Читать книгу Herz des Südens - Billy Remie - Страница 8

Kapitel 3

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Mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtete er seinen Gegenüber.

Dieser Mann sah nicht nur aus wie ein Tier, er fraß auch wie eines.

Und diese Tatsache stellte ausgerechnet ein Dieb und Vagabund fest, der tagtäglich mit Männern wie ein wilder Hund um sein Essen kämpfen musste.

Dieser Silberlöwe, wie er sich selbst betitelte, inhalierte förmlich die wässrige Rübensuppe, die Desiderius ihm gekauft hatte.

»Ihr müsst hungrig sein.« Es war nicht zu übersehen…

Der Fremde hielt mit dem Holzlöffel vor seinem Mund inne und starrte über die Schüssel hinweg Desiderius finster an. Er hatte wohl herausgehört, dass dies kein Ausdruck der Besorgnis gewesen war. Seine vollen Lippen glänzten warm im Kerzenschein unter der Kapuze seines Mantels hervor, die er auf Desiderius` Rat hin hochgezogen hatte.

Es war klüger, wenn vorerst niemand Lord Silberlöwen erkannte. Auf einen weiteren Kampf konnte Desiderius wahrlich verzichten, ihm taten immer noch die Gelenke weh. Es war gar nicht so leicht, gegen Ritter zu anzutreten. Glücklicherweise waren sie recht langsam und ziemlich überrascht von ihm gewesen. Ansonsten wäre der ganze Spaß wirklich übel für ihn ausgegangen.

Suppe tropfte von dem wulstigen Mund seines neuen Bekannten zurück in die winzige Tonschale, die angesichts der Statur des Mannes niemals ausreichen würde, um ihn mit genügend Nahrung zu versorgen.

»Du kannst mich duzen.«

Desiderius schnaubte mit einem schiefen Lächeln. »Das entscheide ich immer noch selbst.« Ihm war jedoch nicht entgangen, dass Rahff von der höflichen Anrede in ein freundschaftliches »Du« gewechselt war, als Desiderius ihn auf einen Becher Wein einlud. Gebirgsmenschen waren wirklich leicht zu gewinnen. Gib ihnen was zu Saufen, und du hast einen Freund fürs Leben, so sagt man.

Desiderius war schwerer zu überzeugen. Er wahrte vorerst einen gewissen Abstand.

Nachdem Rahff sicher war, dass Desiderius nichts mehr dazu sagen würde, aß er weiter. Er hielt sich nicht mit Förmlichkeiten auf und schlang die Suppe ungeniert in sich rein.

Desiderius konnte nicht aufhören, ihn anzustarren. Er war unter Männern aus dem Volk der Menschen aufgewachsen, aber darunter waren keine aus dem südlichen Gebirge gewesen. Alle Geschichten über ihre Größe erwiesen sich als wahr. Diese Männer waren Riesen! Kolosse! Vor ihm saß ein Gigant, sodass er sich um die knacksende Bank der dunklen Schenke sorgte, auf jener Rahff saß. Die gesamte, zwielichtige Absteige, in der sie sich eingefunden hatten, schien zu klein für diesen Mann. Er musste sogar beim Essen geduckt sitzen, weil sein Kopf sonst zwischen zwei morschen Deckenbalken verschwunden wäre.

Dabei war Desiderius keineswegs klein, im Gegenteil, für sein Volk – die langlebigen Luzianer – war er recht hochgewachsen. Aber Rahff übertraf ihn um mehrere Kopflängen.

Erstaunlich.

Und beunruhigend, wenn man ihn sich zum Gegner machte.

Noch ein Grund mehr, ihm sein Gehör zu schenken. Es konnte schließlich nicht schaden, in der Schuld eines Giganten zu stehen.

Doch wenn Desiderius ehrlich war, konnte er sich selbst nicht erklären, was ihn zu seiner ersten und wohl auch letzten großen Tat aus Nächstenliebe getrieben hatte. Er war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.

Dabei hatte Desiderius lediglich den hageren Mann in dem schicken Umhang verfolgt, der sich mit dem Silberlöwen in einer dunklen Gasse getroffen hatte. Desiderius war darauf aus gewesen, den Kleineren zu überfallen, sofern dieser allein weiter gehen würde, weshalb er gewartet hatte. Der unbewaffnete Mann wäre leichte Beute gewesen, hätte Desiderius der Anblick des Giganten nicht derart fasziniert, dass er lieber diesen beobachtete, statt gleich der leichten Beute nachzujagen. Deshalb hatte er mitbekommen, wie Rahff angegriffen wurde, und aus einem reinen Bauchgefühl heraus, hatte er diesem … diesem Bären aus der Patsche geholfen.

Bär, genau! Es traf ziemlich deutlich die Statur und das Auftreten Rahffs. Groß. Mächtig. Bärig.

Auch jetzt noch konnte Desiderius nicht die Augen von ihm abwenden, obwohl er instinktiv spürte, dass der Kerl Ärger bedeutete.

Das Unglück haftete an dem Giganten, wie die Motte, die um die heiße Flamme der Kerze herumschwirrte, die auf ihrem Tisch stand und sie sanft beleuchtete.

Rahff war unübertrieben groß und breit, wie ein Berg. Die massiven Muskeln der Arme und Brust konnten nicht unter all den Schichten aus Bärenleder, Pumapelzen und schwarzer Wolle verschwinden, die er am Leibe trug. Eine hübsche Rüstung hatte er an, dunkel und robust, dick und warm für kalte Tage. Die Schultern besaßen polierte Eisenplatten, ebenso seine Garmaschen, die bei jeder Bewegung leise klimperten. Er trug einen beschlagenen Rundschild mit Stahlbuckel auf dem Rücken, das lange Heft eines Zweihänders ragte über seiner linken Schulter empor, und an seiner Hüfte baumelte eine runenverzierte Axt.

Alles an ihm schrie heraus, dass er ein Krieger war. Von Kopf bis Fuß. Es stand ihm sogar deutlich auf die kantigen Züge geschrieben. Die einzig weichen Gegebenheiten in seinem Gesicht waren seine vollen Lippen, die blass aus einem dichten, dunklen Bartschatten heraus schimmerten, und die dunkelbraunen, dicken Haarlocken, die seine breite Stirn kaschierten und im Widerschein der Kerze rötlich schimmerten. In seinen honigbraunen Augen lauerte eine Kampferfahrung und Rachelust, die sogar einen gestandenen Gauner wie Desiderius den Atem stocken ließen.

Und noch mehr, er bekam eine Gänsehaut. Aber keine der unangenehmen Sorte.

Es wäre doch eine Schande gewesen, ein solches Prachtexemplar von einem Giganten sterben zu lassen, hinterrücks abgestochen von den eigenen Leuten, in den Gassen der Schwarzen Stadt, Hochburg der Gauner, wo er wochenlang vor sich hin gestunken hätte, bis er letztlich über die Klippen in das Tobende Meer geworfen und für immer verschwunden wäre.

Desiderius liebte sein Zuhause bedingungslos, aber Rahff hatte hier gewiss nichts verloren, wenn er sein Leben behalten wollte. Dieser verkommene Ort, die Violetten Küsten – ein stürmischer, kalter Küstenabschnitt Nohvas, der immerwährend nach salziger Seeluft roch und schmeckte – war die einzige Zuflucht, die Desiderius und Seinesgleichen kannten, weshalb es sofort auffiel, wenn sich Fremde hierher verirrten. Vor allem, wenn sie blaublütig waren.

Es war dem Silberlöwen leider recht deutlich anzusehen, dass er keiner von ihnen war. Und offensichtlich wollte er es auch nicht sein, wenn Desiderius ihn richtig verstanden hatte.

»Euer Onkel hat also Euren Vater ermordet und sich Eure Burg unter den Nagel gerissen«, wiederholte Desiderius das, was er aus der Unterhaltung mit Rahff entnommen hatte.

Der bärige Gigant nickte lediglich, er war zu sehr mit dem Essen beschäftigt, um zu antworten.

Desiderius musterte das Gesicht unter dem Umhang, einige dunkle Strähnen verhingen die finstere Miene darunter, trotzdem waren die tiefen Lachgrübchen und die Krähenfüße in den Augenwinkeln schwerlich zu übersehen. Silberne Strähne durchzogen Bart und Haar.

»Nehmt es mir nicht übel, aber … nun ja, ich hätte nicht erwartet, dass Ihr … dass Ihr noch einen Vater habt …« Vielleicht hatte der Gigant sich bei seinem Fall in der Gasse den Kopf am Boden angeschlagen und einige Dinge durcheinandergebracht. Soweit Desiderius wusste, wurden Menschen nicht sonderlich alt. Fünfzig, sechzig Sommer? Und Rahff … nun ja, er schätzte Rahffs Alter auf mehr als vierzig Sommer. In diesem Alter sollte er längst das Erbe seines Vaters übernommen haben. Wie viele Jahrzehnte blieben ihm noch? Zwei oder drei? Wie alt sollte also dessen Vater bei seiner Ermordung gewesen sein…?

Einige Dinge passten für Desiderius nicht zusammen.

»Mein Vater erfreute sich eines sehr langen Lebens«, nuschelte Rahff mit dem Holzlöffel im Mund. »Er hat … er hatte sechsundsechzig Winter überlebt. Den diesjährigen Schnee wird er nicht sehen.«

Desiderius hörte die Trauer und ebenso die Wut aus Rahffs Stimme, was ihm doch tatsächlich ein Quäntchen Mitleid empfinden ließ. Da er allerdings keinerlei Liebe für seinen eigenen Vater aufbrachte, fiel es ihm schwer, Rahffs Verlust gänzlich zu verstehen.

»Tja«, er rutschte unbehaglich auf seinem Platz hin und her, »das ist ja richtig scheiße für Euch gelaufen, hm? Erst will der Vater nicht abkratzen und dann bringt Euch Euer Onkel um das langersehnte Erbe. Mein Beileid.« Desiderius` Mitgefühl klang alles andere als aufrichtig, was Rahff jedoch unkommentiert ließ, sofern es ihn denn überhaupt kümmerte, ob ihm wegen seiner Situation Mitleid entgegengebracht wurde. Rahff wirkte auf den ersten Blick dann doch recht abgebrüht.

»Und wie soll ich Euch helfen? Klingt mir eher danach, als bräuchtet ihr dringend eine verdammt große Armee«, fuhr Desiderius skeptisch fort. »Und ich bin nur ein einfacher Vagabund.«

Rahff brummte, was wohl bedeuten sollte, er würde gleich darauf antworten, sobald er die Schüssel ausgeleckt hatte. Nachdem er damit fertig war, blickte er ziemlich betrübt in die leere Schale, als erhoffte er sich, sie wäre auf magische Weise wieder aufgefüllt.

Frustriert warf er die Schale auf den Boden, wo sie laut klirrend in tausend Teile zersprang. Köpfe drehten sich nach ihnen um. Desiderius blickte unruhig durch die Schenke. Sein schiefes Lächeln sagte: »Er ist aus dem Gebirge, was erwartet ihr?«

Glücklicherweise befanden sie sich in Gesellschaft fragwürdiger Halunken, sodass sich niemand weiter um sie scherte, als Rahff sich den Rest der Suppe mit dem Unterarm von den vollen Lippen wischte. Solang kein Streit entfachte, in den sie sich mit ihren Fäusten einmischen konnten, würden die anderen Gäste Desiderius und seinen Begleiter nicht weiter beachten. Wobei dieser sich für einen Adeligen wahrlich unsittlich benahm.

Nicht, dass es Desiderius abgeschreckt hätte. Das Verhalten des Giganten irritierte ihn lediglich ein wenig.

Rahff rülpste ungeniert.

Desiderius blickte ihm wieder ins Gesicht. »Ihr seid ein Tier«, sagte er trocken.

»Danke.« Rahff hielt die Bemerkung tatsächlich für ein Kompliment. Er griff nach seinem Weinbecher und leerte ihn in einem Zug, wobei ihm rote Rinnsale über die vollen Lippen tröpfelten.

Nachdem auch der Wein geleert war, landete der Becher ebenso wie die Schale auf dem Boden. Es war wohl Sitte in ihrem Haus, das Geschirr auf dem Boden zu zerschellen. Scheint, als hätten die Gebirgsmenschen einen Überfluss an eifrigen Töpfern.

»Wir stammen eindeutig aus verschiedenen Welten«, murmelte Desiderius kopfschüttelnd. Dabei war er der Gesetzlose, und Rahff der Adelige.

»Ich brauche jemanden, der mich nach Dargard bringt«, verkündete Rahff schließlich. Seine honigfarbenen Augen funkelten warm im Widerschein der Kerzenflamme, als sie sich in Desiderius` bohrten. Die Iris flimmerte wie die Oberfläche eines Honigtopfs. Weich und sinnlich.

»Zur Hauptstadt?«, hakte Desiderius verwundert nach. Er konnte sich kaum von Rahffs Blick losreißen. Noch niemals hatte er sich auf eine derart unangenehme Art gefangen gefühlt.

Rahff nickte. »Ja.« Er schien Desiderius` blickloses Starren nicht zu bemerken.

»Wisst Ihr denn nicht, wo sie sich befindet? Guter Mann, kennt Ihr denn keine Karten im Gebirge? Jedes Kind könnte Euch den Weg weisen.«

Der Gigant ließ die Schultern mitsamt seinen Mundwinkeln hängen. »Veralberst du mich, Bursche? Oder bist du wirklich so begriffsstutzig?«

»Pah!« Desiderius verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. Jeder Zauber aus den honigwarmen Augen war dahin, als er sich angegriffen fühlte. »Für jemanden, der meine Hilfe in Anspruch nehmen möchte, werdet Ihr mir eindeutig zu frech.«

Tatsächlich grinste der andere Mann. Er grinste! Desiderius hätte ihm den dämlichen – deutlich zu arroganten – Gesichtsausdruck gerne aus dem Gesicht geschlagen. Er fühlte sich beleidigt.

»Mein Onkel lässt nach mir suchen, er hat sogar meine ältesten Freunde gegen mich aufgebracht!«, erinnerte Rahff ihn anschließend ernst. »Und er ist nicht einfältig, er konnte mich sogar hier, in der Schwarzen Stadt, aufspüren! Natürlich rechnet er mit meinem Versuch, Hilfe von der Krone zu erbitten!«

Desiderius begann zu verstehen …

»Ich kann nicht einfach nach Dargard reinspazieren! Spätestens, wenn ich durch eines der Stadttore schreite, wird man mich verfolgen und bei der ersten Gelegenheit töten. Um jeden Preis! Ich brauche Hilfe, um ungesehen von hier bis hin zum Palast des Königs zu gelangen.«

Einen Moment lang dachte Desiderius über Rahffs Worte nach. Er nagte nachdenklich auf seiner Wange und runzelte skeptisch seine Stirn. »Hm.«

Rahff blinzelte irritiert. »Hm?«, wiederholte er Desiderius` geschnaubten Laut. »Mehr hast du nicht dazu zu sagen?«

»Doch.« Desiderius zuckte mit gekreuzten Armen gelassen die Schultern. »Scheiße.«

Rahff war für einen Moment sprachlos. Er hatte sich statt dieser Teilnahmslosigkeit wohl mehr Gefühlsregung erhofft. Doch was kümmerte es Desiderius, ob irgendein Mensch von einem anderen Menschen um seine Burg gebracht wurde? Was hatte das mit ihm zu tun? Nichts! Wenn er es recht bedachte, klang die ganze Geschichte danach, sich so weit wie möglich von dem Silberlöwen fernzuhalten, wenn man denn nicht mit aufgeschlitzter Kehle in irgendeiner Abwasserrinne enden wollte. Und Desiderius hing sehr an seinem bescheidenen Leben. Es war nicht gerade ein ruhmreiches Leben, aber er würde es trotzdem gern behalten.

Außerdem wagte er zu bezweifeln, dass Rahff seine Burg je zurückbekam. Er war allein! Wie sollte ein Mann allein eine Armee aus Verrätern besiegen? Dieser Rachefeldzug war bereits in diesem Moment, während sie hier saßen und darüber sprachen, zum Scheitern verurteilt. Und Desiderius würde nicht den Fehler begehen, sich da hineinziehen zu lassen.

Oh nein, er hatte damit nichts zu tun! Gar nichts!

»Na prima«, seufzend rieb Desiderius sich den verspannten Nacken, »ich werde meinen Beutel Silber also nicht bekommen.« Und dafür hatte er einen Taler über die Theke wandern lassen, um dem Silberlöwen eine Suppe zu spendieren. Für nichts! Stunden des Geredes und es kam doch nichts dabei herum. Außer dem Tod. Und der wunderbaren Geschichte, wie Desiderius einst einen Giganten traf.

Immerhin etwas, das er am Lagerfeuer zum Besten geben konnte. Falls er jemals Gelegenheit haben sollte, mit jemand anderen, außer einsamen Schatten dort zu sitzen.

»Du bekommst dein Silber«, versicherte Rahff, »und sogar noch mehr. Ich werde dir einen edlen Hengst mit Satteltaschen voller Taler schenken. Alles, was du dafür tun musst, ist, mich ungesehen zum Palast zu bringen. Für einen Dieb sollte es dir doch möglich sein, mich ungesehen in die Stadt zu schmuggeln.«

»Nein, das ist nicht alles«, hielt Desiderius dagegen, »ich muss mehrere Wochen nach Süden reisen, mit einem Mann im Schlepptau, der von niemanden gesehen werden darf, aber so groß wie ein verdammter Oger ist!«

Rahff zog unter der Kapuze arrogant eine Augenbraue in Richtung Haaransatz. »Ich rieche jedoch angenehmer.«

»Das bleibt zu bezweifeln.«

Der Silberlöwe lachte über den Seitenhieb. Er lachte! Da, wo Desiderius herkam, hätte man ihm für diese Bemerkung eine Ohrfeige verpasst. Oder schlimmeres. Die Fußsohlen hätten sie ihm ausgepeitscht.

Aber das war eine andere Geschichte, die er in den letzten Jahren aus seinen Erinnerungen verbannt hatte. Er war nur ein Vagabund von Nirgendwo, der Sohn einer Hure. Mehr wollte er nicht sein. Und er würde auch nichts anderes werden!

»Vergebung«, Desiderius trank seinen Becher aus und knallte ihn geleert auf den Tisch, »aber ich hänge an meinem Leben. Sucht Euch einen Mann, der verzweifelter ist.«

Rahffs Hand preschte so schnell wie der Biss einer Schlange über den Tisch und legte sich schwer auf Desiderius` Arm, als dieser aufstehen wollte. Halbaufgerichtet hielt Desiderius inne und starrte auf die Stelle, wo die Pranke des Silberlöwen ihn festhielt. Selbst durch das Leder seiner Garmaschen fühlte er die Wärme des anderen Mannes.

»Auf der Reise werde ich selbstredend für deine und meine Sicherheit sorgen. Aber ein zweites Paar Augen und ein guter Überlebenskünstler wäre von Vorteil für mich. Sobald du mich unbemerkt in Dargard reingebracht hast, kannst du wieder deiner Wege gehen.«

»Woher wollt Ihr wissen, dass ich ein Überlebenskünstler bin?«

Rahff lächelte schief, als er Desiderius musterte. »Du siehst nicht aus, als wärest du ein Bettler. Und irgendwie scheinst du ganz gut genährt für einen Mittellosen. Vagabunden sind doch recht bekannt für ihre Fähigkeiten, in der Wildnis zu überleben. Komm schon, Bursche! Es wird sich für dich lohnen.« Das seltsame Aufblitzen in Rahffs Augen sprach die Sprache aller Habgieriger. Es erzählte von vielen fetten Säcken Reichtümern.

Offenbar hielt er Desiderius für einen Geier.

Warum ihn das verletzte, wollte Desiderius lieber nicht tiefer ergründen. Er schob es seinem Übermaß an Stolz zu, dass er es nicht leiden konnte, wenn man ihn für nichts weiter als einen habgierigen Gauner hielt.

Ein Gesetzloser war er gewiss, doch niemals habgierig. Er nahm sich nur das, was er zum Überleben brauchte. Niemals mehr! Aber ein Edelmann würde das nie verstehen, seien seine Sitten auch noch so fragwürdig.

Desiderius schüttelte Rahffs Hand ab und stieg von der Bank. »Und wie wollt Ihr mich entlohnen? Wenn ich Euch in Dargard verlasse, habt Ihr immer noch kein Silber.«

»Ich werde dich finden! Oder du kommst zu mir auf die Burg«, konterte Rahff. »Mach dir darüber keine Sorgen, ich vergesse meine Schulden nicht. Ich vergesse dich nicht. Du hast mein Wort!«

Desiderius warf sich seinen Umhang über die Schultern und verknotete ihn unter seinem spitzen Kinn. »Was zählt das Wort eines Fremden? Ich kenne Euch doch gar nicht.«

»Ich halte immer mein Wort!«, behauptete der Silberlöwe.

Desiderius lächelte spöttisch. »Ja … sicher … aber wie gesagt, ich kenne Euch nicht. Und ich werde mich nicht in die Intrigen und Spiele blaublütiger Edelmänner einmischen. Wir wissen doch beide, dass ich der erste bin, der dabei drauf geht. Nein, danke.«

Die Verzweiflung in Rahffs Augen war beinahe im Raum spürbar. Er sah mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Wut zu Desiderius auf. »Du willst dir ein gutes Geschäft durch die Finger gehen lassen?«

»Ihr verwechselt mich mit jemanden, der alles für ein paar Taler Silber tut«, konterte Desiderius, während er die Riemen seines leichten Harnischs enger zog, »aber so jemand bin ich nicht. Ich habe Prinzipien. Und Regeln. Ich halte mich von Intrigen fern und riskier meinen Kopf nicht für etwas Silber, wenn ich in der Wildnis schlafen und essen kann. Sucht Euch einen anderen.«

Der Gigant knirschte verbissen mit den Zähnen. Er war es augenscheinlich nicht gewohnt, abgewiesen zu werden. »Ich kann niemanden bezahlen. Und du warst schon einmal hilfsbereit. Ich dachte …« Er verstummte ärgerlich, als Desiderius zu lachen anfing.

»Vergebung«, er gluckste weiterhin amüsiert und wischte sich eine Lachträne aus dem Auge, »aber verwechselt den Umstand, dass ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, nicht mit Nächstenliebe. Ihr hattet lediglich Glück, dass ich Euch interessant genug hielt, um Euch nicht einfach hier in den Straßen verrotten zu lassen. Ich wollte Eure Geschichte erfahren, mit einem Giganten speisen und reden. Ich war neugierig, mehr nicht. Euer Schicksal könnte mir nicht weniger am Herzen liegen.«

»So, so.« Statt von Desiderius` fragwürdigen Beweggründen angewidert zu sein, grinste Rahff schelmisch. »Meine Gestalt ist also interessant für dich, Bursche?«

Hatte der Gigant nicht mehr aus dem Vortrag entnommen?

Desiderius schnaubte wie ein Pferd. »Habt Ihr je Euer Spiegelbild erblickt? Ihr seid ein wandelnder Bär auf zwei Beinen! Das wird mir niemand glauben!«

Rahff lachte leise in sich hinein, er schüttelte dabei über Desiderius` Naivität den Kopf.

Verärgert kreuzte Desiderius wieder die Arme vor der Brust. »Was ist?« Er konnte es nicht ausstehen, wenn sich jemand über ihn lustig machte!

Rahff sah amüsiert zu ihm auf. Dabei leuchteten seine braunen Augen wieder im Kerzenschein. Warm. Einladend. Verlässlich …

Lügen! Desiderius war zu zynisch, um sich von vertrauenswürdigen Augen einlullen zu lassen.

»Alle Menschen aus dem Gebirge sind fast so groß wie ich«, erklärte Rahff schließlich belustigt.

Desiderius geriet ins Stocken. »Ehrlich?«

Der Silberlöwe nickte. »Ja! Warst du nie dort?«

»Nein.«

Interessant! Es wäre doch eine Reise dorthin wert, um diese Behauptung zu prüfen. Aber gewiss nicht zu dem Preis, seinen Kopf zu riskieren. Er würde ein paar Jahre warten, bis im Süden wieder Ruhe eingekehrt war.

Obwohl, sollte dort zur Zeit Chaos herrschen, würde Desiderius leicht Beute machen können. Andererseits war er gewiss nicht der Einzige, der auf diese glorreiche Idee gekommen wäre, womit er es dann mit habgierigen Plünderern zu tun hätte, die einen einsamen, jungen Dieb nur zu gerne die Ohren stutzten, anstatt ihm etwas von ihrer Beute zu überlassen.

»Nun gut«, er blickte wieder auf Rahff hinab, »ich wünsche Euch gutes Gelingen und …« Er winkte ab. »Ach, was man eben noch so wünscht, bevor man geht. Gehabt Euch wohl … und so …«

Rahff verzog genervt das Gesicht, er versuchte nicht noch einmal, Desiderius aufzuhalten. Vermutlich hatte er endlich erkannt, dass er den falschen Mann in seine Dienste rufen wollte. Immerhin war ein Vagabund kein Söldner. Ein Vagabund war ein Herumtreiber und Taugenichts, dem Ehre und Loyalität nichts bedeuteten. Zumindest definierte Desiderius sein Dasein auf diese Weise.

»Falls du deine Meinung änderst«, setzte Rahff noch hoffnungsvoll hinterher, »ich bleibe noch eine Weile hier und halte mich bedeckt. Du findest mich sicher.«

Mit einem angedeuteten, spöttischen Knicks wollte Desiderius sich geschmeidig vom Acker machen, wie man so schön sagte, als jedoch die Vordertür aufflog und er beim Anblick der neu eingetroffenen Gäste erbleichte.

Sie kamen mit viel Lärm und Gegröle hereingestolpert. Abgehalfterte Banditen in dreckigen, abgefressenen Umhängen, die niemals nüchtern waren und an jeder Ecke Ärger machten. Männer, vor denen sogar die widerwärtigsten Huren flohen. Sie brachten eine Grabeskälte und den Gestank von feuchtem Moor und Tod mit in die Schenke.

Oh nein, warum ausgerechnet er

Ohne den Silberlöwen noch einmal anzusehen, wirbelte Desiderius herum, bevor der Neuankömmling ihn erblicken konnte, und eilte an der Bar vorbei. Der Schankwirt rief ihm erbost nach, dass er hinten nichts zu suchen hatte, doch Desiderius blieb nur der Weg zur Hintertür hinaus, wenn er entkommen wollte.

Kalte Luft schlug ihm entgegen, die Nacht hatte sich über die Schwarze Stadt gelegt, und der Wind ließ das nahe Meer noch lauter rauschen als am Tage. Leiser Nieselregel peitschte durch die Nacht und in Desiderius` Gesicht, als er sich die Kapuze seines Umhangs überzog und hoffentlich unbemerkt mit der Dunkelheit verschmolz.

*~*~*~*

Rahff sah sich verwundert über die Schulter, als der junge Bursche geradezu fluchtartig die Schenke durch die Hintertür verließ. Es hatte etwas in Desiderius´ Augen gelegen, das er diesem kaltschnäuzigen Wicht nicht zugetraut hätte: echte, blanke Angst.

Aber was versetzte den Vagabunden derart in Panik? Doch nicht etwa die halbwüchsigen Männlein in den schmutzigen Lumpen, die gerade zur Tür hereingekommen waren und den geradezu liebreizenden Duft der Verwesung hereintrugen.

Immerhin erschloss sich Rahff nun, weshalb Desiderius den Schwanz einzog, statt ihm helfen zu wollen, ganz gleich mit welcher Menge Silber er ihn auch lockte. Wer sich vor solchen Zwergen fürchtete, konnte nicht sonderlich mutig sein.

Rahff schnaubte und schüttelte den Kopf, als er sich wieder abwandte und nach dem Becher griff, den Desiderius zurückgelassen hatte. Er blickte in einen dunklen, leeren Schlund und verzog bedauernd die Mundwinkel. Kein einziger Tropfen war übrig.

Er warf den Becher zur Huldigung der Erdgöttin auf den Boden.

Nicht, dass er sonderlich gläubig gewesen wäre, jedoch wurden ihm gewisse Sitten angelernt, die er sich schwerlich abgewöhnen konnte.

Seufzend stützte er die Ellenbogen auf den von tiefen Kerben demolierten Tisch und rieb sich die brennenden Augen. Der Tag war ihm lang vorgekommen. Erst der Verrat seiner Freunde, dann die Begegnung mit diesem äußerst interessanten Vagabunden, bis hin zu dessen strikter Weigerung, einem armen Narren wie Rahff zu helfen.

Selbst dieser junge Bursche witterte, dass Rahffs Leben bereits versiegt war. Dabei war es Rahff vorgekommen, als steckte in Desiderius ein Funke… Aufrichtigkeit. Zumindest war er erfrischend ehrlich gewesen. Eine Tatsache, die Rahff gerade in seiner derzeitigen Situation sehr zu schätzen wusste. Von einem ehrlichen, wenn auch kaltschnäuzigen, Gefährten hatte er zunächst keinen Verrat zu befürchten. Wem sonst sollte er trauen, wenn sogar seine engsten Freunde ihn für die Aussicht auf Silber verrieten? Ein fremder Bursche, der ihn aus unerfindlichen Gründen das Leben gerettet und keine Scheu davor hatte, ihm ins Gesicht zu sagen, was er von ihm und seinen Vorschlägen hielt, war traurigerweise Rahffs letzte Möglichkeit gewesen, für eine weitere Weile zu überleben.

Letztlich war alles nur eine Frage des richtigen Moments und des richtigen Ortes, aber sehr bald schon würde Rahff einem Attentäter in die Arme laufen. Und noch immer hatte er keinen blassen Schimmer, wie er etwas an dieser Tatsache ändern konnte. Ohne einen einzigen Taler Silber in der Tasche und ohne einen einzigen Verbündeten standen seine Möglichkeiten schlecht, auch nur die Nacht zu überleben. Wo sollte er schlafen? Er traute sich nicht einmal aus dieser Schenke heraus. Wobei er sich eingestehen musste, dass er sich selbst hier beobachtet vorkam, obwohl niemand zu ihm rüber blickte. Er prüfte es selbst alle paar Augenblicke, indem er verstohlen unter seiner Kapuze umher sah.

Nun, da auch Desiderius gegangen war, erhielt kalte Einsamkeit Einzug in Rahffs Geist. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich klein in der Welt. Wie ein vertrocknetes Blatt, das vom Herbstwind auf das Meer hinausgetrieben wurde und in den unendlichen Tiefen der dunklen Gewässer unterging. Er war zum ersten Mal ganz allein auf sich gestellt. Ein Bär unter Wölfen.

Was, bei den verfluchten Göttern, sollte er denn jetzt bloß tun?

Plötzlich spürte er etwas Kaltes an seiner Kehle. Eine Dolchklinge, geführt von einer tätowierten Hand. Jemand trat in die Scherben auf dem Boden neben Rahffs Bank, sie knirschten laut unter dem schweren Stiefel. Ein langer Schatten fiel auf den Tisch.

»Zeig mir dein Gesicht, Fremder!«, forderte eine kratzige Stimme. Der Mann sprach mit der Autorität eines Menschen, der es gewohnt war, dass man ihm umgehend gehorchte.

Trotzig hob Rahff den Kopf. Ihm blieb nichts anderes übrig, da sich die geschärfte Schneide des Dolches in sein Kinn bohrte und es hochhob, bis Licht auf seine Züge fiel.

»Was haben wir denn hier?«, säuselte die hässliche Fratze, die über Rahff ragte.

Der Mann, dessen Dolchklinge Rahffs Kehle bedrohte, trug einen schlammigen Umhang über einem rissigen, dunklen Lederbrustpanzer, seine Beinlinge waren aus dünnem Stoff, was es ihm erlaubte, sich beinahe lautlos zu bewegen. Wurfdolche waren über seine Brust gespannt, ihre Griffe bewegten sich bei jeder Atmung auf und ab. Sein Gesicht war durch tiefe Kerben gezeichnet, vermutlich waren die Hautkrater Rückstände einer alten Pockenerkrankung. Eine lange, S-förmige Narbe zog sich über seine Stirn und verzerrte seine linke Augenbraue, sodass es wirkte, als blickte er durchweg skeptisch drein. Seine schmalen Augen, die Nase, deren Form einem Krähenschnabel gleichkam, und das untersetzte Kinn rundeten das Gesamtbild ab. Ein Widerling, wie er im Buche stand. In seinen kleinen, schwarzen Augen troff es nur so vor Bösartigkeit.

»Du bist ja ein ganz Hübscher«, züngelte der Fremde. Er klang wie eine Schlange, und tatsächlich streckte er Rahff provokant eine gespaltene Zunge entgegen. »Was führt den feinen Herrn hier her?« Er betonte das letzte Wort am Ende jedes Satzes, indem er es deutlich in die Länge zog.

Rahff seufzte und ersparte sich eine Antwort. Stattdessen nahm er die Arme vom Tisch und drückte den breiten Rücken durch, wodurch er auf Augenhöhe mit Krähenfratze war, obwohl er noch immer auf der Bank saß.

Krähenfratze verlor sein verdorbenes Grinsen, das böse Funkeln in seinen schwarzen Augen erlosch. Er sah sich nach allen Seiten um. Seine Gestalt war von fünf seiner Anhänger umringt. Die Männer waren nicht weniger hässliche Gestalten, deren stumpfe Blicke nichts Gutes erahnen ließen. Doch auch sie schienen von Rahffs Größe recht beeindruckt und dahingehend beruhigend kleinlaut.

Räuspernd nahm Krähenfratze die Klinge runter und steckte sie zurück in die Scheide unter seinen Umhang. Er streckte unscheinbar den Rücken durch, worüber Rahff nur schmunzeln konnte. Denn noch immer waren sie auf Augenhöhe. Vorausgesetzt, Rahff würde nicht aufstehen.

»Kann ich Euch irgendwie behilflich sein?«, hakte Rahff schließlich gelangweilt nach.

Erneutes Räuspern. Dann wieder diese kratzige, kalte Stimme: »Ihr habt Euch mit einem Jungen unterhalten.«

Es war keine Frage, Krähenfratze musste diese Information von einem der anderen zwielichtigen Gäste dieses bescheidenen Etablissements zugetragen worden sein. Vermutlich war er auf der Suche nach Desiderius. Was erklären würde, weshalb dieser so schnell verschwunden war.

Rahff schüttelte den Kopf und wandte den Blick wieder nach vorne, um zu signalisieren, dass er kein weiteres Interesse an einem Gespräch mit dem Fremden hatte.

»Mir kam zu Ohren, Ihr hättet mit ihm gespeist«, setzte Krähenfratze hinterher.

»Kann mich nicht erinnern«, log Rahff souverän.

»Meine Freunde hier erzählen etwas anderes.« Krähenfratze klang verärgert.

Rahff blickte zu ihm auf und hielt ihn lange mit seinem Blick gefangen. Kraftvoll. Drohend. Unbeugsam, wie er geboren wurde. »Dann haben Eure Freunde zu tief in ihre Becher gesehen. Ich sitze hier schon den ganzen Abend allein.«

Der geradezu überlegene Blick aus Rahffs ernsten Augen, ließ Krähenfratze seinen Zorn zurückhalten. Er beherrschte sich, so gut es einem Mann wie ihm möglich war, da er sich seine Chance, gegen Rahff zu bestehen, bereits ausgerechnet hatte.

»Vielleicht habt Ihr ihn ja gesehen. Ein grünäugiger, frecher Bengel. Groß, drahtig, rabenschwarzes Haar, Ziegenbärtchen. Wohin ist er gegangen?«, versuchte er auf andere Weise, Rahff Informationen zu entlocken. Vermutlich glaubte er, Rahff wollte sich nur aus Ärger heraushalten und würde dankbar jeden Strohhalm ergreifen, der ihn aus dem Blickwinkel der Bande zog. Ganz im Sinne von: Sag mir, wo er ist, dann lass ich dich in Ruhe.

Rahff dachte gar nicht daran. »Hab den Jungen nicht gesehen, Mann! Und jetzt verpiss dich!«

Das brachte Krähenfratze dazu, wütend die dünnen Lippen zu kräuseln. Er fuhr sich mit der tätowierten Hand unter die Kapuze und streifte sie ab. Ein kahlrasierter Schädel kam zum Vorschein, aus dem dunkle Stoppeln sprossen. Ein Kopf, geformt wie ein übergroßes Ei, mit dem Gesicht einer Krähe. Die rechte Schläfe und das Ohr waren ebenso wie die Dolchhand mit schwarzen Kreisen und Spiralen übersäht. Ewigwährende Hautbemalungen, wie man sie nur vom Volk der Waldmenschen kannte, zu jenem Krähenfratze jedoch nicht gehören konnte.

Waldmenschen waren schließlich dafür bekannt, Gewalt zu meiden, während dieses frevelhafte Exemplar eines Menschen, das sich gerade neben Rahffs Tisch anschickte, Rahff metaphorisch ans Bein zu pissen, Ausdruck purer, unverfälschter Gewalt war.

Krähenfratze fuhr mit den Fingern über die vielen goldenen Ringe, die seine Ohren zierten. Der Schmuck klimperte, es mussten je Ohr mehrere Dutzend Ringe an ihm hängen. Ein unglaubliches Gewicht, dass die Lauscher nach unten zu ziehen schien.

»Ich will Euch wirklich keinen Ärger machen, Fremder, wenn Ihr mir jedoch nicht helfen wollt, werden wir unsere Antworten wohl auf andere Weise aus Euch herausholen müssen.« Krähenfratze ließ provokant die Fingerknöchel knacksen.

Lächerlich! Rahff könnte ihm die Faust mit einer Hand brechen, so erbärmlich klein und gebrechlich war sie.

»Tatsächlich?« Gänzlich unbeeindruckt glitt Rahff von der Bank, die umgehend in ihre ursprüngliche Form zurücksprang, nachdem sein Gewicht ihre Fläche nicht mehr nach unten drückte. Er richtete sich zu voller Größe vor der Bande auf und warf einen Schatten auf ihre Gesichter. Die Männer wichen zurück, Krähenfratze musste den Kopf in den Nacken legen. Es wurde still in der Schenke, alle Gespräche verstummten, alle Köpfe drehten sich zu ihnen um.

Rahff stemmte seinerseits die linke Faust in seine rechte Hand. Das Geräusch seiner sich einrenkenden Glieder hallte dumpf im Raum wider. »Und wie, wenn ich fragen darf?«

Krähenfratze musterte Rahff, als überlegte er sich, ob die geforderten Informationen einen Faustkampf mit ihm wert waren.

»Dein Junge ist zur Hintertür raus, Markesh!«, mischte der Wirt sich unversehens ein, der wohl den Streit drohen fühlte und ihn zu unterbinden versuchte, bevor seine Schenke während eines Kampfes zu Bruch ging.

Rahff ließ sich seinen Ärger nicht anmerken, als er gemeinsam mit seinem neuen Freund Krähenfratze das Gesicht zu dem alten Mann umdrehte. Dieser trocknete gerade in aller Ruhe einen Teller mit einem stark verschmutzten Lappen ab. Im Kerzenschein beschrieben die tiefen Falten seines zerknitterten Gesichts schwarze Schattenlinien.

»Ist nicht lange her, hat sich sofort verdrückt, als ihr reinkamt«, er deutete mit dem Daumen über die Schulter, »vielleicht erwischst du ihn noch.«

Krähenfratze verlor keine Zeit, er nickte seinen Männern zu, deren finstere Gesichter unter den Kapuzen keine Regungen zeigten, als sie sich auf dem Weg machten. Noch einmal warf Krähenfratze einen Blick auf Rahff. »Glück gehabt«, meinte er, bevor er sich die eigene Kapuze wieder aufzog und seinen Männern mit weitausholenden Schritten nachfolgte.

Ein mulmiges Gefühl, das ihm beinahe fremd war, breitete sich wie eine Feuerflut in Rahffs Magen aus.

Weshalb Rahff nicht einfach berichtet hatte, was er über diesen grünäugigen, drahtigen Burschen wusste, lag für ihn deutlich auf der Hand. Desiderius hatte ihn gerettet, was für ein Mann wäre Rahff, würde er ihn bei der ersten Gelegenheit ans Messer liefern. Nein, Rahff hatte gelernt, dass eine Hand die andere wusch. Und vielleicht würde es ihn zum Vorteil gereichen, Desiderius zu decken.

»Ihr da!« Der Wirt machte Rahff auf sich aufmerksam. Er deutete mit einem anklagenden Finger auf die Scherben zu Rahffs Füßen. »Das werdet Ihr mir vergüten!«

Rahff blickte hinab auf die Überreste einer Schale und zweier Becher. Diese Nordländer! Wussten sie denn nichts über die Rituale Ihrer Nachbarn aus dem Süden? Wie sollte Rahff bloß mit diesen Flachländern zurechtkommen? Er vermisste das Gebirge so sehr … Die Berge, die rauen Nächte, den frühen Winter und die stämmigen Pferde. Die starken Männer und ihr dunkler Kehlkopfgesang. Seine Heimat und sein Volk. Innerlich seufzend schüttelte er die Melancholie ab. Es gab Zeiten, da trauerte man, und es gab Zeiten, in denen man handeln musste. Gerade war nicht der Moment für Sehnsüchte, Rahff hatte viel zu tun. Also verbannte er jegliches Gefühl unter einer dicken Schicht Gleichgültigkeit. Später, beruhigte er die Kerben auf seinem Stahlherzen, werden wir unseren Verlust betrauern. Dann, wenn er in Sicherheit war.

»Ich werde meine Schulden begleichen«, brummte er und machte einen großen Schritt über die Scherben, um anschließend der Bande zu folgen, die hinter seinem Vagabunden her waren.

Rahff musste ihn unbedingt finden, bevor es ein anderer tat. Um ihrer beider Willen.

Der Wirt rief ihm etwas nach, hielt ihn jedoch nicht auf. Vermutlich hatte er zu viel Respekt vor Rahffs Größe.

Ein kluger Mann.

Die Nacht war kalt und schmeckte salzig, als Rahff hinaus in den Nieselregen trat. Er sah sich zu beiden Seiten in der Gasse um. Sie war stockfinster und verlassen, keine Spur von Krähenfratze und seiner Bande, noch von dem grünäugigen Vagabunden. Es war gespenstig still.

In der Schwarzen Stadt gab es keine Schilder an den Gebäuden, die Schenken, Bordelle und andere Geschäfte waren mehr verbotene Hinterzimmer-Treffpunkte, die in jeder anderen Stadt von eifrigen Gardisten gesprengt werden würden, da sie keine Schankerlaubnis der Krone besaßen. Vieles war in der Schwarzen Stadt anders. Keine Straßennamen, keine Gasthäuser. Sie war schlichtweg kein Ort, an den sich Reisende einfanden, um eine Rast einzulegen. Hier an der rauen Küste, wo das Meer tobte und die Felsen der Klippen violett und mystisch schimmerten, fanden sich nur die übelsten Geschöpfe ein. Diebe, Mörder, Hexen und Menschenhändler, die Kinder als Lustsklaven verkauften.

Da war es auch kein Wunder, dass die Gassen in der Nacht dunkel dar lagen, keine Fackeln an den Wänden hingen oder Wachen patrouillierten. Hier gab es keinen Lord, keinen Stadthalter, kein Gesetz. Nur das Recht der Gewalt. Hier lebte das abgrundtief Böse.

Trotzdem wunderte Rahff sich über das fehlende Licht. Er fluchte, als er die Gasse einmal nach unten und einmal nach oben abging, ohne zu wissen, in welche Richtung Desiderius gegangen sein mochte.

Der Regen nahm zu, sein schwerer Bärenpelzumhang wurde klamm. Er zog ihn enger und sah noch einmal die Straße hinab. Das Mondlicht bahnte sich einen Weg durch die dichten Sturmwolken und fiel in die Gasse, sodass Rahff einen Moment lang zusehen konnte, wie die dicken Regentropfen auf den Pflastersteinen zerplatzten. Eine einzelne Ratte sprang über eine Pfütze von einer auf die andere Häuserseite. Kurz darauf hörte Rahff sie hell fiepsen, woraufhin eine ganze Schar der Nager die Straßenseite wechselten.

Schlaue Tiere.

Rahff beschloss, sich ebenfalls seiner Vernunft zu ergeben. Er ging durch die verregnete Nacht zu den verlassenen Pferdeställen außerhalb der zertrümmerten Stadttore. Der Regen prasselte laut auf das löchrige Dach der Scheune.

Sein Pferd, und die Hengste seiner Freunde, standen noch an Ort und Stelle. Rahff begrüßte seinen weißen Schimmel mit einem kräftigen Klapps auf den breiten Hals. Das Tier schnaubte ihm ins Haar.

»Bald werden wir wieder ruhmreichere Tage sehen, ich verspreche es dir«, machte er seinem Ross und sich selbst Mut. Er strich über den starken Hals und fand Kraft und Trost in den braunen Augen des Schimmels.

»Hast du gut auf unseren Kleinen aufgepasst?«, fragte er schließlich und wandte sich ab. Wie aufs Stichwort hörte er das leise Gähnen unter seinem Sattel, der in der Ecke der Box auf einem Haufen altem Stroh lag.

Seufzend legte Rahff sich daneben und schob die Hand unter den warmen Sattel. Umgehend wurden seine Finger von einer warmen Zunge abgeleckt.

»Werd bitte schnell groß«, flüsterte er müde, »ich werde einen Kampfgefährten nötig haben.«

Seine Hände zitterten unkontrolliert, er bemerkte es erst, als er versuchte, sich das Gesicht zu reiben. Sprachlos sah er auf sie herab, blinzelte, spürte den Schock in seinen angespannten Gliedern. Unglauben und Furcht hielten Einzug in sein Herz. Das Zittern breitete sich von seinen Fingern über seine Arme und seinen gesamten Körper aus. Erst in diesem stillen, dunklen Augenblick, allein mit seinen verbliebenen, tierischen Gefährten, die ihm nur schweigenden Trost spenden konnten, begriff er, dass er unter großem Unglauben stand. In dem Moment, als sich seine langjährigen Freunde – seine Brüder – gegen ihn gewandt hatten, lähmte ihn seine Hilflosigkeit. Sie hatten fast dreißig Jahre zusammen gekämpft, sich unzähligen Räuberbanden und Wildtieren auf der Jagd gestellt. Sie haben sich derart oft gegenseitig das Leben gerettet, dass es schlichtweg selbstverständlich schien und statt eines Dankes in Worten, ein vertrauter Blick genügte. Sie kannten alles von sich, ihre gegenseitigen Stärken und Schwächen, ihre größten Träume und tiefsten Ängste. Sie waren Brüder gewesen, von klein auf. Waren zusammen zu Männern, zu Jägern, zu Kriegern und Rittern geworden. Hatten gemeinsam gefeiert, zusammen gesoffen, sich gestritten, um Ruhm und Weiber, und sich versöhnt, hatten zusammen geliebt und zusammen um jene Freunde getrauert, die im Kampf oder durch Krankheit aus ihren Leben gerissen worden waren. Sie waren Gefährten gewesen, seit Rahffs zehntem Lebensjahr! Er hatte diese Männer besser gekannt als den Mann, dessen Lendenfrucht er war. Für Rahff hatten all diese Jahre einen tiefen Wert besessen, niemanden hätte er mehr vertraut als ihnen. Deshalb war er nicht fähig gewesen, in der Straße aufzustehen und zu kämpfen. Erst die Hand des Diebes hatte ihm etwas Halt gegeben, der sich nun in der regnerischen Nacht wieder verflüchtigte.

Vollkommen allein zu sein, auf sich gestellt zu sein, war ein … erdrückendes und gleichzeitig leeres Gefühl.

Rahff schloss die Augen, atmete tief durch, und konnte seine Trauer doch nicht zurückhalten. Sein Vater war ermordet worden und seine Brüder hatten ihn verraten, auch sie waren tot. Er wusste nicht, was schlimmer für ihn war, was ihn mehr schmerzte. Der Verrat oder der Verlust.

Das kalte Gefühl der Machtlosigkeit schlug seine Klauen in sein Herz und riss daran, auf dass es dunkelrot blutete.

Er schlug die Hände vors Gesicht und krümmte sich nach vorne, seine Wut in seine Finger brüllend, während heiße Tränen aus seinen Augen rannen. Er weinte, obwohl er sich geschworen hatte, niemals in seinem Leben eine Träne zu vergießen.

Doch gegen manche Gefühle war selbst ein Mann wie Rahff machtlos.

*~*~*~*

Er spürte einen Funken Mitleid.

Ach was, es war ein Inferno, er wollte es nur nicht zugeben.

Desiderius betrachtete den Mann, der im Stall neben dem kräftigen Schimmel im Schatten hockte und zusammengekauert in seine Hände weinte. Der Schmerz und die Trauer waren in dem Brüllen mehr als deutlich herauszuhören. Sie trafen mitten ins Herz, sei es noch so gut verschlossen.

Wenn starke Männer weinten, passierte immer etwas in Desiderius, über das er nicht genauer nachdenken wollte. Das Mitgefühl, das sich ihm aufdrängte, brachte mehr Zuneigung zu Tage, als gut für ihn war. Schon früh hatte er gelernt, Mitleid zu ignorieren und Anziehung im Keim zu ersticken. Zu oft war er verraten und enttäuscht worden.

Mit verzerrtem Mundwinkel zog Desiderius sich von der Kante zurück und lehnte den Kopf wieder gegen die Scheunenwand. Er hatte sich oben auf dem Heuspeicher bei den Mäusen ein Bett eingerichtet. Dort konnte man sich gut verstecken, außerdem war es relativ trocken, wenn man den undichten Stellen im Dach auswich. Er hatte bereits hier gelegen und sich buchstäblich in die Faust gelacht, da er Markesh wieder einmal entwicht war. Der Kerl war nachtblind, was Menschen eigentlich immer waren und Desiderius einen Vorteil einbrachte. Jedenfalls hatte er bereits hier gelegen und zufrieden mit sich auf einem Strohhalm herumgekaut, als Rahff hereingekommen war. Von hier oben aus hatte Desiderius einen guten Blick auf den Giganten.

Er rutschte tiefer, bis er bequem auf seinem Umhang lag, der ihm als Unterlage diente, und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Während er zu schlafen versuchte, lauschte er noch lange dem leisen Weinen des Giganten. Einen solch großen und körperlich starken Mann derart gebrochen zu sehen, erweckte etwas in Desiderius, das er nicht benennen konnte. Es war mehr als Mitleid, es war etwas, dass ihn irgendwie … berührte.

Rahff schien niemand zu sein, der vorschnell in Tränen ausbrach. Zumindest hatte in seinen Augen eine ungebrochene Stärke gelegen, als sie sich gegenübergesessen hatten. Rahff schien auf das Wesentliche konzentriert, verschwendete keinen allzu großen Gedanken an den Verlust.

Und doch, kaum war er allein und fand sich in der dunklen Stille der Nacht wieder, brach der Damm, hinter dem er seine Gefühle wirklich gut vor Desiderius versteckt hatte.

Größe und dicke Muskeln waren eben doch kein Allheilmittel gegen tiefere Gefühle, auch Giganten konnten brechen. Das machte Desiderius nachdenklich. Wenn sogar jemand wie Rahff von seinen Gefühlen überwältigt werden konnte, was ließ ihn dann annehmen, er wäre dagegen gerüstet?

Herz des Südens

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