Читать книгу Herz des Südens - Billy Remie - Страница 13

Kapitel 8

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Desiderius kümmerte sich um das Feuer. Sie hatten das Lager im tiefen Unterholz direkt am Ufer aufgeschlagen. Dort würden sie eine oder auch zwei Nächte verweilen, um sich einen Plan zurechtzulegen, wie sie nach Dargard und unbemerkt in die Stadt hineingelangten.

Vom Fluss aus waren sie nicht zu sehen, allerdings könnte jemand, der den Wald betrat, den Rauch bemerken, den das Feuer verursachte. Diese Gefahr mussten sie jedoch eingehen, denn allmählich brauchten ihre Körper Nahrung, auch wenn Desiderius noch immer ein gewisses Unwohlsein im Magen verspürte.

Sein Bauch war leer, und sein Leib brauchte Kraftreserven.

Außerdem glaubte er nicht, dass sich irgendeine einsame Seele hier her verirrte, hier gab es nicht einmal Wege. Und Markesh, oder mögliche Meuchler, die hinter Rahff her waren, dürften noch weit hinter ihnen sein. Rahff und er waren doch recht gut vorangekommen. Zu Pferd ging es eben doch ein wenig flotter als zu Fuß, zumal sie den ganzen Tag flussaufwärts getrabt waren.

Sie hatten einen guten Vorsprung. Zumindest beruhigten sie ihre Gemüter mit diesem Gedanken.

Doch trotzdem bekam er das Gefühl nicht los, dass sie verfolgt wurden. Nicht, dass er etwas oder jemanden im Wald gesehen hätte, abgesehen von den tierischen Waldbewohnern. Es war viel mehr ein Gefühl. Ein Kitzeln im Nacken, als würde er beobachtet. Doch wenn er in den Wald hineinspähte konnte er nichts erkennen. Sie waren allein. Jedoch ließ ihn das Gefühl nicht los, dass jemand dicht bei ihnen war. Allerdings kam er sich nicht bedroht vor, ihm war schlichtweg so, als würde jemand sie verfolgen und beobachten, seit sie den Fluss verlassen hatten.

Wieder hielt er inne, blickte lange in den Wald hinein, wie ein Wolf, der etwas witterte. Allerdings war dort nichts im Unterholz, nicht einmal eine Maus. Er schüttelte den Gedanken ab, schob das seltsame Gefühl auf die Tatsache, dass Markesh hinter ihm her war.

Zufrieden mit den Flammen stand Desiderius auf und klopfte die Hände aneinander ab. Er löste seinen Zopf und band ihn neu zusammen, da sich wieder zwei Strähnen gelöst hatten.

Sein Bick fiel auf die Pferde. Er hörte noch Rahffs Worte im Kopf. »Zeig ihm, dass er dir vertrauen kann!«

Warum sollte es ihn kümmern? Desiderius hatte nie auch nur im Traum daran gedacht, freundlich zu irgendetwas oder irgendjemanden zu sein. Nun ja, nicht seit seiner Flucht aus dem Kloster.

Das erste und letzte Tier, mit dem er Freundschaft geschlossen hatte, war ihm entrissen und als Eintopf zum Abendbrot vorgesetzt worden.

Natürlich war dies der Verlauf der Dinge, er hatte diese Lektion gelernt. Trotzdem würde er nie wieder ein Kaninchen essen können. Oder einen Hasen.

Er ging hinüber zu Fels, der mit müde hängendem Kopf neben Erde stand. Die beiden Hengste gaben stets ein Trauerbild ab.

Ob sie, wie Rahff behauptete, wirklich um ihre Herren trauerten?

Und wenn ja, spürte Fels dann, dass Desiderius seinen Herrn getötet hatte?

Unsinn! Desiderius verscheuchte den Gedanken. Doch eines war gewiss, Fels hatte ihn abgeworfen, weil er ihm nicht vertrauen konnte. So albern er Rahffs Fürsorge für die Tiere auch fand, in dieser Angelegenheit war er im Recht.

»He, Grauer!« Desiderius nahm die Decke, mit jener Rahff jeden Tag nach dem Absatteln Schnee abrieb, und tat selbiges bei Fels. Das graue Fell des Hengstes war verschwitzt und glänzte, vor allem dort, wo der Sattel den ganzen Tag auf seinem Rücken gelegen hatte. Also rubbelte Desiderius ihn sanft trocken. Das Tier schien es zu genießen, es schloss die Augen.

»Ich weiß, du vertraust mir nicht«, flüsterte Desiderius ihm zu. Mit einer Hand führte er die Decke über die Flanke, mit der anderen kraulte er den kräftigen Hals. »Und ich kann es dir nicht verdenken. Ich vertraue auch niemanden. Würde ich mir einmal selbst begegnen, wäre ich der Letzte, der mir Vertrauen schenken würde. Ich kann dich also verstehen.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Nun ja, vielleicht nicht gänzlich. Auf mir reitet schließlich nicht den ganzen Tag so ein Narr, der nicht weiß, was er eigentlich tut.« Seine Worte kamen ihm ungewollt über die Lippen. Er seufzte und dachte dabei an Rahff, konnte noch dessen Mund auf seinem fühlen, und leckte sich dabei ungewollt über die Lippen.

Oh nein, er wusste wirklich nicht, was er eigentlich tat.

»Ich sollte gar nicht hier sein. Ich sollte ihm nicht helfen. Aber weißt du was, Fels? Als ich ihn da in der dunklen Gasse sah, und dein Herr ihn gerade abstechen wollte, da habe ich dieses Drängen in der Brust gespürt. Du weißt schon, dieses Gefühl, keine Luft zu bekommen, genau dieses Gefühl, das Rahff heute Mittag beschrieben hatte, als er von der pelzigen Ratte sprach…«

Fels schnaubte.

»Verzeihung, du hast Recht. Ich meine natürlich Nebelkralle«, lenkte Desiderius ein. »Aber du musst zugeben, dass er nach Raubtier stinkt!«

Dazu hatte der Hengst wohl nichts zu sagen. Was war nur in Desiderius gefahren? Nun stand er hier und sprach mit einem Pferd, das ihn doch ohnehin nicht verstand. Aber so war das eben mit Einzelgängern, sie wurden irgendwann immer zu seltsamen Genossen. Mit wem hätte er denn sonst reden sollen, außer den Bäumen, die ihn umgaben?

»Ich konnte nicht anders«, Desiderius klopfte nachdenklich Fels auf den Hals, »verstehst du? Wobei ich wirklich nicht begreife, weshalb er mich aushält. Aber ich beschwer mich lieber nicht, immerhin hat er eine gewisse Anziehung, nicht wahr?« Er senkte die Stimme zu einem vertrauten Raunen: »Aber erzähl´s ihm nicht, ja?«

Fels schwieg wie ein Grab. Wer hätte das gedacht!

Desiderius lächelte, und er war froh, dass Rahff es nicht sehen konnte. »Bist ein guter Zuhörer, Grauer. Daran könnte ich mich gewöhnen.« Er kraulte das flauschige Fell, konnte sich der Magie des großen, sanftmütigen Tieres nicht entziehen. Es war ihm so leicht, diesem schweigsamen Gefährten Gefühle anzuvertrauen, die sich ansonsten in ihn hineingefressen hätten. Er atmete erleichtert aus.

Fels drehte den Kopf, seine braunen, ruhigen Augen blinzelten Desiderius ruhig an.

»Übrigens«, versicherte Desiderius ihm, »finde ich deine Nase überhaupt nicht zu lang.«

Als er wenig später aus dem Unterholz trat, stand Rahff noch immer knietief im Fluss, allerdings dort, wo ihn die Strömung nicht fortriss. Er hatte aus dem Geäst einen jungen Baumstamm – etwa so dick wie eine Würgeschlange – mit dem Schwert herausgeschlagen und mit der Axt angespitzt. Mit diesem Speer jagte er Fische. Nebelkralle war bei ihm, ging aber nicht weiter als bis zu den Tatzen ins Wasser, während er seine Jagdkünste übte.

Rahffs Kleider hingen zum Trocknen auf einem Ast, er trug nur seine langen Unterhosen, die er hochgekrempelt hatte. Die Rüstung hatte nicht zu viel versprochen, Rahffs Muskeln waren wunderschöne Berglandschaften, die kein Dichter jemals angemessen hätte umschreiben können. Sie drückten unbezwingbare Stärke, aber auch Würde aus. Sein Leib wirkte kraftvoll und gleichsam geschmeidig. Die blasse Haut spannte über den Muskeln, doch waren keine pulsierenden Adern zu sehen, wie Desiderius es von grobschlächtigen Hünen kannte. Rahff wirkte keinesfalls unwirklich, seine Proportionen waren, gemessen an seiner beachtlichen Körpergröße, perfekt verteilt.

Ihm hing etwas Raues, etwas gänzlich Wildes an, während er halbnackt mit diesem altertümlichen Speer durch das Wasser watete. Langsam, bedächtig, auf seine Beute lauernd. Das mittellange Haar fiel ihm immer wieder ins Gesicht, sodass seine Pranke hin und wieder hindurchkämmte. Eine Geste, die Desiderius nicht mehr aus dem Kopf ging. Dabei schien sie völlig belanglos.

Und doch, die Art und Weise wie das dunkle Haar wieder zurück in seine ursprüngliche Form fiel, machte ihn wahnsinnig.

Rahff verkörperte all das, was je über die Südländer gesagt wurde. Groß, stark, stolz und ungezähmt. Mutig, wie er mit dem Schild allein gegen sieben Mann angetreten war, oder wie er Desiderius ins Wasser nachgesprungen war …

Verdammt, jetzt schuldete er Rahff zweimal sein Leben!

Warum hatte der Gigant das getan? Weshalb sollte ein Lord, die einzige Hoffnung, das Schwarzfelsgebirge von dem Verräter zu befreien, einem nutzlosen Vagabunden hinterher in eine reißende Strömung springen und sein Leben für diesen riskieren?

Warum?

Desiderius war unter Männern groß geworden, die niemals ihr Leben für einen anderen in Gefahr bringen würden. Leben oder Sterben, es ist die eigene Entscheidung, niemand rettete irgendjemand vor der eigenen Torheit. Vor allem hätte nie jemand sein Leben für Desiderius riskiert. Niemals. Weder Markesh und seine Halsabschneider, noch die Männer im Kloster oder … seine Familie.

Als er sich an Markesh und Zeck erinnerte, tat ihm wie auf Geheiß hin wieder der Kiefer weh. Sein Gesicht war selbstredend noch immer geschwollen, auch das unfreiwillige kalte Bad im Fluss hatte nichts daran ändern können. Damit die Prellungen schleunigst verheilten, müsste er … auf eine gänzlich andere Jagd gehen. Und da Rahff gerade damit beschäftigt war, ihnen das Abendessen aufzuspießen, beschloss Desiderius, seinen anderen, drängenderen Hunger zu stillen.

Er ging zurück zum Lager und durchsuchte die Satteltaschen der Krieger, die er getötet hatte. Rahff war im Begriff gewesen, auf einen Jagdausflug zu gehen, es war demnach kein Zufall, dass Desiderius einen weiteren Bogen fand. Und noch einen. Es waren leichte Jagdbogen, dazu gehörten einige Köcher mit dünnen, leicht brechbaren aber schnell fliegenden Pfeilen. Jäger wählten diese Waffe, um Kaninchen oder andere Kleinnager zu schießen. Einen Hirsch oder Keiler würde man mit einem Pfeil nicht beeindrucken können. Nun ja, es sei denn vielleicht man besaß einen Bogen und Pfeile mit einer enormen Durchschlagskraft, wie Rahffs Schwarzholz-Bogen und Schwarzeisen-Pfeile. Doch dieser war wahrlich zu groß, als dass Desiderius ihn hätte führen können.

Er schulterte den Köcher, nahm den Bogen auf und stakste in den Wald. Geübt schlich er durch das Unterholz, leise wie eine Maus. Jahrelang hatte er die Jagd verinnerlicht, sonst wäre er längst verhungert. Gewiss, es war verboten in den Wäldern zu wildern, denn das Gebiet gehörte stets irgendjemanden. Darüber machte sich ein Vagabund und Dieb jedoch wenig Gedanken. Vor allem nicht, wenn ihm der Magen knurrte.

Eine Weile streifte er umher, blieb aber immer in der Nähe des Lagers, damit er sich nicht verlief. Selbst der beste Instinkt konnte sich in den Tiefen Wäldern täuschen. Auch am Tage war das dichte Unterholz verwirrend, es verliefen sich oft Wanderer darin und fanden nie wieder zurück. Brach erst einmal die Dämmerung herein und tauchte alles in Zwielicht, wusste auch Desiderius nicht mehr mit Sicherheit, wo Norden und Süden lagen.

Er suchte sich Anhaltspukte in der Umgebung. Ein Baum mit einem seltsam krumm gewachsenen Stamm, ein moosbewachsener Stein, ein großer, abgebrochener Ast auf dem Boden. All diese Eindrücke nahm er in sich auf und hielt sie fest, damit er den Weg zurück ohne Schwierigkeiten fand.

Der Waldboden war wie eine aufgerollte Schriftrolle, es war leicht, von ihm zu lesen. Alsbald fand Desiderius Spuren. An einem Busch hatte ein Reh die Knospen der Blätter abgeknabbert. Nur wenige Schritte weiter sah er noch die aufgewühlte, feuchte Erde, wo ein Eber sein Abendbrot eingenommen hatte. Weit konnte das Tier nicht sein. Desiderius ging ihm lieber aus dem Weg, Wildschweine waren gefährlich und er hatte nur noch seinen Dolch, sein Schwert war im Fluss verschwunden. Er wollte keine Gefahr eingehen, ein Wildschwein konnte ihn töten, wenn das Tier es darauf anlegte.

Nachdem er einige Zeit lang in die entgegen gesetzter Richtung lief, entdeckte er im feuchten Moos den Abdruck einer Pfote. Wölfe. Die Raubtiere griffen für gewöhnlich keine Menschen an, es sei denn der Mensch war wehrlos, und der Wolf war wirklich hungrig. Desiderius wich der Spur trotzdem aus, anstatt ihr zu folgen.

Er schlug den Weg nach Nordosten ein. Es wurde gemunkelt, dass weit in dieser Richtung, sehr tief in den Wäldern, der sogenannte Waldsee lag, wo das Waldvolk jeden Winter hin pilgerte, um die kalten Stürme auszustehen. Zwar war dieses Volk sehr friedlich, doch sie blieben gern unter sich, weshalb Desiderius nie in den Sinn gekommen war, den sagenhaften See und seiner angeblich darin wohnenden Meerjungfrau – was für ein Unfug, sowas konnte sich nur ein Dichter ausgedacht haben! – zu besuchen. Obwohl es ihm eine Freude bereitet hätte, diese Sage zu wiederlegen.

Meerjungfrauen! Dass er nicht lachte! Ihre Existenz war ebenso absurd wie der Glaube an Flüche.

Desiderius glaubte nur an das, was er mit eigenen Augen gesehen hatte.

Wieder hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Augen, die auf seinem Gesicht brannten, über seinen Körper glitten. Kein Gefühl, das ihm bedrohlich vorkam, es war ihm allerdings unangenehm, ausspioniert zu werden. Er ging weiter, ließ sich nicht anmerken, dass er etwas spürte. Hier und dort ging er vor Spuren in die Hocke und spähte verstohlen in das dichte Gebüsch um sich herum. Er konnte nichts entdecken. Einmal glaubte er, einen azurblauen Schimmer zu erkennen, der sich allerdings als einsame Feder herausstellte. Das Moos, auf dem die etwa unterarmlange Feder lag, wirkte plattgedrückt als wäre jemand darüber gelaufen, und das Geäst im Unterholz war abgebrochen, als sei jemand hindurchgegangen, doch das konnten auch Tiere gewesen sein. Nichts deutete auf einen Menschen oder anderen Zweibeiner hin. Desiderius` Angespanntheit wegen Markesh spielte ihm Streiche.

In Gedanken versunken ging er weiter als beabsichtigt. Er blieb stehen und drehte sich um, der Baum, aus dessen Stamm ein weiterer Baum steil nach oben wuchs, war noch in Sichtweite. Desiderius suchte sich den nächsten Wegpunkt, ehe er weiter ging.

Er entdeckte einen Kaninchenbau. Für einen Moment hockte er sich ins Unterholz und beobachtete die Tiere lächelnd. Die Jungen waren schon groß, ihr flauschiges Kinderfell war einem seidenen Pelz im satten Graubraun gewichen. Sie spürten, dass sie beobachtet wurden, und Desiderius ging weiter, um sie nicht zu stören.

Sie wären leichte Beute gewesen, gewiss, aber er konnte sich noch immer nicht damit anfreunden, sie zu töten. Nicht nachdem wegen ihm eine ganze Familie ausgerottet wurde, nur weil er sie Handzahm gefüttert hatte. Nun ja, wenigstens die Mönche hatten sich den Bauch vollschlagen können. Sie nannten es den Willen der Götter, das Vertrauen zutraulicher Nager zu missbrauchen, um sie ohne Mühe zu schlachten und zu essen.

Desiderius sah noch heute das Unglauben in ihren Knopfaugen, als der Mönch sie an den Ohren packte und in die Luft riss. Diese Verständnislosigkeit, wie ihnen jemand das antun konnte, warum sie plötzlich nicht mehr gefüttert und gestreichelt wurden. Warum sie Schmerzen spürten…

Er schüttelte den Kopf und damit die Hilflosigkeit des Jungen, der er einst gewesen war, ab. Solange er im Wald umherschlich, würde keinem Kaninchen Leid widerfahren.

Doch er sollte finden, wonach er suchte.

Während er sich leise ins Unterholz duckte, zog er einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn in den Bogen. Markesh hatte ihm das Bogenschießen beigebracht und mittlerweile war er ein ganz passabler Schütze. Zärtlich strich er über die weiße Fiederung, während seine Augen ihr Ziel anvisierten.

Raubtier gegen Raubtier.

»Das war dein letztes Mahl, Freundchen«, flüsterte er. Wobei er gar nicht sprach, er bewegte nur die Lippen und dachte die Worte.

Desiderius hob den Bogen, zielte, atmete tief ein und hielt die Luft an. Es wehte leichter Wind von links, also zielte er etwas versetzt, ehe er die Sehne flirren ließ.

Der Pfeil flog, verfehlte jedoch das Opfer. Alarmiert hob das Tier den Kopf von seiner Beute – einem bereits halb verspeisten Igel – und sprintete nach einem flüchtigen Schreckensmoment los.

Desiderius fluchte, sprang auf und hechtete hinter her. Er versuchte, dem Tier den Weg abzuschneiden. Glücklicherweise leuchtete das rotbraune Fell aus dem Grün des Waldes heraus, sodass er es nicht aus den Augen verlieren konnte. Es lief direkt auf eine kleine beschauliche Waldlichtung und damit in sein Unglück. Desiderius hatte freies Schussfeld und der Wind blies ihm nun in den Rücken. Er blieb stehen und zielte ruhig.

Der Pfeil traf seine Beute, die sich jaulend überschlug.

Desiderius hing sich den Bogen um die Schulter und trat durch das hohe Gras der Lichtung. Der Fuchs lebte noch, röchelte aber. Der Pfeil hatte ihn die Flanke getroffen und wohl das Herz verletzt.

Da war es wieder, dieser Unglaube in den Augen der Tiere.

Es musste jetzt schnell gehen, das Herz musste noch schlagen, sonst würde das Trinken schwerfallen, da das Blut in den Adern stehen bleiben würde.

Desiderius kniete sich neben seine Beute, legte ihm beruhigend die Hand auf den Bauch und sah dem Fuchs ernst in die Augen. Er würde nicht den Blick abwenden, er war nicht feige. Wenn ein Mann schon töten musste, dann hatte er auch die Pflicht, dem Tod bei seiner Arbeit zuzusehen.

Warum Desiderius einen Fuchs schießen, aber kein Kaninchen erlegen konnte, wusste er sich auch nicht recht zu erklären. Aber vermutlich aus dem gleichen Grund weshalb Rahff Fische fangen aber niemals Schnee – oder ein anderes Pferd – essen könnte. So etwas nannte man wohl schlicht eigene Prinzipien, die lediglich im eigenen Herzen einen Sinn ergaben.

Desiderius machte es dem Fuchs nicht schwerer als nötig, das Tier hatte Angst und wollte um sich beißen, doch es war zu schwach, um sich zu wehren. Er riss den Pfeil heraus und senkte den Kopf. Er wählte die Kehle für seinen Biss, da die Halsschlagader am stärksten das Blut pumpte. Beherzt versengte er seine langen Fänge im warmen Fleisch, schmeckte das bittere Fell des Fuchses.

Doch das geriet in Vergessenheit, als das warme Blut über seine Zunge flutete. Es schmeckte metallisch, doch Desiderius stöhnte weniger wegen des Geschmacks, sondern viel mehr wegen der Wirkung, die beinahe augenblicklich einsetzte. Sein gereizter Magen fühlte sich an, als würde er mit warmem Honigwein gefüllt. Das Blut betäubte die Schmerzen und regte gleichzeitig Desiderius` Heilung an, wodurch sein Herz schneller schlug.

Das Tier wehrte sich schon lange nicht mehr, der Herzschlag war versiegt. Er riss die Wunde beherzt auf, damit das Blut besser floss, dabei besudelte er sein Gesicht um den Mund herum mit einem großen Fleck roten Lebenssaftes.

»Das ist ja geradezu faszinierend.«

Erschrocken fuhr er herum. Rahff stand hinter ihm, noch immer halbnackt, jedoch trug er nun Stiefel, und stützte sich auf seinen altertümlichen Speer.

Desiderius schluckte mit schreckgeweiteten Augen. Er hatte nicht gewollt, dass Rahff ihn dabei sah, er wusste nur zu gut, was Menschen davon hielten. Sie schimpften ihn Monster, nannten diese wichtige und für ihn lebensnotwendige Handlung barbarisch.

Er stand auf und drehte Rahff den Rücken zu. »Bist du mir gefolgt?«, fragte er. Leider klang es nicht so wütend, wie er gehofft hatte. Seine Stimme zitterte nervös. Er wollte sich das Blut mit dem Handrücken vom Mund wischen, doch er verschmierte es bloß.

»Nur, damit du dich nicht wieder in Gefahr bringst«, konterte Rahff belustigt. Tatsächlich hatte er Desiderius bereits öfter den Arsch gerettet als anders herum. Und das innerhalb kürzester Zeit.

Willst du nicht deshalb bei ihm bleiben, höhnte sein Unterbewusstsein, um Schutz vor Zeck und Markesh hinter seinem breiten Kreuz zu suchen?

Unsinn, nur Schwächlinge brauchten Schutz, außerdem war er nicht feige! Er kam allein zurecht!

Noch immer versuchte Desiderius, sich das Gesicht zu säubern, weshalb ihm Rahffs Neckerei entging. Er würde es nie zugeben, doch er fürchtete sich vor der Abscheu, die der Silberlöwe vor ihm haben könnte.

»He!« Eine große Hand packte seine Schulter und wollte ihn herumzerren. »Desi…«

»Nenn mich nicht so!«, fauchte Desiderius. Mit einem groben Ruck seiner Schulter entzog er sich Rahffs Berührung und machte einen Schritt nach vorne, um ihm zu entkommen. Dabei wäre er beinahe auf den Fuchs getreten, der tot im hohen Gras lag und darauf wartete, den Krähen als Futter zu dienen.

Der Kreislauf des Lebens, oder besser gesagt, des Sterbens. In der Natur hatte jeder Tod einen Sinn. Warum sollte er sich schämen, seiner Natur nachzukommen? Es lag nun mal in seinem Wesen, die Götter hatten auch ihn erschaffen.

Und doch … er wagte nicht, sich umzudrehen.

»Desi!« Rahff konnte es nicht lassen, ihn so zu nennen. Er legte seine Hand um Desiderius` Arm und drehte ihn zu sich herum.

Lediglich wegen des sanften Drängens, ließ Desiderius sich dazu überreden, sich ihm zuzuwenden. Sollte Rahff doch sehen, was er davon hatte.

Geradezu beschämt schielte er zu Rahff auf, während er sich des langsam trocknenden Blutes auf seinem Gesicht deutlich bewusst war.

»Erstaunlich!« Rahff klang geradezu bewundernd, als er Desiderius` Kinn zwischen zwei Finger nahm und sein Gesicht mit leuchtenden Augen betrachtete. »Die Prellungen gehen langsam zurück, ich kann dir beinahe beim Heilen zusehen!«

Es würde trotzdem noch einige Tage dauern, bis Zecks Schläge nicht mehr sichtbar wären.

»Widert es dich denn gar nicht an?«, flüsterte Desiderius verwundert. Zweifel stand ihm deutlich auf die Miene geschrieben. Unsicherer, ängstlicher Zweifel.

Rahff blinzelte überrascht. »Was? Ach, das Blut?« Er schüttelte leise lachend den Kopf. »Nein. Warum sollte es?«

»Weil …« Desiderius suchte nach Worten, die nicht die Verzweiflung preisgaben, die er gerade verspürte. »Weil ich die Erfahrung machte, dass Menschen mich deshalb für einen Wilden halten.«

Und er wollte nicht, dass Rahff ihn mit diesen anklagenden Augen betrachtete, die Desiderius sein Leben lang gemustert hatten.

Rahff runzelte kritisch seine Stirn. Und was er dann sagte, würde Desiderius niemals in seinem Leben vergessen: »Die meisten Menschen sind dumme Schafe, Desi. Natürlich fürchten sie sich vor dem Wolf. Und so lang sie können, werden sie dich dementieren, wo sie nur können, weil es ihre einzige Waffe gegen dich ist. Sie wollen dich schlichtweg verunsichern, weil sie selbst verunsichert sind.«

Verwirrt legte Desiderius den Kopf schief, dabei bemerkte er, dass Rahff noch immer sein Kinn festhielt. Die Finger des Giganten streichelten es sogar, ungeachtet des Blutes darauf. Die Berührung brannte, sandte kleine Hitzeblitze unter Desiderius` Haut. Er spürte noch deutlich Rahffs Lippen auf seinen, konnte nicht aufhören, sich das Gefühl in Erinnerung zu rufen, obwohl es für Rahff etwas anderes dargestellt hatte als für ihn.

»Dann verabscheust du mich nicht?«, fragte Desiderius flüsternd.

Warum flüsterte er? Er wusste es sich nicht zu erklären, seine Stimme wagte nicht, sich zu erheben, während er Rahffs faszinierten Blick nicht entkommen konnte. Sie sahen sich an und schwiegen.

Ich will, dass du mich noch einmal küsst. Bewusst. Gewollt. Desiderius sah ihn länger als nötig an, seine Miene musste seine Gedanken preisgeben. Doch der wie kurz vor einem Sturm aufgeladene Moment verstrich, ohne dass etwas geschah.

Rahff lächelte. Ein schiefes Grinsen mit offenen Lippen, das seine schneeweißen Zähne in der Abendsonne aufblitzen ließ. »Oh nein, ganz und gar nicht …«, raunte er verheißungsvoll.

Desiderius` Herz machte einen Satz. Was bedeutete dieser glutvolle Blick, diese Stimme voller dunkler Versprechen?

Als wollte er unter Beweis stellen, dass er alles andere als angewidert war, schabte Rahff mit dem Daumen das Blut von Desiderius` Kinn und leckte sich den Lebenssaft des Fuchses von dem Finger.

Desiderius schluckte geräuschvoll. Ihm kam es vor, als wäre der Wald in diesem Moment eine ganze Spur wärmer geworden.

»Wir trinken das Blut der Wölfe, bevor wir uns zum Eheweib ins Bett legen«, erklärte Rahff mit einem Augenzwinkern. »Dein Volk und meines sind sich nicht so unähnlich. Bis auf, dass wir alberne Rituale zur Stärkung der Manneskraft abhalten, während du deiner Natur nachgehen musst.«

Das brachte Desiderius tatsächlich zum Schmunzeln. Die Scham, die er eben noch verspürt hatte, wich einem seltsam warmen Gefühl der Dankbarkeit, die sich in seinem Magen ausbreitete und ihn nährte.

»Aber ich trinke für gewöhnlich das Blut von Menschen oder anderen Zweibeinern«, machte er Rahff verständlich.

»Das ist mir bewusst«, konterte Rahff etwas eingeschnappt, »ich bin ja kein Narr, etwas Kultur liegt mir auch. Und ich weiß, dass du dafür eigentlich niemanden töten musst.« Er blickte hinab auf den Fuchs und warf ein: »Tja, es sei denn, du musst vorher jagen.«

In der Tat wäre der Fuchs nicht in Lebensgefahr gewesen, hätte er seine Vene freiwillig angeboten, aber das hätte das Tier nicht verstanden, und mit einem Pfeil war es schnell eingefangen gewesen.

Luzianer tranken ihre Spender nie blutleer, so wie ein normaler Mensch nie ein Fass Wasser in einem Zug trinken würde. Schließlich aß jedermann nur so viel, bis er satt war. Oder in Desiderius` Fall, bis seine Heilung sich ein wenig sputete.

Rahff lächelte ihn offen an. Ein Ausdruck des Verständnisses, das Desiderius noch nie entgegengebracht worden war.

»Wenn du das nächste Mal verletzt bist«, sagte Rahff mit dunkler, rauer Stimme, »dann nähre dich an meiner Vene.«

*~*~*~*

Schweigend aßen sie die Fische, die Rahff erjagt und über den Flammen gebraten hatte. Das Abendrot hatte sich über sie gelegt und schimmerte Ahornfarben durch die grünen Blätter.

Nebelkralle saß neben ihnen, beobachtete sie mit schiefgelegtem Köpfchen, als wunderte er sich darüber, was diese dummen Menschen mit dem guten Fisch anstellten, bevor sie ihn aßen.

Es handelte sich um kein einfaches Mahl, da es sich als nervig herausstellte, die Gräten aus dem Fleisch zu puhlen. Aber eines musste Desiderius dem Giganten lassen, der Fisch war perfekt gebraten. Er war durch, aber nicht trocken.

»Hätten wir doch Met gehabt!«, beklagte sich Rahff, während er beherzt mit den Zähnen ein Stück aus dem Fisch riss, Gräten zerbarst er einfach und schluckte sie, einem Giganten schienen sie nichts anzuhaben. »Dann hätten wir den Fisch damit übergießen können. Das hätte ihm richtig Geschmack eingehaucht!«

Desiderius wusste gar nicht, was Rahff zu bemängeln hatte. In den letzten Jahren, als er mit Markesh unterwegs gewesen war, hatte er nicht ansatzweise etwas zwischen die Zähne bekommen, das genießbar gewesen wäre. Diebe fraßen in der Not auch Ratten. Und nein, das war kein Sprichwort, sondern schlichte Wahrheit.

»Was denn? Kein spöttischer Kommentar?« Rahff grinste ihn über die knisternden Flammen des Feuers hinweg herausfordernd an. Er hatte sich das Hemd wieder übergezogen, doch der weite Ausschnitt bedeckte die Brust keineswegs, sodass sie immer und immer wieder ein Blickfang war. In gönnerhafter Pose lag er auf der Seite, einen Ellenbogen als Stütze, und das dunkle Haar auf der linken Seite hinter das Ohr gestrichen. Wie ein Prinz. Es fehlten nur die jungen Frauen, die ihn mit Weintrauben fütterten.

Desiderius schüttelte mit vollem Mund den Kopf.

»Was ist los mit dir, Desi?« Rahff warf das Gerippe des Fisches in die Büsche, sodass Nebelkralle sich gierig darauf stürzte. »Du bist so schweigsam, seit ich dich im Wald fand.«

Rahff klang auf einmal sehr sorgenvoll. Und nicht auf die spöttische Art, wie Desiderius es von anderen gewohnt war, nicht sarkastisch. Nein, seine Sorge schien aufrichtig.

Aus irgendeinem Grund behagte das Desiderius nicht.

»Dir gefällt es wohl, mich zu reizen!«, gab er pikiert zurück. »Ich sagte doch, du sollst mich nicht so nennen!«

»Wie soll ich dich dann nennen?«, wunderte sich Rahff. Er leckte sich die vom Fisch öligen Finger sauber. Ein Anblick der …

Desiderius schloss die Augen, wollte nicht sehen wie sich die vollen Lippen um diese feuchten Fingerspitzen legten und sie schmatzend ableckten.

»Nicht so! Mein Name ist Desiderius. Oder Derius. Aber nicht Desi

»Deine Familie nennt dich Derius, nicht wahr? Jene Menschen, die dich jagen und töten wollen. Und Desiderius ist wohl dieser Luzianer, den andere für eine Art Dämon halten, weil er Blut trinkt. Also dachte ich, es wäre angenehmer, dir einen geeigneteren Spitznamen zu geben.« Rahff zuckte mit der Schulter, auf jener er nicht lehnte. »Einen Namen, mit den dich wahre Freunde anreden.«

Desiderius starrte ihn noch böse an, doch in seinem Magen breitete sich wieder dieser bekannte, warme Hauch aus, der von seiner eigenen Dummheit zeugte. Er kannte dieses Gefühl, es war diese naive Zuneigung, die er gelegentlich gegenüber anderen Männern verspürte, die seine leichtsinnige Seele ins Herz geschlossen hatte. Freundschaft. Wie er Zecks Freund gewesen war. Oder noch schlimmer, wie Markesh ihm sowas wie ein Vater gewesen war! Es war ein Trugschluss, sie alle mochten nicht ihn, nicht das, was er war, sondern nur das, wozu er fähig schien.

Genauso wie Rahff. Sobald Desiderius ihn in die Stadt gebracht hatte, würde der Gigant gewiss nie mehr einen Gedanken an ihn verschwenden.

»Nun hab dich nicht so«, Rahff lächelte ihn gewinnend an, »ich will dir nichts Böses. Was geht dir im Kopf herum? Weil ich dich Blut trinken sah? Mir hat es gefallen. Deine rohe, wilde Seite, wie ein Raubtier. Das war …«, er seufzte verträumt, »… ein sehr schöner Anblick.«

»Es ist alles in bester Ordnung … Rahffi!«, gab Desiderius genervt zurück. Allerdings hatte Rahff sich nicht getäuscht. Desiderius dachte immer noch darüber nach. All die Jahre hatte er sich für das geschämt, was er war. Während er bei Markesh aufwuchs, hatte dieser Dirnen bezahlt, die hinter verschlossener Tür ihre Vene feilboten, aber er hatte immer darauf bestanden, dass Desiderius es allein tat und nie davon sprach. Selbst dieser widerwärtige Halsabschneider hatte sich aufgrund seiner menschlichen Abstammung für das bessere Lebewesen gehalten. Desiderius hatte sich immer … falsch gefühlt. Alle Welt wollte, dass er sich für das schämte, was er war.

Und dann war Rahff aufgekreuzt und hatte das Fuchsblut von seinem Daumen geleckt…

Rahff lachte. »Rahffi! Das gefällt mir.«

»Wieso nennt man dich eigentlich Silberlöwe?«, lenkte Desiderius auf ein weniger gewichtiges Thema. Er hasste es, über sich zu reden. Zumal er deutlich neugieriger auf den Giganten geworden war, seit … nun ja, er konnte seine Lippen noch immer auf den seinen spüren.

Rahff sah ihn an und schien einen Moment zu zögern. Verlegene Stille trat ein. Der Zweifel in seinen Augen tat Desiderius auf sonderbare Art weh. War der Gigant in den letzten beiden Tagen doch recht redselig und offen gewesen, schien er nun des Öfteren persönliche Geschichten zurückhalten zu wollen. Und Desiderius war nicht dumm, er wusste, dass es an ihm lag, an seinem Spott. Doch er konnte nicht anders, niemand hatte ihm je beigebracht, sich einfühlsam zu verhalten, Gefühle anderer ernst zu nehmen.

Der Zynismus und der Spott waren sein Versteck, wenn er sich unsicher fühlte. Es bedeutete keineswegs, dass er Rahff nicht ernst nehmen würde. Tatsächlich empfand er immer größer werdenden Respekt vor ihm, obwohl sie sich erst seit kurzem kannten. Doch wie könnte es auch anders sein, nachdem Rahff ihm zweimal selbstlos das Leben gerettet hatte.

Desiderius senkte ernüchtert die Augen, als die verlegene Stille anhielt. Er hatte mal wieder einen Menschen vergrault. Normalerweise kümmerte es ihn nicht, zumindest konnte er es sich einreden, doch bei Rahff … Bei Rahff war alles anders.

»Du wirst es mir nicht glauben«, zweifelte Rahff schließlich.

»Doch!« Der Ausruf kam zu schnell.

Rahff lächelte in sich hinein. War sein Zweifel lediglich Absicht gewesen? Eine Manipulation? Desiderius war unsicher, er wusste nie, ob Rahff mit ihm spielte oder ob seine Gesten seine wahren Gefühle preisgaben.

»Meine Mutter konnte mich nicht stillen«, erklärte Rahff jedenfalls dann doch recht frei heraus, »sie starb einige Wochen nach meiner Geburt. So legte mein Vater mich an die Zitze einer Pumamutter, jener er auf der Jagd begegnete. Zumindest erzählt man es sich so.«

»Und ist es die Wahrheit?«, fragte Desiderius durch und durch fasziniert von diesem Gerücht.

Lachend zuckte Rahff mit den Schultern, wie es ein Vater tun würde, der seinem Jungen eine Geschichte auftischte, die dieser erst viele Jahre später richtig verstehen würde. »Keine Ahnung. Ich weiß nicht, womit er mich fütterte, ich war wahrlich zu jung, um mich heute daran erinnern zu können. Er schwor, dass es so war. Und ist es denn wichtig, ob es stimmt?« Wieder dieses Lächeln! »Die Leute glauben es! Es inspiriert sie. Wen interessiert es, wie viel Wahrheit dahintersteckt. Für sie bin und bleibe ich der Silberlöwe.«

Desiderius hätte ihn eher den alten Bären genannt, aber auch dies wäre ihm nicht gerecht gekommen, war er doch um einiges wendiger als ein Bär!

»Und woher hast du diese Narbe?« Desiderius nickte auf Rahffs Brust, senkte aber in verräterischer Verlegenheit schleunigst den Blick. Der Anblick dieser bergigen Hügel ließ sein Herz wilde Purzelbäume schlagen.

Rahff blickte an sich herab. Er hob eine Hand und fuhr mit den Fingerspitzen über die rosigen Linien, die seine Brust wie ein Mahnmal überzogen. »Die trug ich von der Prüfung des Bären davon.«

»Nie davon gehört. Was ist das?«

Rahff hob wieder die Augen. Ihr warmes Honigbraun hielt Desiderius gefangen, sodass er kaum die Worte verstand. »Durch diese Prüfung werden wir zu Männern. Wir müssen mit einem Bären in eine Kampfgrube steigen. Ohne Waffen. Es handelt sich um einen Faustkampf.«

Desiderius sah den Giganten mit offenem Mund an. Ein spöttisches Lachen kitzelte in seiner Kehle, doch seine Augen zuckten immer wieder zu Rahffs Brust und der Narbe darauf.

»Es ist wirklich wahr.« Rahff hatte den leichten Zweifel bemerkt. »Jedes Jahr, wenn der Frühling Einzug über das Land erhält und der Boden der Kampfgrube noch nass und matschig ist, wird die Prüfung abgehalten. Jungen zwischen zwölf und fünfzehn Wintern, die ihr Kampftraining bereits im letzten Sommer begonnen haben, dürfen antreten, sofern ihre Väter für sie bürgen. Es geht nicht darum, zu siegen, sondern um Mut zu beweisen. Selbstredend sterben keine Kinder bei der Prüfung. Aber ich war der erste seit dreihundert Jahren, der den Bären besiegen konnte!«, verkündete er stolz. Dann machte Rahff eine Pause, in jener er Desiderius zu lächelte. »Wenn ich die Burg wiederhabe, kommst du mich besuchen und ich zeige es dir. Wir trinken Met, schauen den Prüfungen zu. Ich zeige dir die Fohlen vom letzten Jahr. Wir können ein Pferderennen durch die Berge veranstalten. Und in einer heißen Quelle Baden.«

Ihn besuchen. Der Gedanke war abwegig. Man besuchte seine Freunde, aber nicht irgendwelche Fremden, denen man geholfen hatte, ungesehen in eine Stadt einzudringen. Und doch musste Desiderius schmunzeln, sah sich schon mit Rahff am Rande einer Grube sitzen, Wein trinken, grölen und ausgelassen feiern, während Jungen zu Männern wurden. Sie würden sich einander zu lehnen, im Geheimen flüstern, sich an diesen Tag und dieses Gespräch erinnern.

Sie würden etwas teilen, nur er und Rahff.

Ein ungewohntes Gefühl schlich sich in Desiderius` Brust. Schüchternheit. Er schürzte die Lippen und zupfte an den Überresten seines Mahls. Der Fisch war zerrupft, es waren nur noch Haut, Gräten und der Kopf übrig.

»Versprochen?«, hakte er nach und hob fordernd den Blick. »Du lädst mich ein, dich zu besuchen?«

Für einen Moment stockte Rahff, er wirkte sogar überrascht, hatte nicht damit gerechnet, ernst genommen zu werden. Schließlich lächelte er sein breites Lächeln, das ihm von allen Männern in ihrer Welt eigen war. »Aber natürlich! Es wird mir ein Vergnügen sein, einem Nordländer zu zeigen, wie man richtig feiert!«

Er lachte, und Desiderius lachte mit, fühlte sich aber nicht amüsiert.

Rahff hatte ihm ein Versprechen gegeben, und er würde ihn darauf festnageln. Ihn daran erinnern. Nicht, weil er kleinlich gewesen wäre, sondern weil ihm bisher nie jemand etwas versprochen hatte. Weil er … nirgendwo ein Tor kannte, das bereitwillig für ihn geöffnet wurde und ihm Einlass bot.

Auch Rahff verlor schnell seinen heiteren Ausdruck, als er Desiderius` in sich gekehrte Miene bemerkte. »Ich vergesse niemals diejenigen, die mir geholfen haben, Desi«, versicherte er mit einer Entschlossenheit, die Desiderius tatsächlich Hoffnung schenkte. »Egal was passiert, ob wir nun erfolgreich in die Stadt eindringen oder nicht, du hast versucht, mir zu helfen, und das werde ich dir nie vergessen. Also ganz gleich was geschehen mag, sei dir gewiss, meine Tür wird dir in aller Freundschaft offenstehen. Sofern ich denn jemals wieder eine Tür besitzen werde.« Mit einem Mal wurde Rahffs Blick dunkel. Matt fügte er an: »Sofern der Fluch es zulässt.«

Diese Worte vermittelten dem einsamen Geist eines ruhelosen Vagabunden tatsächlich so etwas ähnliches wie Vertrauen. Warmes, schüchternes Vertrauen. Desiderius war dieser Junge ohne Heimat, dessen war er sich bewusst. Er nannte das gesamte Land sein Zuhause, doch es gab nirgendwo eine Tür, die ihm jemand freiwillig geöffnet hätte. Kein Bett, das er sein Eigen nannte, kein Dach, unter dem er Schutz suchen konnte, und keine Wände, die ihn umschließen würden. Und ganz gewiss keine Hand, die ihm einen Becher Wein reichte. Er war allein. Immer schon allein. Hatte geglaubt, es nicht anders zu wollen. War zufrieden damit gewesen.

Doch die Aussicht auf einen Freund, der einem in der Not die Tür öffnet, oder wenn man sich doch einmal einsam fühlte … das war in diesem Moment das mit Abstand Wertvollste, das Desiderius je besessen hatte.

Seltsamer Weise glaubte er Rahff sogar, obwohl er es nicht wollte. Er kämpfte dagegen an, jemanden zu vertrauen, wusste er doch, dass es so etwas wie Freundschaft nicht gab.

Oder doch? War Rahff einfach anders als die Menschen, die Desiderius bisher getroffen hatte?

Eines war gewiss, es würde ihm schwerfallen, Rahff einfach allein weiter ziehen zu lassen. Auch wenn ihm bewusst war, dass er gar keine andere Wahl hatte.

Er schnaubte über Rahff und rang sich ein freches Schmunzeln ab. »Wir kennen uns doch gar nicht, doch du willst mir vertrauen?«

Rahff zuckte grinsend mit den Schultern. »Du hast mir in der Not einen Becher Wein ausgegeben. Da wo ich herkomme, bedeutet das etwas.«

»Und was?«, hakte Desiderius skeptisch, jedoch nicht minder neugierig nach.

Der Gigant zeigte ein neueres Lächeln. Leicht, geschlossen. Geheimnisvoll. »Du warst derjenige, der mir einen ausgab. Ich denke, du weißt, was es bedeutet.«

»Nein. Keine Ahnung«, hielt Desiderius schnell dagegen.

Dafür hatte Rahff lediglich ein müdes Blinzeln übrig.

Vielleicht, dachte Desiderius, hatte es eine Bedeutung. So wie die Tatsache, dass er dem Giganten das Leben gerettet hatte, obwohl er ihm nie zuvor begegnet war. Möglicherweise hatte im Leben alles irgendeine Bedeutung, gänzlich unbewusst. Denn für gute Taten war er gewiss nicht bekannt. Er senkte den Blick, ehe seine verräterischen Augen seine Gedanken preisgaben. Vielleicht war alles, was er gegenüber Rahff getan und gesagt hatte nur einem egoistischen und gefährlichen Grund entsprungen. Schlichtweg der Tatsache, dass Rahff ein Sehnen in ihm auslöste, das verboten war.

Desiderius schämte sich nicht dafür, das hatte er noch nie, er genoss dieses Gefühl, das Begehren und das Kribbeln in seiner Brust, das Magenziehen, die Wärme in seinen Gliedern. Er grämte sich nicht deswegen, denn niemand konnte es ihm ansehen. Und er genoss es, in diesen verbotenen Gefühlen zu ertrinken, sie zuzulassen und in ihnen zu schwelgen. In Gedanken stets die Körper derer Männer, die seinen Blick magisch anzogen. Niemals wäre ihm in den Sinn gekommen, sie anzufassen, ihre Muskeln waren so etwas wie eine persönliche Religion. Unantastbar, aber anbetungswürdig. Er sah sie gerne an, spürte das heiße Prickeln auf seiner Haut, und zog sich zurück, um stundenlang daran zu denken, wie sie sich anspannten und unter der Haut bewegten; um das Gefühl des Sehnens auszukosten. Deshalb mochte er Rahffs Nähe, Rahffs Blick, sogar Rahffs Duft. All das verursachte das stärkste aller Gefühle, das er je verspürt hatte. Sehnsucht.

»Ich muss mal.« Er stand eilig auf, ohne Rahff eines Blickes zu würdigen, und verschwand durch einen dichten Lorbeerbusch in den Wald, wo er blieb, bis das Ziehen in seinem Unterleib abklang und er ohne auffällige Beule zurück zum Lager gehen konnte.

Als er wieder zurückkam, war die Sonne bereits untergegangen, sodass die rotglühenden Kohlen des Feuers das graue Licht der Dämmerung aus ihrem Lager vertrieb.

Rahff lag auf dem Rücken auf seinen Decken, die honigbraunen Augen geschlossen. Auf seiner Brust lag erschöpft und voll gefressen der kleine Nebelkralle und schnurrte schläfrig. Rahff strich mit einer Pranke durch sein sandfarbenes Fell, die andere Hand hielt den kleinen Fellpopo fest. Der Gigant summte leise, dunkel und kehlig. Ein wundervoller Ton, der Desiderius` empfindlichen Luzianer-Gehör schmeichelte und das Sehnen in seiner Brust wieder anschwellen ließ.

Rahff war … er hatte einfach … er besaß schlicht eine Anziehungskraft, der sich Desiderius nicht entziehen konnte.

Desiderius übernahm die erste Wache, das hatten sie bereits in der ersten Nacht abgesprochen. Wenn er allein in den Wäldern unterwegs war, schlief er nie länger als eins, zwei Stunden, und stets mit einem offenen Auge. Das machte ihm für gewöhnlich nichts aus, er kannte es nicht anders. Doch wenn er Wache halten musste, dann bestand er stets auf die erste, damit er schlafen konnte, bevor der Tag anbrach. Es gab nichts ermüdenderes für ihn, als zuzusehen, wie die Sonne langsam am Himmel emporkroch und es wieder hell wurde.

Desiderius schlief gerne in den Tag hinein. Er stand auch gerne früh auf, lief durch den Wald, jagte, sammelte Beeren, doch er liebte es, die Freiheit zu haben, sich am Nachmittag auf einen breiten Ast zu legen oder an einem Bach ins weiche Gras zu fallen, um in den frühen Abend hinein zu dösen.

Keine Verpflichtungen, keine Verantwortung. Das war es, was er liebte. Die Freiheit, hingehen zu können, wohin er wollte, sein eigener Herr zu sein.

Doch Markesh wollte ihm Fesseln anlegen, genau wie Desiderius` leiblicher Vater, der ihn ins Kloster zum Lernen geschickt hatte. Alle wollten ihn festhalten, ihn formen, dabei war er wie ein Diamant und schwer zu schleifen. Desiderius musste sich davon befreien, musste die Fesseln lösen. Deshalb hatte er die goldenen Rubinketten gestohlen und verkauft. Er brauchte das Silber, um ohne Markesh zu überleben. Zudem standen sie ihm zu, immerhin war sein Anteil an der Beute seit Jahren zurückgehalten worden.

Desiderius setzte sich am Rande des Lagers an einen Baum und lehnte den Rücken an den rissigen Stamm. Außerhalb des Lichtscheins der Glut, würden mögliche Angreifer ihn nicht bemerken. Später würde Desiderius ab und an eine Runde um ihr Lager laufen, alles erkunden und im Blick behalten, wie er es in der Diebesgilde gelernt hatte.

Aber zunächst legte er den Hinterkopf an den Baum und lauschte Rahffs anschwellenden Kehlkopfgesang in der Nacht. Es klang traurig, sehnsüchtig, Desiderius glaubte, Rahffs Heimweh in seinem Gesang zu hören. Und es tat auch ihm weh.

Gewiss würden Räuber auf die Laute aufmerksam werden, doch der Fluss rauschte und Rahffs dunkle Stimme war schlichtweg zu animalisch, um ihn zu unterbrechen. Irgendwo heulte ein Wolf, als wollte er Rahff antworten.

Leise atmete Desiderius durch, zufrieden, entspannt wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Vielleicht sogar wie noch nie. Ein ungewohnter Frieden überkam ihn, wusste er sich doch in Gesellschaft eines Mannes, der ihm zweimal das Leben gerettet hatte, obwohl er es nicht hätte tun müssen. Ein Mann, der ihn zu verstehen schien, solange er dessen einsamen Gesang lauschte.

Er fühlte sich beschützt, fühlte sich verstanden. Und er genoss es.

Herz des Südens

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