Читать книгу Herz des Südens - Billy Remie - Страница 14
Kapitel 9
Оглавление»Ich verstehe die Moral aus dem Gebirge nicht. Du redest, als gefiele dir das Töten, aber die Diebe hast du nur verprügelt.«
Sie ritten seit fünf Tagen am Fluss entlang, als Desiderius neugierig wurde.
Rahff lächelte ihn an. »Moral wird immer anders ausgelegt. Im Gebirge greifen wir schnell zur Gewalt, das stimmt, aber ich töte nicht jedes Mal, wenn es sich anbietet, nur weil ich es mag, mich überlegen zu fühlen. Gerade da ich ohnehin viele Feinde habe, wollte ich mir nicht Krähenfratzes Rache zuziehen. Aber sei versichert, ich hätte sie für dich getötet, hätten sie mir keine andere Wahl gelassen.« Er schenkte dem Vagabunden einen versonnenen Blick.
Dieser schien dagegen gefeit, er drehte geflissentlich den Kopf in eine andere Richtung. »Hm. Du bist schwer einzuschätzen.«
Rahff wurde melancholisch. »Mein Onkel hat das auch mal zu mir gesagt. Vielleicht ist etwas Wahres daran. Ich handle nach Gefühl, manchmal überkommt mich Wut, dann macht mir das Töten durchaus eine gewisse Freude. Wer triumphiert nicht gern über seinen Feind? Aber in meinen hellen Momenten versuche ich, klüger zu handeln. Ich kann schließlich nicht jeden Mann zum Duell auffordern, der mich verärgert. Ich bin … ich war Lord, ich musste vorausschauend handeln.«
»Aber du würdest gern jeden töten, der dir auf den Fuß tritt.« Dies war eine Feststellung. Der Dieb grinste.
Rahff lachte. »Manchmal geht mein Temperament mit mir durch.«
Nachdenklich starrte Desiderius auf die Zügel seines Pferdes. »Ich glaube, ich verstehe das besser, als du denkst.«
»Ach ja?« Natürlich verstand er ihn, sie waren von Anfang an auf einer Wellenlänge. Dachten, fühlten und handelten gleich. Rahff hatte ebenfalls das Gefühl, dass sie sich ähnlich waren. Auf die eine oder andere Art kämpften sie beide mit ihrem Übermaß an Gefühlen. Rahff versuchte stets, das Richtige zu tun, wie es die Kirche ihn lehrte. Andererseits hatte ihn der aufbrausende Charakter fest in den Händen, der den Menschen aus dem Gebirge eigen war.
Sie lebten rau in den verschneiten Höhen, prügelten sich, statt zu debattieren. Wenn ihn jemand beleidigte, schlug Rahff ohne zu zögern zu. Hinterher kippte er mit dem Mann freundschaftlich mehrere Becher Met. Sie kannten es nicht, Wut in sich hinein zu fressen, sie ließen diese Gefühle heraus. Hinterher lag alles offen und man konnte sich versöhnen. Wenn eine Prügelei entsteht, lachten sie froh und jubelten, vor allem wenn sie selbst beteiligt waren. Rohe Gewalt war ihr Leben, sie definierten sich durch ihre Stärke. Und wenn man zu tiefst gekränkt wurde, forderte man seinen Widersacher zu einem Duell auf Leben und Tod heraus. Auf diese Weise waren stets nur diejenigen beteiligt, die wirklich einen Zwist miteinander begonnen hatten. Doch die Kirche bekam immer mehr Einfluss, und gerade die abergläubigen Menschen im Gebirge waren offen für ihre Worte. Sie fürchteten die Finsternis, weshalb sie die Nächstenliebe ausübten, als sei es ihre Zusicherung für den Eintritt in die Nachwelt.
Nach und nach verlor sich ihre Kultur, da sie der edlen Kirche zu barbarisch schienen. Doch unter der ruhigen Oberfläche der Moral, die jegliche Wut verbot, brodelte der Hass und wurde zu einem Nährboden für Heimtücke, Lügen und Intrigen, da Hass ebenso wie Liebe in der Natur der Menschen lag.
Rahff war nicht tiefgläubig, doch was wäre er für ein Lord, würde er sich seinem Volk nicht anschließen. Sei es nur zum Schein. Jedoch hatte er immer versucht, die alten Sitten zu bewahren, sie lediglich zu erneuern, damit sie sich nicht mit der Moral der Kirche überschnitten.
Gesittet zu leben rang Rahff einiges an Selbstbeherrschung ab. Deshalb mochte er wankelmütig erscheinen. Er mochte gern das Richtige tun und klug handeln, doch Gewalt und Tod waren für ihn keine Sünden. Es gehörte zum Leben dazu. Und sein Vater hatte ihn einst gelehrt, als er noch bei Sinnen gewesen war, dass man nur überleben konnte, wenn man Stärke bewies. Nicht nur körperliche Stärke, auch geistige. Vor allem geistige!
»Wenn ein Räuber dich auf der Straße überfällt, du ihn aber überwältigen kannst, was machst du dann mit ihm?«, fragte Desiderius neugierig. »Sagen wir, er ergibt sich dir. Lässt du ihn dann laufen?«
Rahff erwiderte seinen Blick, er lächelte belustigt. »Nein! Er hat sein Schicksal selbst gewählt.«
»Du tötest ihn, obwohl er die Waffen niederstreckt?«
»Ja.« Rahff zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Er hätte mich nicht angreifen sollen.«
»Und wenn dich ein Edelmann auf einem Bankett zutiefst beleidigt. Tötest du ihn dann auch?«
»Bestimmt nicht vor allen Leuten!« Rahff lachte leise. Er schüttelte den Kopf und sah Desiderius in die Augen. »Ich bin aufbrausend, aber nicht dumm. Die Waffen des Adels sind geschmückte Worte, ich würde versuchen, ihn bloß zu stellen, ihn mit Worten bekämpfen. Aber … hinterher würde ich warten, bis sich eine Gelegenheit ergibt, um ihm das Maul zu stopfen.«
»Und wie?«, fragte der Vagabund äußerst interessiert.
Rahff grinste kalt. »Kommt darauf an. Vielleicht schlag ich ihm ein paar Zähne aus, vielleicht ziehe ich ihm die schicken Hosen über die Ohren. Vielleicht vergewaltige ich ihn, schlage ihn zusammen und lass ihn mit seiner Scham allein zurück. Damit er weiß, wo sein Platz ist. Selbstredend werde ich dabei keine Zeugen hinterlassen, sollte es sich um einen Lord handeln, der beim König Anklage gegen mich erheben könnte. Wobei er wohl kaum je zugeben würde, was ich ihm angetan habe.«
Das schockierte den Dieb dann doch ein wenig. Dabei kam er doch von der Straße!
»Und nachts streichelt er liebevoll sein Kätzchen, als wäre nichts gewesen …«, murmelte Desiderius mit geweiteten Augen. »Markesh war auch so. Demonstrierte Überlegenheit durch Vergewaltigung.«
»Menschen sind Tiere.«
Desiderius sah ihn nachdenklich an. Rahff zuckte wieder gleichgültig mit den Schultern und lächelte dann verschmitzt. »Wir reden hier nicht von einem Verbrechen! Wir reden von Männern, die es auf einen Konflikt anlegen. Wenn du nicht zuerst handelst, machen sie dich zum Opfer. Und bei solchen Angelegenheiten gibt es keine Moral. Merk dir das. Man muss zusehen, wo man selbst bleibt. Letztlich zählt nur das eigene Leben.«
Das brachte den Dieb zum Grübeln. Aber er wirkte keineswegs angewidert oder erschrocken über Rahffs zweifelhafte Ansichten. Vermutlich war er selbst noch auf der Suche nach der Wahrheit, die für ihn richtig war. Er hatte seine eigenen Prinzipien wohl noch nicht gefunden, und wie er über ihr Gespräch ins Grübeln geriet, ließ Rahff wieder leicht schmunzeln.
Desiderius war einfach … ein besonderer Junge. Nicht naiv, aber dennoch unerfahren, auf der Suche nach seinem Weg. Das war erfrischend. Rahff fühlte sich gut dabei, vor ihm mit seinen Erfahrungen zu glänzen.
Manchmal ist es ganz einfach, manchmal kann es von vorneherein nicht kompliziert sein. Dann, wenn man es spürt, es von Beginn an instinktiv weiß.
Sie waren sich vom ersten Blick an sympathisch gewesen, sie mochten sich auf Anhieb. Sie spürten instinktiv, dass sie vom gleichen Schlag waren. Da konnte es nicht kompliziert sein.
Und Desiderius war empfänglich.
Nein, er war mehr als das. Er lebte es, fühlte es ebenso, und war es schon, bevor sie sich getroffen hatten.
Rahff wusste es, er hatte ein Gespür für so etwas. Und er hatte das leichte Funkeln in den jadegrünen Augen entdeckt. Nachts antwortete sein Körper mit einem unstillbaren Durst darauf. Doch hier war nicht der richtige Moment, nicht der richtige Zeitpunkt.
Noch nicht. Er musste sein Ziel im Auge behalten. Alles andere war eine Ablenkung, die er gerade nicht gebrauchen konnte. Sei sie noch so schöner Natur.
Es gab eine Zeit, in der man handeln musste, und eine Zeit für Zuneigung. Gerade war nicht der Moment für letzteres, keine Zeit, um einen jungen Burschen zu verführen, der sich selbst noch nicht gefunden hatte. Er musste Pläne schmieden und handeln.
Obwohl die unberührte Jugend des Vagabunden seinen Willen auf eine harte Probe stellte. Rahff konnte sich wahrlich glücklich schätzen, dass ein blutjunger Bursche wie Desiderius, der die Zeit und die makellose Schönheit auf seiner Seite hatte, einem alten Mann wie ihm sein Interesse zukommen ließ.
Nicht jetzt! Sein Verstand wusste es, doch sein Herz jammerte alltäglich über diese Ungerechtigkeit, war es doch so lange still gewesen.
Was war er doch für ein Glückspilz! Da fiel ihm dieser Bursche geradezu vor die Füße, der ihm offensichtlich vom ersten Moment an sehr zugetan war. Doch er durfte seinem Jagdinstinkt nicht nachgeben. Dabei war die Stille zwischen ihnen von süßen Erwartungen erfüllt. Jeder Blick, jedes Lächeln war eine stumme Einladung, die Rahff sich nicht untersagen konnte.
Noch war Desiderius zurückhaltend, doch er schien alles andere als schüchtern. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er sich dazu verlocken ließ, von dieser Sünde zu kosten. Nur ein bisschen.
Rahff spielte etwas mit dem Vagabunden, das gab er zu. So wie er auch mit seinen eigenen Gefühlen spielte. Und jeder Tag, der verstrich, schien Desiderius einen Moment länger zu grübeln, ehe er den Blick abwandte, als hätte er nichts bemerkt.
Rahff war zerrissen, zwischen Pflichtgefühl und Verlockung.
Jedoch brauchte er Desiderius` Hilfe. Und er wagte nicht, ihm näher als nötig zu kommen, da er sich ausmalte, dass der Bursche danach doch noch das Weite suchte. So unerfahren wie er war, könnten ihm die Avancen eines alten Mannes am Ende doch noch in die Flucht treiben.
Seit einem Tag ritten sie wieder Fluss aufwärts. Das Wasser fraß sich durch eine Senke. Sie ritten oberhalb der Fluten einen breiten, verwilderten Pfad entlang, mitten durch den Wald. Es war dunkel unter dem dichten Blätterdach. Nebelkralle schlief in Rahffs Armen, der Kater bekam nichts von dem Ritt mit. Erde trottete viel beladen und müde hinter Schnee her.
Die Strömung des Flusses hatte etwas nachgelassen. Nicht genug, um vom Reißen in ein sanftes Plätschern zu wechseln, wie es in den kommenden Sommermonaten der Fall sein würde, aber dennoch ruhig genug, damit ihnen das leisere Rauschen nicht entging. Zwei Nächte hatten sie am Fluss gelagert und geplant. Hatten ihre Kenntnisse über die Stadt und die Ebenen ausgetauscht, keiner von ihnen war oft dort gewesen. Sie sprachen darüber, wo die vielbefahrenen Straßen lagen, wo sich gerne Räuber aufhielten, wo Rahffs Onkel Späher und Attentäter am klügsten positioniert haben könnte. Haben geplant und geplant, sich Wege und die rechte Zeit zurechtgelegt. Doch auch wenn ihre Pläne sie beruhigten, ihnen Sicherheit vermittelten, so war es letztlich doch ein Glücksspiel, ob es ihnen gelänge, ohne großen Ärger nach Dargard und in die Stadt hinein zu kommen.
Ob Rahff überhaupt vom König empfangen wurde?
Gewiss, der Bote seiner Majestät hatte es ihm zugesichert! Jetzt hing Rahffs gesamte Zukunft, sein ganzer Erfolg von Desiderius` kriminellen Fähigkeiten ab.
Und über all dem hing der Drang, ihn zu berühren. Sei es nur die Wange, dachte Rahff, als er einen Blick auf den Reiter neben sich warf. Nur die Wange. Vielleicht auch die schmalen aber schön geschwungenen Lippen, er wollte sie mit dem Daumen nachfahren, mit der Zunge ...
Oder diese spitze Nase mit der eigenen reiben. Das schwarze Haar der unantastbaren Schönheit streicheln. Sich auf oder hinter ihn schmiegen, den Duft seiner Haut einatmen…
Er hätte dafür ohne zu zögern seine rechte Hand gegeben. Und den ganzen Arm für deutlich mehr. Einen Kuss? Undenkbar! So wertvoll, dass er sich ein Bein dafür abgehackt hätte.
Läge es in seiner Macht, die Zeit zurückzudrehen, hätte er diesen sündhaft zynischen Mund unter Wasser mit der Zunge erkundet. Doch in jenem Moment war ihm nur Desiderius` Leben wichtig gewesen, erst hinterher, am nächsten Morgen, war er sich bewusst geworden, wie wunderbar nahe diese Geste einem Kuss gekommen war.
Vielleicht sollte er ihn noch einmal in das Wasser schubsen und ihn mit der Luft aus seinen eigenen Lungen beatmen. Er hatte nie etwas Schöneres mit seinem Mund angestellt, nie etwas Klügeres getan.
»Noch fünf Tage in diese Richtung«, sagte Desiderius, dem der verträumte Blick nicht entgangen sein konnte, »dann können wir den Fluss über eine Brücke wieder überqueren.« Er wich geflissentlich Rahffs Lächeln aus. »Nun ja, sofern sie noch existiert. Es ist nur eine morsche, dürre Holzbrücke. Die Flut könnte sie abgerissen haben.«
»Du hast ein Talent«, sagte Rahff amüsiert dazu. Desiderius fuhr verwundert zu ihm herum. »Du sprichst und sprichst, mit kühler Selbstsicherheit, doch ohne das zu sagen, was du eigentlich sagen willst.«
Der Vagabund runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht-«
»…was du meinst«, äffte Rahff ihn nach und lachte anschließend auf. Bei den Worten handelte es sich um Desiderius´ Standartsatz in den letzten Tagen, wenn Rahff sein Lächeln ansprach oder seinen langen, intensiven Blick. Seine Verträumtheit, die ihm besser zu Gesicht stand als jeder Spott, hinter dem er sich gern versteckte.
Als ihm der Gedanke kam, wurde seine Miene eindringlich. »Du solltest dich nicht immer wie ein Narr aufspielen.«
Desiderius blinzelte vollkommen irritiert. »Wie bitte? Das habe ich doch gar-«
»Ich mein ja nur«, unterbrach Rahff ihn mit einem warmen Blick voller Verständnis, »du bist doch gescheit. Zumindest warst du es in den letzten Tagen.«
Der Dieb verengte warnend die Augen.
Rahff ignorierte es, er wurde tadelnd. »Männer werden dich niemals ernst nehmen, wenn du nur spottest und alles lächerlich machst.«
Das brachte Desiderius zum Nachdenken. Er blickte auf Fels dunkelgraue Mähne, die im sanftem Wind federleicht wehte. Sein Geständnis kam gemurmelt: »Manchmal ist es leichter, aus allem einen Scherz zu machen, als sich seine Gefühle einzugestehen.«
»Es zeugt zu sehr von Unsicherheit«, warnte Rahff ihn. »Du willst doch nicht, dass sie das denken.«
Daraufhin herrschte brütendes Schweigen Seiten des Diebes.
Diese Stille war ein überlautes Eingeständnis. Rahff hatte es sich gedacht, er war sich ziemlich sicher gewesen, das Desiderius insgeheim ein unsicherer Junge war. Es überraschte ihn nicht, immerhin führte Desiderius ein einsames Leben ohne Zukunft. Wäre da nicht jeder verunsichert?
Rahff streckte die Hand aus, wollte Desiderius` breite Schulter drücken, fand sich dann jedoch an dessen Arm wieder, über den er beruhigend strich. Die Muskeln darunter waren steinhart, trotz Lederrüstung konnte er ihre Konturen bestens ertasten, und ihre Größe zeugte davon, dass sie noch wachsen würden. Sehr viel sogar. Ein heißes Prickeln fuhr unter seine Haut.
Gequält schloss Desiderius die Augen, schluckte geräuschvoll, als spürte auch er ein Kribbeln. Doch er sagte nichts dazu, wehrte sich nicht.
Leise lachend zog Rahff die Hand zurück und riet ihm: »Sorg dafür, dass deine Feinde dich ernst nehmen.«
Skeptisch sah der Bursche Rahff wieder an.
»Glaub mir, das ist einfacher, als du denkst.«
»Für jemanden, der so groß ist bestimmt!« Desiderius musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Ein eiserner und ungebrochener Wille verunsichern deine Gegner, nicht deine Größe«, hielt er mit einer vor Erfahrung triefenden und absolut überheblichen Stimme dagegen. »Sei kein Narr, sei ein König. Immer, überall, auch ohne Land und ohne Krone, und die Leute werden dir mit Respekt begegnen.«
»Wer bist du, meine Mutter?«, fauchte Desiderius. Er begegnete Ratschlägen stets mit Ablehnung und Wut. Rahff hielt ihn nicht umsonst für äußerst stolz.
»Und außerdem…«, fuhr Desiderius etwas ruhig fort, wandte jedoch den Blick in den Fluss, der neben ihnen entlang rauschte, »…was, wenn sie mir keinen Respekt entgegenbringen? Zeck hätte mich auch geschlagen, hätte ich geschwiegen und ihn grimmig angestarrt. So nahm ich ihm wenigstens die Genugtuung, mich nicht zu brechen.«
»Ertrage Schmerz schweigend, dann kannst du nicht gebrochen werden.« Rahff zuckte mit den Schultern. »Du hast es nicht nötig, dich hinter Spott zu verstecken.« Mit einem frechen Grinsen zwinkerte er Desiderius zu. »Ich meine es nur gut, manchmal mag es ein Vorteil sein, den Feind zu verspotten, doch manchmal ist es schlichtweg klüger, zu schweigen. Mehr will ich gar nicht sagen.«
Nachdenklich starrte der Dieb vor sich hin. »Hm.«
»Schließlich ist es manchmal auch äußerst unklug, einen Gegner noch weiter gegen sich aufzubringen, vor allem wenn man ihm ausgeliefert ist.« Wissend sah Rahff Desiderius an, während er blind die Zügel wieder deutlich anzog, bevor Schnee glaubte, er dürfte gemütlich am Wegrand grasen. »Lass sie deine Gefühle nicht sehen, lass sie glauben, du hättest kein Herz, dann können sie dir auch nicht wehtun, dir weder deinen Stolz, deine Ehre noch dein Gesicht nehmen.«
»Machst du das?«, foppte der Dieb. »Lässt die Leute lediglich glauben, du wärest stärker als alle anderen?«
Rahff lachte arrogant. »Ha! Nein, ich brauche niemanden etwas vorzuspielen, mich sollte man wirklich fürchten.«
Desiderius presste missbilligend die Lippen aufeinander. »Ich bin froh, wenn ich dich los bin«, murmelte er. Doch das Zucken in seinem Mundwinkel strafte seiner Worte Lüge.
»Du musst nicht gehen«, sagte Rahff ernst zu ihm. Er meinte seine Worte absolut ehrlich, denn wenn er erst einmal die Zusicherung des Königs hatte, durfte er für einen Moment durchatmen, weil seine Möglichkeiten auf Rache stiegen. Wenn die Krone Zareth wegen Verrats und Brudermord anklagte, hatte Rahff seine Burg zurück. Dann, in dem Moment, wenn der König Zareth hinrichten ließe, konnte Rahff sich beinahe augenblicklich umdrehen und seinen Sieg über seinen Onkel feiern. Gerne auch im innigen Kuss mit einer schwarzhaarigen, grünäugigen Schönheit, die sein Herz im aller ersten Augenblick erobert hatte. Ein Kuss, nicht mehr, er würde den Göttern dafür sein Herz opfern, wenn ihm Desiderius seines im Gegenzug für die Dauer eines Kusses öffnete. Ach was, er würde Krieg gegen alle Länder und gegen alle Welten führen für einen einzigen, flüchtigen Kuss dieser exotischen Schönheit.
Jedoch erst dann, wenn sein Onkel zur Rechenschaft gezogen wurde.
Wie gesagt, manchmal war es ganz einfach, manchmal konnte es nicht kompliziert sein. Rahff wusste, was er wollte, in dem Moment, als er es erblickt hatte. Und er würde nicht glauben, dass seine unbändige Sehnsucht unerwidert blieb. Er müsste sich schon sehr in dem Dieb täuschen.
So bat er Desiderius schon seit zwei Nächten, ihn doch noch etwas länger zu belgeiten.
»Es wird sich für dich lohnen!«, raunte er ihm mit einem gewinnenden, breiten Lächeln zu, mit dem er schon so einige wankelmütige Herzen zum Schmelzen gebracht hatte.
Doch der Dieb gab sich hinreißend unnahbar.
Desiderius schüttelte mit kritischer Miene den Kopf. »Ich beschreite meinen Weg lieber allein.«
Das war ernüchternd, aber Rahff würde nicht so schnell aufgeben.
Es gab Dinge, auf die sich das Warten lohnte.
*~*~*~*
Die berühmten Ebenen von Nohva trugen ihren Namen nicht umsonst. Genau mittig im Inland gelegen, erstreckten sie sich über ein weites grünes Gebiet, das einem das Gefühl gab, niemals voran zu kommen, ganz gleich wie weit man am Tage lief oder wie scharf man ritt. Eine grüne Wüste.
Hier und dort war ein dunkles Wäldchen aus den saftigen Wiesen gewachsen. Gehöfte sprenkelten die Landschaft, Rauch der Feuer oder aus den Schmiedeöfen schlängelten sich überall dort gen Himmel, wo sich Menschen tummelten.
Viele Wege zogen sich kreuz und quer wie ein filigranes Muster durch goldene Felder und kleine und mittelgroße Siedlungen. Es wirkte ganz und gar wie dem Geist eines Malers entsprungen. Jener Gott, der die Ebenen einst erschuf, hatte ein Gespür für sagenumwobene Landschaften.
Man konnte ewig weit schauen und Zielorte entdecken, die mehrere Tagesreisen in der Ferne lagen. Sogar die Stadtmauern von Dargard, Hauptstadt von Nohva und kulturreichste Stadt des gesamten Königreiches, war als grauer Strich in der Landschaft zu erkennen. Der Turm der großen Kirche im Zentrum des Villenviertels war bereits zu sehen, noch bevor man die Grenze zu den Ländereien der Königsfamilie beschritt.
Wochen waren sie geritten, um hier her zu gelangen, Desiderius hatte ab dem fünfzehnten Tage nicht mehr mitgezählt. Es schien auch nicht mehr wichtig, wie viel Zeit verging. Das Entscheidende war, gesund in den Ebenen anzukommen. Und es war ihnen gelungen, obwohl ein Nachtschattenkatzenrudel sie zwei Tage lange gejagt hatte.
Rahff wollte nicht gegen sie kämpfen, Desiderius konnte es verstehen. Die Fänge dieser angriffslustigen Tiere waren mit Gift gefüllt, das für einen Menschen tödlich sein konnte.
So waren sie geritten, nächtelang, bis sie das Revier des Rudels endlich hinter sich gelassen hatten. Das gruselige Lachen der Tiere hatte er jedoch noch drei Tage danach geglaubt zu hören.
Noch immer hatte er das Gefühl, jemand oder etwas würde sie beobachten. Augen, die neugierig aus dunklen Schatten starrten und sie tagtäglich verfolgten, ob Tag oder Nacht. Doch wann immer er sich umsah, konnte er nichts erkennen. Entweder, ihr anhänglicher Verfolger war äußerst gut darin, sich zu verstecken, oder Desiderius´ wurde allmählich verrückt. Rahff schien seine Sorge nicht zu teilen, er sagte, er spüre nichts. Einzig und allein die Pferde und Nebelkralle drehten sich gelegentlich dann um, wenn auch Desiderius etwas zu spüren glaubte.
Es war gruselig, als wäre ihnen ein Dämon auf den Fersen.
Einmal waren sie auf Räuber gestoßen. Einfache Straßenratten, die nichts mit Markesh zu tun hatten. Rahff hatte den Jungs das Fürchten gelehrt, vermutlich rannten sie noch immer um ihr Leben. Zu dritt hatten sie auf ihn eingehackt, ihn jedoch nicht brechen können. Desiderius war mit einem Angreifer beschäftigt gewesen, hatte den Bogenschützen von Rahff ferngehalten.
Sie waren ein eingespieltes Gespann, er und Rahff, agierten wortlos, verständigten sich mit Blicken, als würden sie sich schon ewig kennen. Zwei Männer vom gleichen Schlag.
Ein seltsames Gefühl, diese Vertrautheit, die Tag um Tag zunahm. Aber es war leicht, sich an jemanden zu gewöhnen, den man Stund um Stund um sich hatte, der ständig redete oder sang, immerzu rüber sah und lächelte. Der »Guten Morgen« wünschte, fragte, wie es einem ging und sich mit dem Schild und der Axt oder dem Langschwert – je nach Gegner – wie eine Mauer vor Desiderius stellte.
Vertrauen ist etwas, das sich langsam aufbaute, doch sein Samen war gesät.
In den letzten Wochen hatten sie nur sich gehabt und mussten lernen, sich aufeinander zu verlassen.
Desiderius hatte sich erschreckend schnell an das gewöhnt, was tagtäglich um ihn herum war. Wildnis, Pferde, Puma – der ihm das Gesicht ableckte, um ihn zu wecken – und Rahff.
Vor allem Rahff, der ihm mutig in den reißenden Fluss nachgesprungen war und ihm das Fuchsblut mit dem Daumen von Kinn gestrichen hatte, um es selbst zu kosten.
Sie lagerten zwei Tagesreisen von der Stadt entfernt in einem kleinen Wäldchen, das ihnen Sichtschutz bot, fernab der Straßen und Wege. Ein abgebranntes Gehöft stand in Blickweite, es war schon lange verlassen, nur Asche und Trümmer wohnten dort. Niemand schien Anspruch auf die umliegenden Felder oder das Wäldchen erhoben zu haben, alles schien recht verwildert.
Ein Bach plätscherte in Lagernähe durch den Wald, bot ihnen sogar einen winzigen Wasserfall.
Desiderius rieb Fels fürsorglich trocken, genoss dessen Fellgeruch. In den letzten Wochen hatte er sich mit dem Tier angefreundet und wollte ihn gar nicht mehr missen. Hin und wieder wurde er noch abgeworfen, vor allem wenn er zu ungeduldig war, die Angst des Hengstes vor Wasser oder wilden Tieren zu berücksichtigen. Aber hinterher sah er unschuldigen Kummer in den braunen Augen und war letztlich nur wütend auf sich selbst.
Nicht, dass er seine Zuneigung zu Fels vor Rahff herauskehrte. Doch der Gigant grinste ohnehin durchweg über ihn, als wisse er alles, was Desiderius vor ihm geheim hielt. Als wäre es ihm möglich, in Desiderius zu lesen wie ein Jäger Spuren vom Waldboden lesen konnte.
Es war beunruhigend, aber einerseits auch aufregend. Rahff schien so erfahren, so klug, so … durchweg anders als jeder, dem Desiderius je begegnet war. Stark und unbeugsam auf der einen Seite, auf der anderen aber ebenso verständnisvoll und sanft. Gnadenlos zu seinen Gegnern, jedoch fürsorglich zu seinen Gefährten – vor allem zu den tierischen.
Die letzten Wochen waren still gewesen. Angenehm still. Zwischen ihnen herrschte ein beidseitiges Schweigen. Gewiss sprachen sie auch mit einander, aber nicht viel, meistens lebten sie still zusammen. Sie schienen keine Worte zu brauchen. Es war ein schönes Schweigen, eine vertraute Ruhe zwischen ihnen. Wie das Verhältnis zwischen Rahff und Nebelkralle. Ein einvernehmliches Verständnis.
Manchmal benötigte es keiner Worte.
Ein Blick hier, ein Nicken dort, schon wechselten sie die Richtung. Ein Lächeln, eine hochgezogene Augenbraue. Ein Fingerzeig. Mehr brauchte es nicht, um zu kommunizieren.
Es war nicht nötig, mit Männern zu reden, die vom gleichen Schlag waren. Männer, die sich auf einer tieferen Ebene besser verstanden als es die eigenen Mütter getan hätten.
Desiderius sprach ohnehin nicht gerne. Manchmal fragte er Rahff aus Neugierde über dessen Leben aus, schwieg aber viel über seine eigene Vergangenheit. Er mochte es nicht, über sich zu reden, Gespräche fielen ihm schwer. Er wollte nichts Falsches tun, nichts Falsches äußern und sich wohlmöglich lächerlich machen.
Rahff akzeptierte das Schweigen, schien es sogar zu genießen. Er bedrängte ihn nie, er nahm es hin, wenn Desiderius gewisse Fragen über seine Vergangenheit nicht beantworten wollte.
»Ein Mann muss selbst wissen, wann und wem er etwas erzählen möchte. Wir kennen uns nicht gut genug, um dir deine Geheimnisse entlocken zu wollen«, hatte Rahff erklärt, als Desiderius eines Tages unsicher fragte, ob er denn nicht wütend auf ihn sei, weil er die Fragen über seinen Vater ausschwieg.
Desiderius hatte nicht lügen wollen, weshalb er jedem Nachhaken darüber mit stummer Miene begegnete. Es war besser, wenn Rahff nicht erfuhr, wer Desiderius` leiblicher Vater war.
»Wenn du es erzählen willst, dann wirst du es schon tun«, meinte Rahff nachsichtig dazu, »ich würde mich freuen, mehr über dich zu erfahren, aber die Vergangenheit ist nicht das, was dich heute ausmacht. Solang du mir dein wahres Gesicht zeigst, akzeptiere ich deine Geheimnisse. Ich meine … wir wollen ja keine Bücher über einander schreiben. Belassen wir es bei Oberflächlichkeiten.«
Manchmal wirkte Rahff so klug und so erfahren, dass Desiderius nicht wusste, ob er sich darüber ärgerte oder ihn bewunderte. Letzteres überwog schlussendlich.
Es gab Nächte, da sprachen sie kein Wort, während sie das Essen einnahmen. Aber sie sahen sich an, immer wieder, wie magisch angezogen. Desiderius nickte dann knapp, Rahff lächelte verschmitzt.
Gespräche ohne jegliche Worte. Desiderius liebte es. Zweisamkeit ohne Erwartungen. Es war schlichtweg eine stille Akzeptanz, die sie einander schenkten. Wie die Blumen, die auf dem Baum wuchsen und sich von ihm nährten.
Seltsamerweise hatte Desiderius immer angenommen, allein würde er besser zurechtkommen. Vielleicht war dem wirklich so, doch er wagte allmählich zu glauben, dass ihm der Gigant ein wenig fehlen würde. Zumindest sein Lächeln, sein »Guten Morgen«, sein Gesang.
Vor allem sein Gesang und die bewegenden Lieder aus seiner Heimat, die von Rache, Liebe oder Brüderlichkeit erzählten.
Brüderlichkeit? Desiderius hatte davon gehört, es aber nie für jemanden empfunden. Als er Rahff einmal nach den Männern fragte, die ihn verrieten, gebrauchte er dieses Wort.
»Sie waren wie meine Brüder, meine Seele! Natürlich schmerzt mich ihr Verlust. Doch sie haben eine Entscheidung getroffen. Ich bedaure ihren Tod nicht, ich bedaure nur, dass ich es nicht kommen sah.«
Das ist es, was Desiderius anfing an Rahff so sehr zu mögen. Dass er aus einer völlig anderen Welt stammte. Eine Welt, die ihm vielleicht nicht verschlossen worden wäre, wäre er kein Bastard. Das, und die Tatsache, dass Rahff ein echter Mann war. Kein Halsabschneider, kein Feigling. Ein wahrer Krieger, mutig und erfahren. Jemand, zu dem man leicht aufblicken konnte.
Brüder … das hätte ihm gefallen. Nichtblutsverwandte Gefährten, die ihm das gaben, was er nie gehabt hatte. Eine Familie, Schutz, Zugehörigkeit. Dinge, die er nicht zugeben würde, sie zu brauchen, die er jedoch denjenigen neidisch missgönnte, die sie besaßen.
Waren er und Rahff Brüder? Er hatte diese Frage gestellt, unschuldig wie ein Kind. Er hasste sich für diese Unsicherheit. Doch Rahff hatte wie immer nachsichtig gelächelt.
»Nein«, war jedoch seine Antwort gewesen, »wir beide könnten nie Brüder sein.«
Zwar hatten Rahffs Augen dabei warm gefunkelt, doch Desiderius verstand nicht, warum. Er spürte nur Enttäuschung seit jenem Abend. Rahff würde sicher niemals einen Dieb seinen Bruder nennen.
Seitdem erdrückte ihn das Schweigen, doch er ließ es sich nicht anmerken.
Er wollte fragen: »Darf ich dich wirklich besuchen, wenn all das vorbei ist?« Doch er wagte es nicht. Sie kannten sich doch im Grunde gar nicht.
Doch j näher sie der Stadt kamen, je drängender wurde diese Frage. Oder besser gesagt, drängte es ihn nach einer Antwort darauf. Jedoch fürchtete er sich davor, sich bloß zu stellen.
Er kam sich wie ein Narr vor. Ein naiver Narr, der es besser wissen müsste, sich aber trotzdem Hoffnung machte.
Ob Rahff sein Versprechen halten und ihn einladen würde?
Desiderius glaubte nicht daran, er nahm von Menschen zunächst einmal immer nur das Schlechteste an.
Er schüttelte die schlechten Gedanken ab, da er nicht in Selbstmitleid baden wollte. Immerhin war er stets allein zurechtgekommen, es würde ihm auch nach der Begegnung mit Rahff gut gehen. Doch die Erinnerung an den Giganten würde ihn begleiten. Zumindest sein Gesang. Auch wenn ihre Kameradschaft noch so flüchtig gewesen war. Es gab Menschen, die gingen einem vom ersten Moment an unter die Haut. So war es mit Rahff.
Desiderius klopfte seinem Grauen auf den kräftigen Hals. »Lass es dir schmecken«, sagte er lobend, »du hast es dir verdient.«
Er hatte den Pferden hohe Gräser gepflückt. Die Hengste hielten sich nicht zurück, sich die Bäuche vollzuschlagen. Schnee stakste frei durch die Bäume, blieb wie gewohnt in der Nähe.
Das Lager war verlassen, als Desiderius sich zum Feuer umdrehte. Verwundert blickte er sich um. Der Wald war ein Gemisch aus Laub- und Tannenbäumen. Dort, wo sie lagerten, übersäten braune Nadeln den Boden. Der Untergrund war weich, es gab kaum Gestein, ein idealer Ort, um zu schlafen. Doch Tannen hatten den Ruf, eine düstere Grundstimmung zu schaffen, und diesem wurden sie auch gerecht. Es war finster um sie herum, die Sonne drang nicht durch die Äste der Bäume, der Waldboden war braun, das Gestrüpp erschien knochig und kahl. Keine immergrünen Büsche, keine ausladenden, majestätischen Baumkronen.
Etwas Raschelte hinter Desiderius im Unterholz. Er fuhr herum, doch es war nur Nebelkralle, der einer Maus nachjagte. Der Nager entwischte den kleinen Tatzen.
Als der Puma bemerkte, dass er beobachtet wurde, setzte er sich auf seinen Hintern und reckte stolz das Kinn, eines Löwen gleich. Es schien, als hätte er die Maus entkommen lassen. Aus reiner Hochnäsigkeit.
»Wo ist der alte Mann?«, fragte Desiderius.
Der Kater antwortete nicht, leckte mit rauer Zunge genüsslich den Rücken seiner Tatze, als habe er ihn nicht gehört.
Desiderius kam sich dämlich vor. So weit war es also schon mit ihm. Er sprach mit Tieren! Es wurde höchste Zeit, von Rahff los zu kommen.
Warum fiel es ihm so schwer, sich vorzustellen, ohne ihn weiter zu ziehen?
Und wo sollte er überhaupt hin gehen? Er war noch immer auf der Flucht vor Markesh und Zeck. Die Vorstellung, bald wieder allein für seine Sicherheit verantwortlich sein zu müssen, behagte ihm nicht. In den letzten Tagen hatte er sich zu sehr auf Rahff verlassen, er war faul geworden.
Vielleicht war es besser, dass sich ihre Wege bald trennen würden. Ganz gewiss sogar. Bevor sich diese bereits aufgekommene Vertrautheit noch verstärkte.
Es war schließlich immer ein Nachteil, wenn man sich auf andere verlassen musste.
Desiderius ging hinunter zum Bach. Der einzige Ort, an dem er Rahff vermutete. Nebelkralle folgte ihm. Ein schmaler Pfad führte von der geraden Fläche ihres Lagers einen Hang hinab. Die Baumstämme wuchsen hier schief aus dem Boden, um gerade gen Himmel zu wachsen. Keine Rinde glich der andern, die Bäume standen weit auseinander, trotzdem ließen sie die Abendsonne nicht durch.
Tapsig sprang Nebelkralle jedem Rascheln hinterher, scheuchte Vögel auf und verjagte Igel. Er schien nicht hungrig, die Jagd machte ihm lediglich Freude. Er duckte sich gern tief auf den Boden, lauerte jedem Schatten auf und sprang unerwartet alles an, was sich bewegte. Manchmal blieb er stehen und hob eine Tatze, bewegte sich kein Stück, wie zu einer Statue erstarrt. Irgendwann würde er ein guter Jäger werden, dessen war Desiderius sich sicher. Und wäre das Tier nicht Rahffs Gefährte, hätte er sich vor diesem Tag gefürchtet.
Nicht, dass er dann noch bei ihnen wäre.
Der Gedanke machte den Wald noch düsterer. Desiderius beeilte sich, zum Bach zu gelangen.
Er war nicht weit, nur den Hang hinab, hinter dichtem Unterholz. Der Wasserfall plätscherte laut auf dunkelgraues Gestein. Jemand summte.
Lächelnd kämpfte Desiderius sich durch das braune Gestrüpp, kleine Äste, Dornen und Nadeln verfingen sich in seinem Haar und seiner Rüstung. Er kam direkt am Wasserfall heraus.
Er war nicht sehr hoch, auch der Bach war weder tief noch eine reißende Flut, doch es genügte, um sich darunter zu waschen, so gut man sich ohne Seifen eben waschen konnte.
Nicht, dass Desiderius häufig Seife zur Hand hatte.
Stiefel lagen am Flussufer, hastig ausgezogen, der Schild lehnte an einem Stein, die Axt und das Langschwert daneben. Eine Hose lag auf dem Boden, Umhang, Harnisch und Unterwäsche ebenso.
Rahff stand unter dem kristallklaren Wasser. Vollkommen nackt. Wegen der Feuchtigkeit glänzten seine schönen Muskelberge, sie spiegelten in der Abendsonne, die durch die Bäume fiel. Die Haut wirkte glatt wie Seide. Schwer und strähnig fielen seine dunklen Locken auf seinen gebräunten Nacken. Das Wasser floss in klaren Linien über seinen kräftigen, langen Rücken, der zur Hüfte hin deutlich schmäler wurde. Das Becken wäre leicht von hinten zu umfassen, leicht zwischen den Beinen aufzunehmen. Seine Wirbelsäule beschrieb eine sanfte Wölbung, und sein Gesäß besaß zwei perfekte Halbkugeln, die äußerst stramm wirkten. Eine wunderbare Stelle, um sanft hinein zu beißen.
Der Gigant war eine lebensechte Statue des Kriegsgottes Tahnn, der für seine rohe Schönheit und göttliche Lust überall bekannt war. Rahff machte ihm deutlich Konkurrenz.
Desiderius erinnerte der Anblick an einen Traum, den er in letzter Zeit häufig träumte. Tagsüber. Ganz bewusst im wachen Zustand. Rahff, wie er nackt im See steht, sich wäscht, und wie er, Desiderius, zu ihm geht und sich an seinen breiten Rücken schmiegt, wie er ihm die Schultern küsst.
Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er den drängenden Wunsch, einen Mann wahrhaftig zu berühren, nicht nur dessen Anblick zu genießen. Nein, er wollte wissen, wie sich Rahffs Haut anfühlte. Seiden oder samtig? Wollte wissen, wie sein Nacken und sein Haar rochen. Sehnte sich danach, jede Kuhle, jede Rille, jeden Zoll seines Körpers mit den Lippen zu erkunden. Er wollte herausfinden, wie Rahff schmeckte.
Nebelkralle strich an Desiderius` Beinen entlang und lenkte ihn kurzweilig von Rahffs nackter Rückansicht ab. Der Kater blickte mit großen Glubschaugen schnurrend und erwartungsvoll zu ihm auf. Seufzend ging Desiderius in die Hocke und hielt seine Hand dem Puma entgegen. Das kleine Köpfchen rieb sich daran, sodass Nebelkralle sich selbst streicheln konnte.
Desiderius blickte wieder auf. Rahff hatte ihn mittlerweile bemerkt und schaute schweigend zu ihm herüber. Er wusch sich die Achseln mit groben Bewegungen.
Sie sagten nichts, brauchten keine Worte.
Rahffs Augen wurden warm, sein Mund lächelte sanft. Er drehte sich jedoch nicht um, ließ den Wasserfall seinen Schritt verhüllen.
Desiderius senkte den Blick, streichelte über die runden Öhrchen des Katers. Er schnaubte amüsiert, als er sich an einen Abend vor einigen Wochen erinnerte. Sie hatten eine kurze Rast eingelegt, um die Pferde am Fluss trinken zu lassen und um sich selbst zu erleichtern. Als Desiderius an einem Baum stand und stöhnend seine volle Blase lehrte, trat Rahff einfach neben ihn und fragte ihn über die Rute aus.
»Vielleicht sollten wir ein Stück nach Osten in den Wald hinein, um dort zu lagern«, so etwas in der Art hatte er gesagt und sich grübelnd am dunklen Bart gekratzt.
Desiderius hatte ihn schockiert angefaucht: »Kannst du dich bitte abwenden?«
Rahff war sich keiner Schuld bewusst gewesen, er hatte ihm gelassen in die Augen gesehen. Eine Ruhe an den Tag legend, die Desiderius an ihm oftmals ärgerte und gleichzeitig bewunderte.
»Weshalb?«, hatte er wissen wollen. »Da ist nichts, was ich nicht auch habe.« Doch er hatte gestockt, sein Blick war nach unten gezuckt. Desiderius hatte die Hände vor seinem Schritt überschlagen. »Na ja…«, Rahff hatte breit gegrinst, »wenn man es genau betrachtet, hab ich sogar deutlich mehr.«
Desiderius war alle Farbe aus dem Gesicht gewichen, alle Scham war vergessen. »Was meinst du damit?«, hatte er mit trockenem Mund gefragt.
»Nichts.« Rahff hatte sich winkend abgewandt. »Schon gut. Lass uns aufbrechen.«
»Nein. Rahff!« Stolpernd war er dem Giganten nachgeeilt, während er sich im Laufen die Hose zugeschnürt hatte. »Was meinst du damit, du hättest mehr?«
Rahff hatte lachend den Kopf in den Nacken gelegt und war einfach weiter gegangen.
Desiderius hatte nie Gelegenheit gehabt, Rahffs Behauptung zu überprüfen. Natürlich nagte es an ihm, dass er … weniger haben sollte. Jedoch reizte es ihn auch auf gänzlich andere Art, mal einen Blick in Rahffs Schritt zu werfen. Doch der Gigant hütete sein Geschlecht als wäre es aus Gold.
»Ich werde die Stadt auskundschaften, bevor ich dich mit hineinnehme«, sagte er nun zu Rahff, der nackt unter dem Wasserfall stand. Es war längst Gewohnheit geworden, dass sie keine Geheimnisse vor einander hatten. Um zu überleben, mussten sie sich sehr nahe sein.
Rahff nickte nachdenklich. »Ist gut.« Dann schlug er ganz unverwandt vor: »Komm doch her.«
In sich hinein grinsend schüttelte Desiderius den Kopf. Er schielte von unten herauf zu Rahff, ihre Blicke begegneten sich glühend.
»Komm her!« Rahff nickte ihn befehlend zu sich. »Ich will dir etwas zeigen.«
»Was denn?« Neugierig stand Desiderius auf, ging zögernd zum felsigen Bachufer.
Rahff streckte die Hand aus. Es war nicht das erste Mal, dass er sie Desiderius reichte, und es wäre nicht das erste Mal, dass Desiderius seine Finger hineinlegte, obwohl er in solchen Fällen immer das Handgelenk des anderen Mannes packte. Jedoch nicht bei Rahff, oh nein, er wollte, dass sich ihre Finger berührten, und der Gigant schien es zu begrüßen, streichelte stets mit dem Daumen flüchtig über Desiderius` Knöchel. Eine Berührung, die brannte, obwohl sie so beiläufig, so selbstverständlich schien. Rahff war ein Meister darin, alles mit einem übergroßen Selbstbewusstsein zu tun, dass es an Selbstverständlichkeit grenzte. Als wäre es vollkommen normal, wenn er Desiderius` Hand streichelte.
Desiderius schlenderte am Ufer entlang, löste schief grinsend die Riemen seines Harnischs und genoss dabei Rahffs wartenden Blick auf sich. Er warf seinen Dolch zu Boden, streifte Stiefel und Hose ab, zog das weite Hemd über den Kopf, behielt jedoch die lange Unterhose an. Sich nackt zu zeigen … das wäre ihm nicht in den Sinn gekommen.
Nebelkralle verschwand im Gestrüpp, es raschelte laut hinter Desiderius. Doch er wandte sich nicht um, steuerte gezielt den Bach an, angezogen von magisch schimmernden, honigbraunen Augen. Er ging auf Zehenspitzen, da die Felsen eiskalt vom Schmelzwasser und gefährlich scharfkantig waren. Schwankend balancierte er von einem zum nächsten glitschigen Stein, wie eine Katze, die das Wasser fürchtete.
Rahff grinste immer breiter, je näher er ihm kam.
Schließlich legte Desiderius seine Handfläche auf Rahffs, dessen Finger schlossen sich umgehend darum. Der Gigant ließ ihre Hände herabfallen, und wie erwartet streichelte sein Daumen einmal flüchtig über die Knöchel. Desiderius` Herz machte einen freudigen Satz.
Manchmal brauchte es nicht mehr, um glücklich zu sein. Eine einzige, flüchtige Berührung am Tage vermochte es, ihn zum Lächeln zu bringen.
Er kam sich dumm vor, konnte sich vor diesen Gefühlen aber nicht verschließen. Sie waren zu schön, zu zärtlich, um sie sich zu verbieten. Leichtigkeit erfüllte ihn, als Rahff ihn sanft unter den Wasserfall zog.
Mit geschlossenen Augen ging er durch den Wasservorhang, woraufhin sein Zopf plattgedrückt wurde. Er strich sich die Tropfen aus den Augen, ehe er die Lider wieder öffnete. Eine dunkle Höhle erstreckte sich hinter dem Wasserfall, und er starrte in ihren dunklen, feuchten Schlund. Das Plätschern des Baches klang hier drinnen seltsam hallend, als wäre die Welt draußen abgeschnitten von diesem Ort. Die schwarzen Felswände glänzten wie Schlick, Algen und Kaltwassermuscheln hatten sich daran festgesetzt.
Rahff dunkles Haar fiel um sein Gesicht, als seine Lippen flüchtig Desiderius` nackte Schulter streiften. Die Berührung war nur ein Hauch gewesen, nicht mehr als ein Federstreich, und doch ließ sie Desiderius schaudern. Er drehte den Kopf zu Rahff herum, wollte es sich verbieten, hinab zu blicken, doch seine Augen machten sich selbstständig. Im Halbdunkel war nicht viel zu erkennen, nur das deutlich buschige Nest über einem langen Schatten.
Verdammt, er hatte nicht gelogen!
Als wäre nichts gewesen, ging Rahff voran und zog Desiderius an der Hand ein Stück tiefer in die dunkle Höhle. Schwach fiel das Abendlicht durch den Wasserfall herein, in ihren Gesichtern lagen dunkle Schatten, lediglich ihre Augen schienen zu leuchten.
Plötzlich kam Desiderius sich eingesperrt vor, das Gefühl machte ihm sogar die Brust eng.
Was wollten sie hier? Warum führte Rahff ihn hier herein, in dieses dunkle, nasse Versteck, abgeschnitten von der Außenwelt, als wären sie durch Zeit und Raum an einen Ort gekommen, an dem es keine Gesetze gab.
»Die können wir heute kochen«, sagte Rahff, als er eine geschlossene Muschel von der Wand pflückte. Sie lebten eng zusammen in einem Strauß, wie dichtes Moos. Die Größten konnte man leicht mit einer Hand umschließen. Sie waren oval geformt, ähnlich wie ein Ei, jedoch flachgedrückt. Ihre harte Schale besaß ein schimmerndes Schwarz, das von elfenbeinfarbenen Halbkreisen durchzogen wurde.
»Wir haben keinen Topf.« Desiderius wollte seine Hand lösen, doch Rahff verstärkte seinen Griff, ließ ihn nicht entkommen.
»Wir werfen sie mit der Schale in die Glut.« Rahff zwinkerte ihm grinsend zu. »Dann knacken wir sie, wenn sie durch sind.«
Desiderius konnte sich nicht auf das Gespräch über ihr Abendmahl fixieren, zu sehr lenkte ihn Rahffs halbdunkles Gesicht ab. Die vollen, weichen Lippen im dunklen Bart, das breite Nasenbein, seine kantigen Züge, die männlicher waren als alles, was er je erblickt hatte. Männlich und stolz.
Überdeutlich spürte er die Berührung ihrer Hände. Die Brust wurde ihm deutlich enger, vor unerfüllter Sehnsucht, keineswegs vor Furcht.
Doch was geschähe, würden seine Träume wahr werden? Er hatte sich in seiner Fantasie nicht derart gehemmt gefühlt. Sogar seine Knie schienen weich zu werden, während die Erwartung in dem Raum zwischen ihnen knisterte wie die Luft kurz bevor ein Gewitter losdonnerte.
Rahffs Blick wurde ernst, er ließ die Muschel ungeachtet aus seiner freien Hand fallen. Desiderius schloss die Augen, als der Gigant ihre Finger miteinander verflocht. Er zog Desiderius näher, der sich blind führen ließ, in Erwartung einer sanften Berührung auf seinen Lippen.
»Wenn du morgen in aller Frühe aufbrichst und scharf reitest, kannst du vor mir in Dargard eintreffen und die Stadt bereits auskundschaften.« Die neutralen Worte, die so unpassend in den knisternden Moment gedrängt wurden, zerschlugen den Tagtraum.
Desiderius öffnete die Lider, Rahff stand noch mit der Muschel in der Hand vor ihm, hatte sich kein Stück bewegt. Die ganze Szenerie war lediglich eine Träumerei gewesen. Enttäuschung machte sich breit und steigerte sich in Wut.
Rahff sah ihn an und sprach unbeirrt weiter, bemerkte er doch nicht im Geringsten, mit welcher Sehnsucht Desiderius seinetwegen zu kämpfen hatte. »Ich habe gehört, das Wechselfest wird gerade gefeiert. Viele Fremde pilgern in die Stadt, um das Ende des Frühlings zu feiern. Das sollte uns eine geeignete Gelegenheit bieten, uns unter die Menge zu mischen. Oder nicht?«
Oder nicht? Als ob es nur darum ginge, zum König zu gelangen!
Tatsächlich, es ging wirklich nur um diese eine Sache. Deshalb waren sie zusammen, deshalb waren sie hier. Aber hielt Rahff auch deshalb Desiderius` Hand? Warum führte er ihn in diese dunkle Höhle? Um ihm die Muscheln zu zeigen und über Pläne zu reden?
Wütend schüttelte Desiderius Rahffs Hand ab. Der Gigant schaute ihn verwundert an, während ihm die nassen Strähnen das malerisch schöne Gesicht einrahmten.
»Was ist?«, fragte Rahff, als er Desiderius harten Blick bemerkte.
Er sollte also allein weiter reiten, ja? Ihre letzten gemeinsamen Tage allein verbringen, damit der feine Lord Rahff nicht warten musste, bis er eintraf. Dabei hatte Desiderius sich mit dem Gedanken getröstet, dass ihnen noch einige Nächte blieben. Trotzig verschränkte er die Arme, wollte dabei seinen Ärger in sich einschließen, doch sein Gesicht sprach Bände.
Rahff ließ die massigen Schultern hängen und streckte seine Hand aus. Mit zwei Fingern nahm er Desiderius` spitzes Kinn in einen sanften Griff, doch dieser zog den Kopf ruckartig zur Seite, also legte der Gigant seine Pranke in Desiderius` Nacken. Die Hand war stark und ihr Klammern schmerzhaft. Desiderius wollte sich entwinden, doch Rahff zog ihn mühelos an sich heran. Er beugte sich zu ihm hinab, sein Gesicht war hart.
»Nicht hier, nicht jetzt«, flüsterte er rau. Er war so nahe, dass Desiderius seinen warmen Atem auf den Lippen schmecken konnte. Süß und fruchtig. »Das ist weder der richtige Ort, noch der rechte Zeitpunkt. Ich muss das Ziel im Auge behalten und darf mir keine Ablenkungen leisten.«
Das Problem, wenn man sich ohne Worte verstand, waren die Dinge, die man nicht verheimlichen konnte. Rahff wusste alles, einfach alles, als könnte er Gedanken lesen. Und da er es nun ansprach, kroch schließlich doch noch Panik in Desiderius hoch. Er fühlte sich entblößt, geradezu nackt, obwohl Rahff derjenige war, dessen Geschlecht die frische Luft genoss.
Rahff schüttelte bedauernd den Kopf, senkte die Stimme um eine weitere Oktave. »Nicht jetzt, Desi.« Es klang nach einer ernstgemeinten Entschuldigung. Als bedauere er diesen Umstand.
Desiderius stiegen Tränen in die Augen. Wuttränen. Tränen der Enttäuschung. Er wusste gar nicht, was er erwartet hatte. Alles, aber nicht das. Nähe, Zuneigung. Ein Kuss vielleicht. Das Stillen einer Sehnsucht, ganz gleich wie unwirklich die Berührung auch scheinen mochte. Nur noch einmal Rahffs Lippen spüren, die seine Schulter streiften … Es hätte ihm doch genügt, ihn durch eine weitere lange Nacht gebracht. Aber Rahff verstand ihn gänzlich falsch.
»Desi …« Rahff richtete sich zu voller Größe auf, drängte ihn mit seiner breiten, nassspiegelnden Brust an die Wand. Das Bedauern in seiner Stimme war unerträglich.
Desiderius entschlüpfte ihm, wie ein Aal den Tatzen eines Bären.
»Desi!« Dieses Mal war es ein Befehl.
Darauf hörte Desiderius nicht, er hatte schließlich noch nie gerne Befehle befolgt. Er ging durch den Wasserfall, seine Schritte waren eilig, sodass er auf den nassen Steinen im Bach beinahe ausgerutscht wäre.
Er folgte dem Wasserverlauf Strömung abwärts, sprang von einem zum nächsten Stein. Rahff eilte ihm nicht nach, dafür verfolgte ihn Nebelkralle. Der kleine Puma schloss sich ihm an, wählte die Steine, die auch er wählte, sprang von einem zum nächsten, und sah dabei um einiges eleganter aus als Desiderius.
Desiderius bekam das Gefühl nicht los, dass Rahff seinen tierischen Gefährten hinter ihm herschickte, doch er brachte es nicht übers Herz, den Kater wegzuscheuchen, da er eigentlich in diesem Moment nicht allein sein wollte.
Ein Baumstamm lag umgestoßen von einem längst vergangenen Sturm über dem Bachbett. Desiderius erklomm das Ufer und kletterte auf die umgestürzte Tanne.
Nachdenklich ließ er die Beine in der Luft baumeln und blickte den Bach hinunter. Das Wasser wurde immer dünner, nicht mehr als ein Rinnsal in der Landschaft.
Seine Augen brannten und er schniefte leise. Alles in seinem Inneren krampfte, während er eisern versuchte, jede Träne zurückzuhalten.
Nicht hier, nicht jetzt.
Er wusste es. Natürlich wusste er es. Aber es war etwas anderes, dieses Wissen still hinzunehmen und es dann doch auszusprechen. Letzteres machte aus den stummen Gefühlen etwas Wahrhaftiges. Unleugbares. Als wäre der süße Traum in bittere Gegenwart umgeschlagen.
Nein, er wollte nicht, dass Rahff es ansprach. Worte nahmen dem Gefühl seine Leichtigkeit, stahlen dem süßen Sehnen die Schönheit, und machten es stattdessen zu dem, was es in Wahrheit war. Ein verbotenes Begehren. Nur einen Grund mehr, den seine Familie hätte, ihn Schande zu schimpfen und aufzuknüpfen.
Er hasste es, Dingen einen Namen zu geben, das verlieh ihnen Macht über ihn. Es war schöner, sich einfach treiben zu lassen, nicht wahr zu nehmen, ob es Traum oder Wirklichkeit war, wenn geschah, was geschehen musste.
Nebelkralle gelang es endlich, ebenfalls auf den Stamm zu klettern. Er tapste eilig auf Desiderius zu, als habe er Angst, ihn zu verlieren. Desiderius verstand ihn sehr gut in diesem Moment. Der Kleine rutschte aus, krallte sich panisch an die Rinde, doch sein Gewicht zog ihn nach unten.
Desiderius packte ihn im Nackenfell und setzte ihn auf seinen Schoß. Sanft ließ er die Fingerspitzen durch den dicken Pelz gleiten, malte die langsam erbleichenden Punkte auf dem sandigen Grund nach.
Manchmal wünschte er, Rahff würde ihn so berühren, wie er den Kater berührte. Dass Desiderius sich abends am Lagerfeuer vor ihm ausstrecken konnte, oder auf ihm, und dass Rahffs große Hand sanft seinen Rücken vom Nacken bis zum Gesäß streichelte.
Nicht hier, nicht jetzt.
Wann dann? Wenn er ihn besuchen durfte? Wann sollte das sein?
Warum hatte er Rahff nicht gefragt?
Weil er sich fürchtete, deshalb. Weil Rahff ihn eine Ablenkung nannte. Mehr war er nicht für ihn, würde nie mehr sein. Eine Ablenkung.
Warum bin ich dann hier?
Weil er dich braucht, sagte seine Skepsis, deine Fähigkeiten nötig hat. Weil er … dich ausnutzt, so wie es jeder tut.
Nein, schrie seine Hoffnung, Rahff ist anders.
Desiderius schloss die Augen und vertrieb die streitenden Stimmen aus seinem Kopf. Er beugte sich vor, schloss die Arme um Nebelkralle und drückte ihn fest. Der Kleine wehrte sich zunächst, aber als sein Pelz Desiderius` Tränen auffing, hielt er still.
*~*~*~*
Als Desiderius eine Weile später mit Nebelkralle auf dem Arm zum Lagerort zurückkehrte, war Rahff nirgends zu sehen. Ob er noch am Wasserfall war? Vielleicht sammelte er Muscheln.
Fels sah Desiderius an und begrüßte ihn mit einem vorwurfsvollen Schnauben, zwischen den Bäumen stand Schnee und warf wild den Kopf rauf und runter, als wollte er seinem Freund Recht geben.
Seufzend setzte Desiderius den Puma ab und kümmerte sich dann unter den strengen Blicken der Pferde um das Feuer. Er wusste gar nicht, warum er sich von ihnen getadelt fühlte. Sie waren doch nur dumme Tiere!
Der Gedanke schmerzte selbst ihn und er war froh, dass er ihn nicht laut ausgesprochen hatte. Er tat diesen sanften Riesen unrecht, schließlich trugen sie keine Schuld an seinem Leid.
Das Gefühl, dass selbst die Pferde ihn mit argwöhnischen Augen betrachteten, verdankte er seinem schlechten Gewissen. Er glaubte, sie könnten es ihm anmerken, dass er Rahff im Stich lassen wollte. Als er dort über dem Bach auf dem Baumstamm gesessen hatte, war er drauf und dran gewesen, zu verschwinden. Ohne ein Wort. Wie er auch vor Markesh davongelaufen war, mitten in der Nacht, ohne Vorräte, nur die Ketten als Rücklage im Gepäck, und die Kleider, die er am Leibe trug.
Doch er hatte Nebelkralle zurückbringen müssen, und auf dem Weg zum Lager hatte er sich besonnen. Rahff würde wissen, wie peinlich ihm die Situation in der Höhle war, wenn er klamm heimlich vor ihm flüchtete. Außerdem wollte er nicht, dass der Gigant ihn für einen Feigling hielt.
Ihm gefiel der Gedanke nicht, jemand zu sein, der einen anderen im Stich ließ, vor allem da dieser andere sich auf ihn verließ. Desiderius wollte zu einem Mann werden, dem andere vertrauten. Vielleicht aus dem Grund, weil sein eigenes Vertrauen stets ausgenutzt wurde.
Knisternd fraß die Glut sich an den trockenen Ästen satt, die Desiderius aufgelegt hatte, bevor das Feuer erlosch. Kleine Flammen leckten an dem Holz, als das Lagerfeuer neu entfachte.
Er ließ es wieder abbrennen, weil er in der Dämmerung nicht zu viel Licht verursachen wollte.
Es war still, kein Mensch war in der Nähe, die Tiere hielten sich meist fern, vertrieben vom strengen Geruch der kleinen Raubkatze, selbst die Vögel schwiegen so spät am Abend.
Dieser Wald war ihm unheimlich, auch wenn er die Tannen für ihre immergrünen Äste bewunderte, sehnte er sich nach moosbewachsenem, fruchtbarem Waldboden.
Immerhin war es weich, als er sich hinlegte. Nebelkralle sprang auf ihn, der einzige Freund, der ihm letztlich wirklich nahekam. Desiderius schob einen Arm unter den Kopf, kraulte den Kater, der sich auf seiner Brust ausstreckte, und blickte grübelnd gen Himmel.
Ich kann mir keine Ablenkung leisten! Mit anderen Worten: Mach einfach das, wofür ich dich mitnehme, und erwarte nichts.
So viel dazu, sie wären ein eingespieltes Gespann. Rahff benutzte ihn doch nur.
Aber er hat dir selbstlos das Leben gerettet, erinnerte ihn sein Herz.
Als die Nacht beinahe schon ihren finsteren Mantel über das Land legte, bequemte sich der Herr Silberlöwe zurück ins Lager. Desiderius beachtete ihn nicht, beobachtete ihn jedoch aus den Augenwinkeln.
Rahff ging barfuß, seine Füße trotzten den spitzen Nadeln auf dem Boden, er trug seine langen Unterhosen, aber kein Hemd. Er stellte seinen Schild und seine Waffen an einen Baum, legte seine Rüstung dazu. Seinen Umhang hatte er zum Sack umfunktioniert, den er nun über der Glut ausgoss.
Es zischte laut, als die feuchten Muscheln in das Feuer fielen. Rahff blickte Desiderius an, ihre Augen trafen sich, aber keiner sagte ein Wort. Rahff schüttelte verstimmt den Kopf.
Welchen Grund er hatte, sich über Desiderius zu ärgern, konnte sich dieser nicht erklären.
Rahff ging in die Hocke und nahm einen Ast zur Hilfe, um die Muscheln in der Glut zu drehen.
Als er anfing zu Essen, fragte er nicht, ob Desiderius Hunger hatte, er aß einfach drauf los. Wie könnte es auch anders sein, ganz gleich welche Sorgen ihn plagten, Rahff war immer hungrig.
Während der Gigant schmatzte, drehte Desiderius sich auf die Seite, mit dem Gesicht zur Glut. Nebelkralle, der auf ihm geschlafen hatte, rutschte von seiner Brust neben ihn auf die Decken. Er öffnete die müden Augen, schaute verärgert drein, roch jedoch die Muscheln und blickte sich nach der Köstlichkeit um.
Treulos wie er war, ging er zu Rahff, der ihn umgehend fütterte.
Desiderius beobachtete die beiden dabei, verspürte so etwas wie Eifersucht. Nicht auf Nebelkralle, sondern auf die Selbstverständlichkeit seiner Nähe zu Rahff.
Nachdem er satt war, tapste der Puma zurück zu Desiderius und streckte sich neben ihm auf dem Lager aus, als gehörten die Decken ihm und er duldete den Dieb lediglich darauf. Desiderius streichelte dem kleinen König den voll gefressenen Bauch, während der Puma sich ordentlich putzte, ehe er den Kopf ablegte und die Augen genüsslich schloss.
Desiderius tat es ihm gleich und versuchte, zu schlafen. Sollte Rahff doch die ganze Nacht wachliegen und das Lager bewachen.
»Redest du nicht mehr mit mir?«
Er schüttelte den Kopf.
»Du bist kindisch.«
Vielleicht. Doch er antwortete nicht, wurde nur umso trotziger, je mehr Rahff unbedacht Worte äußerte.
»Hab ich dich verletzt?«
Darauf erwiderte Desiderius nichts, er tat so, als würde er bereits schlafen. Natürlich war Rahff bewusst, dass er unmöglich derart schnell wegdämmern konnte.
»Ich habe nicht Nein gesagt«, versuchte Rahff, ihn zu einem Gespräch zu verleiten.
Desiderius hielt die Augen geschlossen, konterte jedoch trocken: »Und ich habe nichts gefragt.«
Das brachte Rahff zum Seufzen, er klang frustriert.
Einen Moment herrschte Stille, dann raschelte Stoff. Schritte, die sich über den Boden näherten, sie waren leise aber deutlich.
Rahff legte sich unverwandt hinter ihn auf die Decken, schob ihn fast auf den dreckigen Waldboden. Seine schwere Hand umfasste Desiderius` nackte Schulter, und seine Lippen streiften zärtlich seinen Nacken.
»Ich hab nicht Nein gesagt«, wiederholte er rau.
Desiderius musste den Mund öffnen, um atmen zu können. Er bewegte sich nicht, wagte kaum zu denken, weil er sich fürchtete, der Traum könnte sich erneut verflüchtigen. Doch Rahffs warmer Körper drängte sich tatsächlich an seinen Rücken, sein halbsteifes Geschlecht rieb durch die dünnen Hosen an Desiderius` Schenkel, und sein heißer Atem streifte sein Ohr.
»Du solltest über das Lager wachen«, sagte er jedoch spitz zu Rahff, er wollte ihn ärgern.
Rahff schob einen Arm über Desiderius, legte die Hand auf seine Brust und streichelte mit den Knöcheln durch die Rille, die sich zwischen den sanften Hügeln der Muskeln gebildet hatte. »Ich wache lieber über dich«, raunte er.
Und das tat er, die ganze Nacht, während seine Lippen zärtlich Desiderius` Nacken küssten.
Desiderius schlug das Herz so wild in der Brust, dass er kein Auge zu tat, um keinen winzigen Augenblick von Rahffs Berührungen zu verpassen.
»Desi…?« Rahffs Stimme klang zurückhaltend in der Stille der Nacht.
»Mhm?«
»Warum hast du mich vor meinen Feinden gerettet?« Ein Kuss in den Nacken, feucht und warm.
Desiderius öffnete die Augen, starrte in die Glut und spürte die Hitze auf seinen Lidern. »Weil du das schönste Lebewesen bist, das ich je erblickt habe.« Es war die schlichte Wahrheit, und er wagte es, sie auszusprechen, weil jede andere Erklärung keinen Sinn ergeben hätte. Weshalb sonst rettete man einen Fremden, wenn man kein Held war, kein Gutmensch? Nur aus Eigennutz.
Desiderius spürte Rahffs Lächeln im Nacken. Der Gigant küsste ihn wieder, noch eine Spur zärtlicher, geradezu dankbar.
»Warum hast du mich gerettet?«, flüsterte Desiderius zurück. Diese Frage quälte ihn schon seit Tagen. »Vor Zeck, vor dem Ertrinken. Warum soll ausgerechnet ich dir helfen?«
Rahff knabberte an Desiderius` Schulter, bevor er schelmisch zurückgab: »Weil du das schönste Lebewesen bist, das ich je erblickte.«
Hätte er sich nicht etwas Eigenes ausdenken können? Wie sollte Desiderius ihm jetzt Glauben schenken?
Die Küsse gingen in ein träges Lecken über, Rahffs Nasenspitze rieb über seine Haut. »Du schmeckst, wie ich es mir erträumt habe.«
Desiderius wollte sich umdrehen, doch Rahff ließ es nicht zu.
Nicht hier, nicht jetzt.
Er wollte nicht, dass sie Brüder waren, erinnerte Desiderius sich, aber küssen wollte Rahff ihn auch nicht. Was, bei den Göttern, wollte er dann?