit bieten, an eine ganz spezielle Medizin zu gelangen, die hoffentlich seine natürlich starke Heilung beschleunigen würde. So nickte er einverstanden, wenn auch zweifelnd, dass er die Galle bis dorthin zurückhalten konnte.

Rahff bemerkte, dass etwas nicht in Ordnung war, er zügelte Schnee, bis er in einen langsamen Gang verfiel. »Du siehst nicht gut aus.«

»Du bist auch keine Augenweide«, brummte Desiderius. Er spürte einen Krampf und unterdrückte ein Grunzen.

»So war das nicht gemeint.« Rahff rollte mit den Augen und murmelte etwas, dass sich wie »bei den Göttern, bist du empfindlich« anhörte.

Da ihn Schmerzen plagten, tat Desiderius so, als habe er es nicht gehört. »Sieh mal!« Er entdeckte als erster die Steine im Fluss. »Da vorne! Sieht aus, als wäre das Wasser dort seicht genug.«

Rahff folgte seinem Fingerzeig, verengte die Augen, als sähe er schlecht. Und nickte dann zustimmend. »He-ja!« Er trieb Schnee wieder an und hielt auf die Stelle am Ufer zu.

Desiderius hatte genug von dem Rumhopsen und ließ Fels gemütlich hinterher trotten, obwohl der graue Hengst lieber losgetrabt wäre.

Seine Augen hatten ihn nicht getäuscht. Die aus dem Fluss ragenden Felsen, an denen sich das Wasser brach, boten eine geeignete Stelle, um durch den Fluss zu reiten. Der Grund war hier derart hoch gestaut, dass man den Sand direkt unter der Wasseroberfläche sehen konnte.

Rahff ritt mit Schnee voran, nur die Hufe des Schimmels wurden nass. Nebelkralle sprang neben ihnen von Stein zu Stein, darauf bedacht, dem ekligen Wasser bloß nicht zu nahe zu kommen.

In Anbetracht der Tatsache, wie sehr der kleine Racker stank, täte ihm ein Ganzkörperbad gut. Desiderius war versucht, ihm einen kleinen Schubs zu geben, wäre er denn in greifbarer Nähe gewesen. Aber er würde es Rahff zutrauen, dass er dann ihn, Desiderius, ebenfalls in den Fluss werfen würde. Und zwar in die reißende Strömung.

Als Desiderius Fels in den Fluss treiben wollte, sträubte sich das Tier wie ein störrischer Esel.

Das durfte doch nicht wahr sein! So kurz vor dem Ziel!

Desiderius klopfte mit den Hacken seiner Stiefel in die Flanken des Pferdes, doch der Hengst wieherte lediglich und tänzelte zurück. Er riss die Augen auf und den Kopf in die Höhe, als wolle er hochsteigen. Desiderius klammerte sich vorsorglich haltsuchend an die dunkelgraue Mähne.

Rahff hatte bereits das andere Ufer erreicht, ohne Probleme, und drehte sich nun verwundert zu ihnen um. Seine kritische Miene sollte er sich sonst wo hinstecken, dachte Desiderius!

»Was ist los?«, rief Rahff herüber.

»Wonach sieht es denn aus?« Um es zu demonstrieren, trieb er Fels noch einmal an, energischer dieses Mal, aber in dem Hengst schien der Geist eines Maultieres zu wohnen, denn er verweigerte erneut beharrlich den Befehl.

»Du darfst ihn nicht so treiben!«, warnte Rahff in Manier eines Besserwissers. »Er hat angst vor dem Wasser! Und kennt dich nicht gut genug, um dir zu vertrauen.«

»Großartig!« Fassungslos hob Desiderius die Arme. »Ach deshalb heißt er Fels? Weil er so unbeweglich ist wie einer? Ja dann vielen Dank für das Geschenk! Hättest du mir nicht den Gaul geben können, der das Wasser nicht scheut!«

Rahff fiel mal wieder wegen Desiderius` Dreistigkeit der Kiefer herab. »Beschwerst du dich gerade allen Ernstes über ein Geschenk, du vermessener Wicht? Dann gib ihn mir zurück!«

»Würde ich ja, kämen wir denn über den Fluss!«, rief Desiderius in Stimmlage eines Schaustellers, um der Szene die gewisse Dramatik einzuhauchen. Er fuhr fort, mit auslandender Handgeste, als tröge er ein Gedicht vor. »Aber mein holdes Ross verlor den Mut, als es sein Spiegelbild im Wasser erblickte!« Desiderius senkte die Stimme, als er murrend anfügte: »Vermutlich schämt er sich der langen Nase wegen.«

Rahff hatte für diese Art von unangebrachtem Spott nur einen ärgerlichen Blick übrig. Aber konnte es sein, dass sein rechter Mundwinkel verräterisch zuckte?

Ein plötzliches Kitzeln im Nacken ließ Desiderius herumfahren. Er glaubte, jemand beobachtete ihn aus dem Unterholz hinter seinem Rücken. Mit verengten Augen spähte er in das dunkle Geäst, hatte das Gefühl, jemand blickte ihm direkt in die Augen, doch dort war nichts. Die Angst des Pferdes schien sich irgendwie auf ihn zu übertragen. Fels tänzelte erneut nervös. Desiderius zog die Zügel an und klopfte ihm beruhigend auf den Hals, angespannt kaute der Hengst auf dem Gebissstück seiner Trense.

»Soll ich rüberkommen?«, fragte Rahff herausfordernd, seine lauernde Stimme gefiel Desiderius gar nicht. »Und dich an den Zügeln sicher über das Wasser geleiten, meine Liebe?«

Desiderius blickte ihm reglos entgegen. »Ach leck mich doch.«

»Sag mir, wo.« Rahff schmunzelte – wahrlich, er schmunzelte, schief und mit geschlossenen Lippen, sodass es ganz und gar schelmisch wirkte.

Oh ihm fielen da so einige Stellen ein. Am liebsten dort, wo die Sonne nicht schien.

Sein Magen schmerzte erneut, ein heißer Stich, als hätte er Nägel verschluckt, die sich nun einen Weg nach draußen bahnten. Er rieb sich mit schmerzverzehrtem Gesicht den Bauch.

»Zeig ihm einfach, dass er dir vertrauen kann!«, rief Rahff ihm ernst zu. »Sei mal etwas einfühlsamer, er ist immerhin ein Lebewesen!«

Vertrauen? Das war leicht gesagt, aber wie sollte Desiderius dem Hengst begreiflich machen, dass er ihm vertrauen konnte, da er doch selbst niemals jemanden vertraut hatte?

Er war sich sicher, dass Rahff darauf auch noch eine Antwort gefunden hätte, weshalb er die Worte schluckte. Tief durchatmend suchte er nach Geduld.

»Also gut.« Er lehnte sich über den Hals des Tieres, um den langen Ohren näher zu kommen, und senkte die Stimme um einige Oktaven. »Hör mal, Grauer, ich weiß, ich bin der Letzte, dem du dein Leben anvertrauen würdest, aber das ist nur Wasser! Deine Freunde sind bereits drüben, also lass uns das hinter uns bringen, dann bist du mich für heute los.« Das war doch ein guter Kompromiss.

Desiderius glaubte beinahe, Rahffs amüsiertes Kichern zu hören.

Nun war es aber genug! Er würde doch ein Pferd durch einen Fluss treiben können! Das konnte sich wahrlich nicht als so schwierig erweisen.

Tatsächlich war Reiten nicht so leicht, wie es beim Zuschauen immer ausgesehen hatte, und Desiderius sollte erfahren, was geschah, wenn das Pferd, auf dessen Rücken er saß, ihm kein Vertrauen schenkte.

Zunächst konnte er ihn mit sanften Drängen dazu überreden, die Hufe ins Wasser zu setzen. Vermutlich war es Rahff zu verdanken, dass der Hengst sich vorwärts traute, denn er schnalzte mit der Zunge, und Fels bewegte neugierig die Ohren.

Äußerst langsam – auf ärgerliche Art langsam für einen Ungeduldigen, dem die Galle schon im Halse steckte – stakste der Hengst in den Fluss. Desiderius blickte zu Boden, um ihn vorsichtig um die glatten, vom Wasser rundgeschliffenen Steine zu bugsieren, doch der Hengst war derart stocksteif, dass er Desiderius gar nicht wahrzunehmen schien.

»Das machst du gut, Grauer«, lobte Desiderius ihn trotzdem. Er hatte sogar das Gefühl, dass Fels sich dadurch ermutigt fühlte.

Allerdings trat dieser Tollpatsch etwa in der Mitte des Flusses mit dem Huf auf einen glatten Stein und rutschte aus.

Mit einem Schreckenslaut klammerte Desiderius sich an die Mähne, Fels konnte sich gerade noch so fangen, bevor er hinfiel. Und dann geschah es. Das Tier geriet in Panik und scheute. Fels bockte mitten auf dem Fluss, und Desiderius war nicht geübt genug, um sich auf ihm zu halten und ihn zu beruhigen. Nein, zu seiner Schande flog er beim ersten Abwurf aus dem Sattel und geradewegs mit einem satten Plumpsen ins Wasser.

Er hörte noch Rahffs erschrockenes Einatmen, dann schlugen die Massen über seinem Kopf zusammen. Das Wasser war eiskalt und tief, er fiel nicht auf den Grund, was ihm Anlass gab, in Panik zu geraten, denn er war über die seichte Stelle hinausgeflogen!

Sein Wollmantel zog ihn nach unten, die Strömung riss ihn mit sich, wie eine Sturmbö ein vertrocknetes Herbstblatt durch die Luft.

Wild mit den Armen fuchtelnd versuchte er, nach oben zu gelangen. Er war schon immer ein guter Schwimmer gewesen, aber bei dieser Strömung war selbst der geübteste Schwimmer verloren. Immerhin gelang es ihm, an die Oberfläche zu kommen und stöhnend Luft zu holen. All das hatte nur den Bruchteil eines Augenblicks gedauert, aber dank seiner Panik und gänzlich ohne Atem war es ihm wie eine Ewigkeit erschienen.

Die Wassermassen rissen ihn mit sich. Er streckte die Arme nach aus dem Fluss ragenden Felsen aus, um sich festzuhalten, dabei brach er sich allerdings beinahe einen Finger. Sein Rücken wurde gegen einen großen Stein geschleudert, seine Rippen sandten einen Schmerz aus, der ihm den Atem stahl. Er wollte schreien, schluckte aber Wasser. Es brannte in seiner Lunge und er musste husten.

Es kam ihm vor, als habe ihn die Strömung bereits abertausende Fuß weit den Fluss abwärts gespült, als er endlich frontal einen Stein zu fassen bekam. Mit aller Kraft, die ihm blieb, legte er die Arme um den runden Schliff. Der Stein war glatt und durch die Nässe glitschig, er besaß etwa die Breite eines ausgewachsenen Mannes. Desiderius verschränkte die Finger und schrie. Was hätte er sonst tun sollen? Er war machtlos. Das Wasser zerrte an seinem Mantel, auch seine schweren Stiefel waren ein gefundenes Fressen für die reißende Strömung. Das Wasser brach sich an dem Stein, an den er sich verzweifelt klammerte, und spritzte ihm ins Gesicht.

Weit konnte er nicht getrieben sein, denn er glaubte, Rahff am Ostufer entlang reiten zu sehen. Desiderius hoffte jedenfalls, dass es nicht nur eine Sinnestäuschung war. Denn lange würde er sich nicht mehr halten können.

Er rief wütend um Hilfe. »Raaaaaaahff!« Dabei schluckte er wieder eine Flut Flusswasser. Als er hustete, verlor er den Halt und wurde erneut von der Strömung mitgerissen, doch die Reise endete abrupt unter Wasser. Es fühlte sich an, als habe sich etwas um seinen linken Fußknöchel geschlungen. Er suchte nach der Oberfläche und glaubte, einen grünen Schimmer an sich vorbei schwimmen zu sehen.

Was war das? Furcht ließ sein Herz erkalten. Alle möglichen Gruselgeschichten über riesige Flussschlangen und der Gleichen kamen ihm in den Sinn. Instinktiv wollte er nach seiner Klinge tasten. Er verlor das Kurzschwert natürlich, die Strömung riss es ihm aus der Hand, noch bevor er es richtig gezogen hatte.

Dabei fiel ihm auf, dass er nicht weitertrieb, irgendetwas hielt ihn fest. Er versuchte, unter Wasser seine Umgebung zu erkennen, doch die vielen Luftblasen um ihn herum störten seine Sicht. Etwas umkreiste ihn. Ein langer, dunkler Schatten. Grünfunkelnde Schuppen. Was auch immer sich um sein Gelenk geschlossen hatte, es drückte immer fester zu, sodass zu befürchten stand, dass ihn der Druck den Knochen brechen würde.

Etwas packte seine Schulter, und Desiderius fuhr instinktiv herum, zum Angriff bereit. Er erkannte weißen Stoff, der im Wasser flatterte. Ein Arm legte sich um seine Taille und presste ihn an einen großen, warmen Körper. Eisen blitzte im Wasser auf, und auf einmal riss das Wasser nicht mehr an seinem Umhang. Der schwere Wollstoff trieb ohne Desiderius in der Strömung weiter.

Eine beinahe übermenschliche Kraft riss an ihm, versuchte verzweifelt, ihn nach oben zu ziehen. Desiderius schüttelte wild den Kopf, deutete auf seinen Fuß; deutete auf sein Gesicht. Die Atemluft wurde knapp, er bekämpfte den immer stärker werdenden Drang, den Mund zu öffnen. Es wäre sein Todesurteil gewesen, doch seine Lunge sehnte sich so sehr nach der überlebenswichtigen Luft, dass sie zu vergessen schien, dass nur Wasser um sie herum war.

Plötzlich war der Halt wieder verschwunden. Panisch streckte Desiderius die Arme aus und klammerte sich an die Hand, die er zu fassen bekam. Er versuchte, sich an ihr nach oben zu ziehen, jedoch erfolglos.

Der andere Körper kam zurück, verschränkte die Finger mit seiner Hand, die andere spürte Desiderius im Nacken. Ein Schatten glitt auf sein Gesicht zu, etwas Weiches, Warmes berührte seine Lippen, drückte sich darauf und spaltete sie. Luft drang in seinen Mund, wurde ihm durch die Lippen geblasen. Und er saugte sie gierig auf. Um genug einzuatmen, krallte er sich in den langen, dunklen Strähnen seines Retters fest und atmete tief die Luft aus dessen Lungen ein.

Seinen ersten Kuss hatte er sich anders vorgestellt. Beziehungsweise war ihm diesbezüglich nie ein Gedanke gekommen, da ihm derlei Dinge stets unwichtig schienen. Ein Kuss, für solchen Unsinn hatte er keine Zeit, er musste zusehen, wie er überlebte. Aber wenn er darüber nachgedacht hätte, dann wäre ihm gewiss nicht in den Sinn gekommen, dass dieser erste Kuss ihm das Leben retten würde.

Als sich ihre Lippen trennten, fühlte er trotz der gefährlichen Situation tatsächlich Bedauern.

Der große Körper tauchte ab, kurz darauf spürte Desiderius, dass sein Fuß befreit war. Die Wassermassen wollten ihn wieder mit sich reißen, aber da wurde er bereits wieder gepackt und an die Oberfläche gezogen. Der lange Schatten mit den grünen Schuppen umkreiste sie noch immer, Desiderius sah ihn, bevor er durch die Oberfläche brach.

»Schlange!«, schrie er Rahff ins Ohr, schluckte dabei wieder Wasser und hustete. Er sollte wirklich lernen, die Klappe zu halten!

Unermüdlich schwamm Rahff auf das Ufer zu. Desiderius wurde an den breiten Körper des Giganten gepresst, Brust an Brust, und schlang ängstlich die Arme um Rahffs Hals, auf dass sein Retter beinahe wieder abgetaucht wäre. Er konnte über Rahffs Schulter blicken und glaubte, das Schuppenkleid der Flussschlange kurz unter der Wasseroberfläche entlanggleiten zu sehen. Sie musste so breit wie der Stamm einer uralten Birke und fast hundert Fuß lang sein! Trotzdem griff sie nicht noch einmal an.

Rahff zerrte ihn an seinem Kragen aus dem Wasser, sobald sie das Ufer erreichten, weil er zum Gehen zu schwach war. Schwer atmend brachen sie im Kies zusammen, keuchten beide.

Desiderius hustete einen Schwall Wasser hervor. Er war nass bis auf die Knochen, hatte seine Klinge und den Umhang verloren. Aber er lebte noch – Dank Rahff.

Als er zu Rahff blickte, der neben ihm unter schweren Atem auf die Beine kam, bemerkte er, dass dieser nur ein weißes Hemd trug, das ihm nass an seinen Muskelbergen klebte, und dass er auch die Stiefel und den Umhang ausgezogen hatte. Er entknotete gerade das Seil, das er um seine Mitte geschlungen hatte und dessen anderes Ende an einem Baum am Ufer festgebunden war.

»Was?« Desiderius rang noch immer nach Atem, als er ebenfalls stolpernd aufstand. Das Gewicht der nassen Kleider zog ihn nach unten. »Ich bin fast ersoffen – und du ziehst dich noch in aller Ruhe aus?«

Rahff sah ihn entgeistert an. Seine nassen Strähnen wirkten nun schwarz, sie klebten ihm im Gesicht, wie das durchnässte Hemd an seiner Brust. »Wäre ich dir naiv nachgesprungen, wären wir jetzt beide tot!«

Da war etwas Wahres dran, trotzdem versetzte es Desiderius wieder in Panik, wenn er sich vorstellte, dass Rahff sich noch in aller Ruhe auszog und sich mit einem Seil absicherte, während er sich verzweifelt an einen Stein geklammert hatte.

»Da …«, er deutete aufgeregt ins Wasser, » … war eine Riesenschlange!«

Rahff schüttelte den Kopf, während er tiefe Atemzüge nahm. Seine mächtige Brust dehnte sich zu einer noch breiteren Fläche aus. Verdammt, sein Körper war ein ganzes Land, das dazu lockte, es zu entdecken und zu erobern. Es für sich zu beanspruchen.

»Nein.«

»Doch! Sie hat mich festgehalten!«

»Das waren Algen!«, warf Rahff ein. »Ich habe sie durchgeschnitten. Du hattest Glück, dass sich dein Fuß in ihnen verfangen hat, sonst wärest du verloren gegangen!«

»Aber …« Desiderius blieben die Worte im Halse stecken, Übelkeit erfasste ihn unerwartet wie ein Sommergewitter die Ebenen. Er schwankte bleich.

Verwundert runzelte Rahff die Stirn. Er streckte eine Hand aus und legte sie beruhigend auf Desiderius` Schulter. Obwohl sie beide im selben eiskalten Wasser geschwommen waren, fühlte sich Rahffs Berührung angenehm warm an. »Alles in Ordnung? Du siehst…«

Desiderius übergab sich unversehens direkt auf Rahff. Man musste ihm zu Gute halten, dass er nicht angewidert zurücksprang oder Desiderius gar von sich stieß. Es war ohnehin zu spät, und es dauerte auch nicht lange.

Desiderius schlug sich die Hand vor den Mund, als er sah, dass er ihm direkt in den Schritt gespuckt hatte. Der Gigant schloss tief durchatmend die Augen, als suche er innerer Ruhe.

Zugegebener Maßen war Desiderius gerade einfach nur erleichtert, dass kein Blut in der gelben Galle zu sehen war. Vielleicht stammte seine Übelkeit von der Erschöpfung. Es beruhigte ihn, dass sein Magen nicht blutete.

Er nahm die Hand vom Mund und sah Rahff lachend an. »Puh! Jetzt geht es mir besser!«

Rahff blickte unglücklich an sich hinab, breitete matt die Arme aus.

»Wenigstens nicht auf das weiße Hemd!« Desiderius kratze sich beschämt im Nacken. Als er Rahff auf die Brust sah, fiel ihm die Narbe in dem weiten Ausschnitt auf. Wobei es eher vier Narben waren. Vier wulstige, rotglühende Linien unter dem dicken Brustpelz, die sich über seinen Oberkörper zogen. Das konnten nur die Klauen eines Raubtiers gewesen sein. Eines großen Raubtieres.

»Hervorragend!« Rahff wandte sich ab und ging zurück zum Wasser, dabei öffnete er seine Hose.

Desiderius wandte den Blick ab, ehe er Dinge sah, die er nicht sehen wollte. Oder besser gesagt, nicht sehen sollte, wenn er je wieder einen klaren Gedanken fassen wollte. Die Beule unter der Schnürung war mit Abstand das Vielversprechendste, was ihm je unter die Augen gekommen war. Dabei war das Fleisch darin nicht einmal hart.

Er überschaute das Ufer, Wasser tropfte noch von seinem Gesicht. Vor ihm standen die Pferde, Nebelkralle hing in einem Säckchen an Schnees Sattel, nur sein Köpfchen und die Vordertatzen lugten heraus. Fels hatte es allein über den Fluss geschafft, er blickte Desiderius treudoof entgegen.

Herz des Südens

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