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Kapitel 11

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Desiderius lief mit verschränkten Armen am Rande des Marktplatzes hinter grünen Kirschbäumen entlang. Die Monate, in denen die Früchte reiften, waren längst vergangen, und die weißen Blüten, die ihnen vorausgingen, waren auf dem Boden bereits so braun wie die Erde geworden.

Er legte den Kopf in den Nacken und blickte nachdenklich in das Geäst. Ein verlassenes Vogelnest vertrocknete darin.

Es kam ihm vor, als hielte Rahff noch immer seine Hand. So sanft, so rücksichtvoll, als wäre sie ein verletzliches Nesthäkchen. Für eine solch große Hand mit solch unmenschlicher Stärke konnte sie zum Dahinschmelzen sanft sein.

Dass ihm das gefallen könnte, hätte er nie im Leben erwartet.

Er dachte an Markesh. Unweigerlich drängte sich ihm das Zimmer auf, das im Widerschein der Kerze golden leuchtete. Das Bett in der Kammer, die Enge zwischen den ungehobelten Holzbalken und der tätowierten Brust.

»Nur für mich, Derius.« Die raue, lüsterne Stimme. »Du musst es doch nur für mich tun, für keinen sonst.« Er spürte die Kälte der Klingenspitze, die sein Hemd aufschnitt.

Desiderius schluckte, schloss die Augen und schüttelte die Erinnerung ab. Ich bin nicht wie er, sagte er sich. Und Rahff ist auch nicht wie diejenigen, die ihn sonst begrabschten. Abgesehen davon, dass Rahff sich ihm auf gänzlich subtilere Art aufdrängte, ließ er ihm auch stets Gelegenheit zur Flucht.

Er könnte gehen, in diesem Moment, während Rahff beim König war, und müsste ihn nie wiedersehen. Anders als Markesh, der ihn verfolgte, ihn geradezu jagte.

Ob er es wirklich nur auf die Ketten abgesehen hatte? Desiderius schlief jeden Tag mit der Furcht ein, Markesh würde ihn verfolgen, damit er dessen kleines, schmutziges Geheimnis nicht ausplaudern konnte. Rahff war ihm da gerade gelegenen kommen, da allein seine Präsenz genügte, um Männern Respekt einzuflößen.

Sollte er wirklich riskieren, ganz allein weiter zu ziehen?

Vielleicht könnte er bei Rahff bleiben, wenn dieser seine Burg zurückbekommen hatte. Es wäre doch nicht zu viel verlangt, wenn Rahff ihm Schutz gewähren würde. Möglicherweise könnten sie Markesh gemeinsam das Handwerk legen.

Doch Desiderius wusste gar nicht, ob er dazu im Stande war, den Mann zu töten, der ihn aufgenommen und fünf Jahre lang wie ein Familienmitglied behandelt hatte. Ganz gleich was gewesen war, ganz gleich wie sehr er Markesh verabscheute, er konnte ihn nicht kaltblütig ermorden.

Desiderius war kein Mörder.

Er dachte wieder an Rahffs Finger, die seine umschlossen, und hob bei der Erinnerung die Hand an die Brust, um sie mit der anderen festzuhalten.

Nicht hier, nicht jetzt.

Möglicherweise war all das nur ein Schauspiel gewesen, um Desiderius dazu zu bringen, ihm zu helfen. Aber dann hätte Rahff ihn nicht gebeten, weiterhin an seiner Seite zu stehen.

Wir beide könnten niemals Brüder sein.

Wie bei den Göttern sollte er denn aus diesem Giganten schlau werden? Desiderius ärgerte sich bis ins Mark. Zu gerne hätte er Rahffs Absichten durchschaut, doch der Silberlöwe verbarg sich gerne hinter vagen Worten und wankelmütigen Taten.

Ich würde dich vermissen.

Nicht hier, nicht jetzt.

»Arght!« Desiderius trat gegen etwas Unsichtbares und ging dann weiter, die Arme vor der Brust verschränkt. Er starrte auf seine Füße, während er über den runden Marktplatz schlenderte. Pflastersteine zeichneten ein Mosaik aus hellem und dunklem Grau. Weshalb die Erbauer sich solche Arbeit gemacht hatten, verstand er nicht, denn nur die Vögel konnten sich an diesem Bild ergötzen.

Vielleicht blickte ja der Novize, der oben im Glockenturm saß und dreimal am Tag – sollten keine Vermählungen oder Beisetzungen stattfinden – die Glocke läutete, gerne darauf hinab.

Desiderius machte sich etwas vor, er suchte nach Gründen, um Rahff den Rücken zu kehren. Letztlich sollte er sich selbst eingestehen, was er tief im Inneren bereits seit der Nacht wusste, als Rahff seinen Nacken liebkost hatte. Er fürchtete sich. Fürchtete sich davor, das zu bekommen, was er sich ersehnte, weil man es ihm dann wieder wegnehmen könnte. Er hatte furchtbare Angst, etwas zu verlieren, das er wirklich mochte.

Deshalb wollte er das, was er fühlte, niemals aussprechen, und genoss das stille Begehren. Wenn er es nicht aussprach, hatte er auch keinen Anlass, sich mit der Frage auseinander zu setzen, ob seine Sehnsucht verboten war und ihm sogar den Tod bringen konnte. Rahff hingegen schien drauf und dran, dieser unausgesprochenen Sache zwischen ihnen Worte zu verleihen, ihr Macht zu geben.

Geh lieber, riet ihm sein Verstand, bevor du Rahff Macht über dich verleihst.

Denn so gern er ihn auch zu haben glaubte, das konnte er nicht geschehen lassen. Markesh sollte der letzte Mann gewesen sein, der ihn an eine Leine genommen hatte.

An einem Bäckerstand wurde frische Ware feilgeboten. Die Brezel und die Semmel schienen gerade erst aus dem Ofen zu kommen, sie dampften sogar noch. Nebenan holte ein Fischer gerade aus einem Räucherofen gegarte Aale, die an Seilen hingen. Der köstliche Geruch ließ Desiderius´ Magen knurren und erinnerte ihn daran, dass er nicht gefrühstückt hatte.

Leider würden die Taler in seinem Beutel nur noch für einen Becher Wein reichen. Sofern er denn irgendwo in dieser Stadt eine Schenke fand, die wässrigen, billigen Wein ausschenkte.

Hier würde er gewiss nicht fündig werden, schließlich befand er sich im Kaufmannsviertel, wo sich die Villen aneinanderreihten wie Bäume im Wald.

Es gab in der Nähe des westlichen Stadttores eine Schenke, die den wunderbaren Namen »Der Seemanstanz« trug. Er hatte die heruntergekommene Holzhütte entdeckt, als er Rahff die Straße entlang schleppte. Dort gingen die weniger hartarbeiteten Fischer ein und aus, also musste der Fusel für Lau in die Kehlen gegossen werden.

Gerade als er sich umdrehen und dorthin pilgern wollte, stockte er jedoch. An einem Stand, gegenüber der leckeren Waren des korpulenten Bäckers, entdeckte er Augen, die ihm nicht fremd waren. Er grinste überrascht.

Na sieh mal einer an!

Wie ein interessierter Käufer schlenderte er hinüber zu dem Stand, das Stroh auf dem Dach wurde vom Wind angehoben. Die Waren darunter waren interessant, nützten ihm als heimatlosen Dieb jedoch nichts. Kelche, Krüge aus Bronze. Broschen aus dem fernen Westen. Dekorative Tonfiguren, Marmorskulpturen, Gemälde in verzierten Rahmen und allerlei niederwertiger Schmuck.

»Das ist ein wirklich schöner Puma.« Desiderius strich mit den Fingern die majestätische Muskulatur des Anhängers nach. Er war aus einem schwarzen Horn geschnitzt und zeigte die Raubkatze im Sprint. Ziegenleder diente dem Anhänger als Kette.

Der Junge, der damit beschäftig war, Holzkisten voll Krimskrams hin und her zu schleppen, richtete sich auf, um ihn anzusehen. »Mein Meister macht Euch einen guten …«, er stockte schockiert, als er Desiderius erkannte, »…Preis.« Das letzte Wort kam geflüstert und klang überhaupt nicht mehr danach, als wollte er etwas feilbieten. Seine kristallblauen Augen waren geweitet vor Panik.

»Du hast das Diebeshandwerk ja schnell aufgegeben«, bemerkte Desiderius. Er musterte den dunkelhaarigen Burschen und schätzte ihn auf dreizehn, allerhöchstens fünfzehn Sommer.

Dem kleinen Taschendieb hatte es die Sprache verschlagen.

»Gibt dir dein Vater nichts zu essen?« Desiderius nickte zu dem Händler, der sich am Stand neben an mit einem anderen Kaufmann unterhielt. Er war in gelbe Seide mit grünen Ornamenten gekleidet und trug einen spitzen Hut mit bunten Federn, seine Gestalt war schlank aber nicht unterernährt, seine Stiefel wirkten neu, der Schnauzbart war frisch gestutzt. Ein ansehnlicher, ehrlicher Mann. Zumindest auf den ersten Blick.

»Warum musst du stehlen?«, fragte Desiderius den Jungen.

Dieser starrte ihn flehentlich und zugleich ängstlich an. »Bitte, sagt ihm nichts! Er ist nicht mein Vater. Wenn er erfährt, dass ich…«

»Ein schöner Anhänger, nicht wahr?« Der Händler hatte Desiderius bemerkt und kam zum Stand herüber, er lächelte einladend. »Nehmt ihn ruhig in die Hand, guter Mann, ihr werdet keinen Makel erkennen.«

Desiderius sah zwar nicht wie jemand aus, der sich etwas aus Schmuck machte, doch der Blick des Händlers brauchte nur zu dem Beutel an seiner Hüfte zu zucken, um in Wallung zu geraten. Geld stank eben nicht.

Desiderius schielte zu dem Jungen, der ihm stumme aber deutlich um Gnade flehende Blicke zuwarf. Es war beinahe zum Lachen.

Der Händler legte dem kleinen Taschendieb vertraut einen Arm um die Schultern, wie es der Vater bei dem Sohn getan hätte.

Er ist nicht mein Vater…

Sklaverei. Ganz gewiss. Und nichts Seltenes, wenn auch verboten. Doch was bliebe dem Burschen anderes übrig, als sich damit abzufinden. Desiderius könnte die Wachen rufen, doch dann würde er nicht nur auf sich aufmerksam machen, sondern den Jungen auch seiner einzigen verlässlichen Nahrungsquelle berauben.

»Eigentlich suche ich nach etwas … Exotischerem«, wandte Desiderius sich an den Händler. »Habt Ihr Krallen oder Zähne?«

Der Händler geriet in helle Aufruhr. »Gewiss, guter Mann! Gewiss!« Er bückte sich selbst, statt dem Jungen zu befehlen, danach zu suchen. Das sprach immerhin für ihn. Nicht jeder Sklavenhalter musste ein Sadist sein. Desiderius erlaubte sich kein Urteil.

Während der Händler mit Suchen beschäftigt war, stibitzte Desiderius den Pumaanhänger vom Tisch und ließ ihn ganz beiläufig in seinen Taschen verschwinden.

Der Bursche beobachtete ihn dabei und schaute ihn mit großen Augen an.

Desiderius zwinkerte. So macht man das!

Daraufhin grinste ihn der Bursche bewundernd an, wobei sein Lächeln eine Spur mokant wurde. Zum ersten Mal in seinem Leben kam Desiderius in den Genuss des stolzen Gefühls, wenn jemand zu ihm aufblickte.

Auf dem Tisch vor ihm wurden allerlei Anhänger ausgebreitet, Bärenkrallen, Nachtschattenkatzenfänge, Luchsknochen, manche sogar mit Federn. Ursprünglich kamen diese einfachen Arbeiten aus dem Volk der Waldmenschen, das konnte er an den geflochtenen Bändern und der guten Qualität der Krallen erkennen.

»Mhm. Sehr schön. Sehr schön«, stimmte Desiderius zu, während er die Ketten mit einem kritischen Auge inspizierte. »Aber wisst Ihr, ich dachte mehr an Löwenkrallen.«

Der Händler suchte weiter, musste aber enttäuscht eingestehen, dass ihm diese Besonderheit fehlte.

»So ein Pech. Nun ja, vielleicht beim nächsten Mal.«

Desiderius schlenderte weiter, kramte jedoch eine der drei letzten Münzen aus seinem Beutel und drehte sich noch einmal um. »He!«

Der Junge sah auf, Desiderius schnippte ihm gönnerhaft einen erblassten Taler zu.

»Denk mal an mich.«

Der Junge würde den ganzen Tag lang strahlen. Desiderius fühlte sich gut.

Auch wenn er in der Hauptstadt nicht erwischt werden wollte, schnitt er einem korpulenten Edelmann den Beutel vom Gürtel, als er flott an ihm vorüber ging. Der Mann würde das Fehlen seiner Taler erst dann bemerken, wenn Desiderius bereits längst fort war. Man musste schon recht geschickt mit seinen Fingern umgehen können, damit der Beutel nicht klimperte, wenn er den Besitzer wechselte. Desiderius konnte es immer noch, und er musste sein Opfer dafür nicht anrempeln. Diese alte Methode war etwas für Amateure, wozu er sich nicht mehr herablassen musste.

Mit einem verschlagenen Grinsen auf dem Gesicht wiegte er das Silber in seiner Hand und steuerte eine Schenke an. Nun würde er sich einen Krug Wein gönnen, er hatte sich einen Schluck verdient!

*~*~*~*

»Möchtet Ihr Euch noch etwas frisch machen, Lord Rahff?« Der Bote des Königs blieb auf dem breiten Flur vor einer goldverzierten Marmortür stehen und musterte Rahff geringschätzig.

Rahff hob die Arme und blickte an sich hinab. Seine Stiefel waren bis zum Schaft mit Schlamm bedeckt, seine Beinlinge hatten Risse, sein Harnisch triefte ebenso vor Dreck und von seinem Umhang brauchte er gar nicht erst anzufangen. Ganz zu schweigen von seinem ungekämmten und fettigen Haar. Aber so sah man eben aus, wenn man auf der Flucht war und um das nackte Überleben kämpfte.

Es stand ohnehin nicht gut um Rahffs Geduld. Der Weg von der Stadt zum Palast hatte eine gefühlte Ewigkeit gedauert. Es war sicher bereits Abend, als sie die riesigen Gärten endlich durchquert hatten und sich die weiße Fassade der Residenz des Königs von Nohva aus dem ewigen Grün emporhob.

Rahff nutzte seinen Ärmel, um die Spitze seiner Schulterpanzer zu polieren.

»Das dürfte genügen«, sagte er zu dem Diener und hob entschlossen den Blick. Er straffte stolz die Schultern. Der König durfte ihm seine Not ruhig ansehen. Das konnte ihm nur zum Vorteil gereichen.

Der Bote ließ seinen Missmut darüber durch ein leises Einatmen erkennen, maß sich aber keinen Tadel an, immerhin sprach er mit einem Lord. »Wie Ihr wünscht.« Vermutlich machte er sich ohnehin mehr Sorgen um den hübschen purpurnen Teppich, der in den Gängen des weißen Palastes ausgelegt war, als darum, dass der König sich über den Aufzug seines Besuchers ärgern könnte.

»Gebt Eure Waffen ab«, trug der Dienstbote ihm auf.

Rahff löste die Schnalle seines Langschwerts und lehnte es gegen die Wand.

Sie traten vor die Doppeltürbogen, neben denen zwei Wächter positioniert waren. Sie trugen Lanzen als Waffen, Schwerter an den Hüften, goldene Spangenhelme und ein goldenes Horn auf der Brust. Es diente zum Alarmsignal, damit riefen sie nach Verstärkung im Falle eines Angriffs. Rahff wollte diese Hörner auch in seiner Burg einführen, doch Zareths Verrat hatte ihn daran gehindert.

Die Wächter klopften mit den Lanzen auf den Boden, woraufhin die Türen von innen geöffnet wurden. Das Künstlerwerk im weißen Marmor zeigte eine Nachtschattenkatze mit goldenen Umrandungen, deren frontales Gesicht beim Öffnen der Türen in zwei Hälften geteilt wurde.

Der Raum dahinter war lang und dunkel. Fackeln hingen an den Wänden, und im gewölbten Dach waren undurchdringliche Buntglasfenster eingelassen, die das Licht rötlich färbten und eine Geschichte über eine legendäre Schlacht gegen die Dämonen aus der Unterwelt erzählten. Im Boden waren vier Glutgruben eingebettet, die den Weg zu der langen Tafel am Ende des Zimmers beschrieben.

Am Kopfende jener Tafel saß der König, das Gesicht vom Flackern einer Kerze angestrahlt.

»Eure Majestät«, der Dienstbote blieb mit gebührendem Abstand vor der dunklen Tafel stehen und verbeugte sich tief, »Lord Rahff Youri, Sohn des Rahff Youri aus dem Schwarzfelsgebirge.« Er erhob sich und trat Beiseite, damit Rahff vortreten konnte.

»Lord Rahff Youri, Ihr befindet Euch im Hause von König Wexmell Airynn, kniet nieder und schwört dem König von Nohva die Treue.«

Rahff sprach nicht zum ersten Mal vor dem König, er kannte die ganzen Sitten und war bereits auf ein Knie gesunken, bevor er dazu aufgefordert wurde.

»Danke, Raust. Das wäre dann alles«, verabschiedete der König seinen Boten.

Raust verneigte sich noch einmal, dann verschwand er durch eine Nebentür, die er gewissenhaft leise zuzog. Ein guter Diener wusste sich wie ein Geist zu benehmen, er bewegte sich lautlos und verhielt sich, als sei er unsichtbar.

»Erhebt Euch, Lord Silberlöwe!« Der König winkte Rahff heran. »Und bitte, setzt Euch.«

Als Rahff zur Tafel ging, erlaubte er sich einen misstrauischen Blick. König Wexmell Airynn war im ganzen Land für seine Schönheit bekannt, auch Rahff hatte ihn bei dem ein oder anderen Bankett verstohlene Blicke zugeworfen, wohlwissend dass er auf Granit beißen würde, sollte er eine verbotene Annäherung versuchen. Es gab Männer, die wussten das ganze Potential ihrer Sinnlichkeit einfach nicht auszunutzen und verschwendete ihr ganzes Begehren auf eine langweilige Sache, die man gemeinhin Weiber nannte.

Der König war groß und muskulös, seine Haut war makellos glatt und strahlend wie Elfenbein, seine Augen tiefblau und seine längeren Haarsträhnen waren in einem Gold, das die Götter vor Neid erblassen ließ. Sein Lächeln war im ganzen Land bereits eine Legende, es erhellte jeden Raum und erwärmte jedes noch so kalte Herz.

Doch von diesem Glanz und dieser Anmut, für die König Wexmell bekannt war, konnte Rahff an jenem Tag nichts wiedererkennen. Was vermutlich der Grund dafür war, dass der König ihn in diesem dunklen Raum und nicht im hellen Thronsaal empfing.

Schlaff hing der einstig schönste Mann des Königreiches auf seinem purpurnen Stuhl, eine Wange auf seine Faust gestützt, mit der anderen Hand trommelte er nervös auf der Tischplatte. Sein goldenes Haar wirkte matt und ebenso ungekämmt und fettig wie Rahffs, sein seidenes, elfenbeinfarbenes Hemd war unordentlich zugeknöpft, sein purpurner Umhang lag schief um seine Schultern, seine eingefallenen Wangen trugen einen unsauberen Bartschatten, seine Haut hatte die graue Farbe einer Regenwolke, er trug keine Krone und seine Augen hatten ihren Glanz verloren. Als Rahff sich über Eck zu ihm setzte, konnte er den starken Weingeruch wahrnehmen, der dem Mann anhing.

»Ihr habt es also geschafft«, bemerkte der König.

Rahff versuchte, ihm nicht die Frage zu stellen, was nur aus ihm geworden war. »Es war keine einfache Reise, mein König.«

»Gewiss nicht.« König Wexmell richtete sich ein Stück auf, jedoch nur um sich einen Kelch Wein einzuschenken. Er deutete auf den Krug und auf einen sauberen Kelch. »Bedient Euch.«

Das ließ Rahff sich nicht zweimal sagen, obwohl er sich wunderte, dass kein Diener in dem Raum anwesend war, der ihnen Wein einschenkte. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seinem Magen aus, als er sich verstohlen umblickte und lediglich zwei Wächter an der Tür erblickte, die den Ausgang bewachten.

»Ich muss mich entschuldigen«, der König erlangte Rahffs Aufmerksamkeit zurück, »ich wäre Eurem Ruf natürlich umgehend gefolgt, doch ich kann zurzeit meinen Palast nicht verlassen.«

Rahff runzelte neugierig seine Stirn. »Ist etwas geschehen, Eure Majestät?«

Der König starrte mit leerem Blick in seinen silbernen Kelch. »Mein jüngster Sohn. Seine Krankheit wurde wieder schlimmer. Die Heiler sagten, es wäre ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt. Ich konnte nicht fortgehen, ich wollte hier sein, falls …« Er brach ab, schüttelte den Kopf.

Für Rahff brauchte er ohnehin nicht weiter zu sprechen. Er verstand. »Ihr habt mein größtes Mitgefühl, Eure Majestät. Es tut mir leid, das wusste ich nicht.«

Vielleicht sollte er aufstehen und gehen. Was war sein Anliegen schon wert, gemessen an dem Leben eines Prinzen? Es ging nur um eine Burg.

Aber es war seine Burg. Rahffs Burg! Sie war das Einzige, was er besaß. Das Einzige, was ihm wichtig war, was ihm wirklich etwas bedeutete. Das Schwarzfelsgebirge war seine Heimat, dort lebte sein Volk, dort züchtete er die besten Pferde des Landes, dort war er aufgewachsen und zum Mann geworden, dort hatte er gelernt, was es hieß, ein Anführer zu sein. Dort lag all das, worauf er stolz war. Er hatte dieses Leben mehr als vierzig Winter gelebt, er kannte nichts anderes. Und dann ward es ihm genommen worden! Von seinem eigenen Onkel!

Ohne die Burg war er ein Nichts, das hatte er in den letzten Wochen zu deutlich gespürt. Er hatte keine Frau, keinen Geliebten, keine Kinder, nun auch keinen Vater mehr. Woran sonst hätte sein Herz hängen können, wenn nicht an seiner Burg und seinen berühmten Pferden?

Nein, das Gebirge war alles, was wirklich für ihn zählte. Sein Herz schlug nicht in seiner Brust, sondern tief im Schwarzfelsgebirge.

Also ganz gleich wie groß sein Mitgefühl auch sein mochte, er blieb sitzen und würde auf die Unterstützung der Krone beharren. Weil er sich ansonsten gleich in sein Schwert stürzen könnte.

»Mein König, ich weiß, es ist nicht der idealste Zeitpunkt, aber die Zeit drängt.« Rahff rückte an die Kante seines Stuhls, er konnte jetzt nicht stillsitzen. »Wie ich Euch bereits schrieb, hat mein Onkel Zareth meinen Vater ermordet und mit seinen Anhängern meine Burg eingenommen. Er ist für uns alle eine Gefahr, ich brauche Eure Hilfe, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen.«

Der König lächelte bedauernd, seine Augen wurden warm. »Euer Verlust belastet auch mich schwer, Silberlöwe, bitte glaubt mir das! Für Mord und Verrat habe ich nichts übrig. Vor allem nicht unter meiner eigenen Herrschaft.«

»Dann helft mir, diesen Verbrecher seiner gerechten Strafe zuzuführen! Klagt ihn an!«

Doch König Wexmell legte zweifelnd den Kopf schief. »So einfach ist das leider nicht.«

Rahff umfasste die Lehne seines Stuhls so fest, dass das Leder seiner Handschuhe knirschte. »Wieso nicht?« Es machte ihn wütend, dass der König seine Not nicht ernst zu nehmen schien. Sie verschwendeten hier wertvolle Zeit! Zeit, die er nicht mehr hatte.

»Es geht um den Fluch.«

Es war nicht der König, der geantwortet hatte, sondern eine Stimme, die sich im Rahmen einer Nebentür erhob. Eine Stimme, die ihm nicht fremd war.

Rahff fuhr herum und starrte den Mann an, der selbstsicher den Raum betrat. »Du…«, knurrte er wie ein wütender Wolf. Ungläubig wandte er das Gesicht wieder zu seinem König, der entschuldigend mit den Schultern zuckte.

»Manchmal sind Recht und Unrecht so nahe beieinander gelegen, dass sich ein genauerer Blick nicht vermeiden lässt«, sagte er zu Rahff. »Vergebung, Silberlöwe.«

*~*~*~*

Auf einem großen Markt durfte natürlich auch keine Hinrichtung fehlen.

Desiderius schlenderte gerade aus der Schenke am Markt – die genau diesen Namen auf dem Schild über ihrer frisch geschliffenen Holztür trug – als er den Trubel um den Galgen herum bemerkte.

Er mochte keine Hinrichtungen. Aus den naheliegenden Gründen. Seltsamerweise sah er immer sich selbst dort oben stehen. Gehängt oder gerädert wie es einem Dieb zustünde, oder verurteilt zum Tode durch die Säge – wobei der Delinquent kopfüber hing und mittig bei lebendigen Leibe durchgesägt wurde –, wie es ein Mörder verdiente, der einen Geistlichen auf dem Gewissen hatte.

Was Rahff wohl noch von ihm halten würde, wüsste er um diese Tat?

Desiderius schüttelte den Kopf. Rahff hier, Rahff da. Er hatte sich in der Schenke den Kopf zu gesoffen um den Giganten aus seinen Fantasien zu verbannen, doch der Wein hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Er dachte durchweg nur noch an Rahff. An die Art und Weise, wie er sich das lange Haar auf der linken Seite hinter das Ohr strich, und wie die Strähnen auf der rechten Seite trotzdem noch sein Gesicht verhingen. Diese eine Locke, die stets über seiner Nase lag, die ihn aber nicht zu stören schien. Er dachte an die Wärme seiner Berührung, an die Glut in seinen Augen, an den dunklen Kehlkopfgesang, der keine Worte kannte und ihn sanft in den Schlaf wiegte. Er war von Beginn an besessen von ihm gewesen.

War er wirklich derart weich im Inneren, dass ihn diese Nichtigkeiten den Kopf verdrehten?

Von dem Gesang eines Mannes zu träumen war nicht gerade männlich, ermahnte er sich und verbannte Rahff aus seinem Kopf.

Der Wein stieß ihm sauer auf, während er sich durch die Menge drängte, bis er nahe genug an den Galgenplatz heran war, um der Hinrichtung beizuwohnen. Denn so etwas machten echte Männer doch, nicht wahr? Sie blickten dem Tod ungerührt entgegen.

Doch es war eine Sache, sich in einen Kampf zu werfen oder bei der Jagd einem Tier zuzusehen, wie das Leben aus seinen Augen wich, und eine ganz andere Sache, einem Henker bei der Arbeit zu beobachten. Desiderius hielt es schlichtweg für feige, einen wehrlosen Mann zu töten.

Dennoch war ihm bewusst, dass die Todesstrafe einen gewissen Sinn verfolgte. Denn was würden Verbrecher mehr fürchten als die eigene Hinrichtung?

Diese zur Schau gestellten Morde waren zugleich Mahnmal für alle gleichgesinnten, und Unterhaltung für das gemeine, blutgierige Volk.

Ein junger Bursche stand dort oben, er trug lediglich eine zerschlissene lange Unterhose und wirkte besonders zerbrechlich neben dem Henker, dessen Gesicht mit einer seltsamen Kopfbedeckung verhüllt war. Ein schwarzer, ledriger Sack war über seinen Schädel gezogen worden. Er trug eine Fleischerschürze über der Schwarzstahlrüstung und hielt mühelos mit einer Hand das Richtbeil. Doch der Angeklagte sollte nicht enthauptet werden, die Waffe diente an jenem Tag lediglich zur Zierde.

Der Bursche zitterte, seine dürren Stelzen schlackerten wie Fahnen im Wind, das aschblonde Haar klebte ihm im kalkweißen Gesicht, die blauen Lippen bebten. Vielleicht betete er.

Ein Priester im weißem Gewand, der nicht weniger korpulent als der Henker war, jedoch wesentlich gedrungener wirkte, gab dem Verurteilten einen letzten Segen mit: »Mögen die Götter Eurer Seele gnädiger sein als wir Lebenden es waren.«

Desiderius fand diese Worte sehr passend, auch das bedauernde Gesicht des Geistlichen kaufte er diesem ohne Zweifel ab.

Ebenfalls anwesend war Lord Schavellen. Ein Grünschnabel, nicht viel älter als Desiderius, der die Stadt verwaltete, sollte der König nicht anwesend sein. Der blonde Mann stand dicht bei dem Henker auf dem Galgenpodest und grinste unpassend fröhlich, als befände er sich auf einem Bankett.

Er war nicht der einzige, die meisten Umstehenden jubelten und zeigten sich gegenüber dem Tod rücksichtslos. Menschen, Luzianer, Giganten, Wüstenmenschen, aus jedem Volk war ein Vertreter dabei, die Fehden unter einander vergessend, während sie gemeinsam grausamer Gewalt frönten. Die Menge beschimpfte den Verurteilten, der nicht älter als fünfzehn Sommer sein konnte. Der arme Junge bekam einen faulen Salatkopf übergeworfen und nässte sich ein. Desiderius` ausgeprägter Geruchsinn konnte den Uringeruch auf dem ganzen Platz wahrnehmen. Manchmal war es ein Fluch, ein Luzianer zu sein.

Nachdem der Priester den Galgen verlassen hatte, packte der Henker den Verurteilten und drückte ihn grob nach vorne, um ihm die Hose runter zu reißen. Der Junge brüllte und heulte Rotz und Wasser, als er angebunden wurde. »Ich bin unschuldig! Ich bin unschuldig!«, beteuerte er immer wieder. Doch selbst wenn seine Rufe durch den Jubel der Menge gedrungen wären, hätte ihm niemand geglaubt. Niemand außer Desiderius, der nicht einmal mitbekommen hatte, worum es ging. Es gab einen winzigen Unterschied in der Verzweiflung eines Unschuldigen und eines Schuldigen, die ihm selten entging.

Der Henker steckte den Jungen – Desiderius fiel keine bessere Bezeichnung für diese Handlung ein – auf eine stumpfen Holzpfahl und richtete ihn auf. Die Schreie würden Desiderius noch ewig verfolgen. Er war noch nie bei einer Pfählung dabei gewesen, kannte diese Hinrichtungsmethode nur vom Hörensagen. Der Pfahl würde sich langsam durch den Jungen bohren, bis er zum Herz gelangte. Die Menge jubelte lauter und bewarf den Verurteilten mit faulem Obst.

Desiderius wandte sich an den Mann neben sich, augenscheinlich ein Schmied, der eine Arbeitspause eingelegt hatte, um der Hinrichtung zuzusehen. Er fragte den grimmigen Kerl mit dem schwarzen Bart: »Was hat er verbrochen?«

Der Mann schien ebenso wenig von dem Anblick angetan wie Desiderius, seine Lippen waren ein dünner, missbilligender Strich. »Sodomie. Er soll einen Geistlichen verführt haben.«

»Ob das die Wahrheit ist?«

Die Frage war an niemanden gerichtet, trotzdem antwortete der Schmied.

»Er wurde mit dem Erzpriester Dargards im Beichtstuhl erwischt.« Der Mann schnaubte abfällig darüber. »Wer würde dem Wort eines Novizen glauben, wenn das Wort des Erzpriesters dagegenhält? Zumal der Bursche unter Folter gestand, er habe mit einem Zauber sein Oberhaupt zur Sünde verführt.«

Desiderius schluckte, er hatte plötzlich einen Kloß im Hals, der nicht rutschen wollte. Eine böse Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass er jetzt dort hängen könnte, wo der Novize hing. Oder besser gesagt: steckte.

»Alte Männer vergreifen sich an unseren Burschen«, sagte der Schmied kopfschüttelnd, »und die Burschen zahlen den Preis ihrer Sünden.«

Desiderius fuhr zu ihm herum. »Moment, sagt Ihr etwa, der Junge …«

Das Gesicht des Schmied wirkte noch eine Spur härter, während er den Blick nicht von der Hinrichtung nehmen konnte. »Ich kenne meinen Jungen, er konnte nicht einmal einer Maus etwas zu leide tun, geschweige denn jemanden zu einer Sünde verführen. Er war eine reine Seele.«

Desiderius fehlten die Worte, er schüttelte mit offenem Mund ratlos den Kopf. Er konnte sich in diesem Moment die Qualen des Vaters nicht vorstellen, der seinem gepfählten Sohn bei seinem Todeskampf zusehen musste.

Es gab nur eines zutun. Desiderius bückte sich und schnürte seinen zerschlissenen Stiefel neu. Als er sich wieder erhob, blitzte eine Klinge in seinen Händen auf. Er bewegte den Arm so schnell, dass ihn niemand hätte aufhalten können, selbst wenn man ihn dabei beobachtet hätte. Dazu war die Menge zu sehr von der Hinrichtung abgelenkt.

Als die Schreie verstummten, legte sich enttäuschtes Schweigen über die Zuschauer. Sie sahen sich verwundert nach dem Werfer um, dessen Wurfdolch nun in der Kehle des toten Novizen steckte.

Desiderius wandte sich an den Schmied, der ihn ungläubig ansah. »Das bringt weder Euch noch Eurem Sohn etwas, aber wisset, dass ich an seine Unschuld glaubte.«

Mit diesen Worten machte er sich auf und davon, ehe Lord Schavellen ihn als Werfer ausfindig machen und schnappen lassen konnte.

Während er im Gedränge des Fischmarkts im Westen der Stadt zum Tor eilte, bekam er die grauenhaften Bilder der Pfählung nicht mehr aus dem Kopf.

War dieser Preis eine Berührung Rahffs wert? Nicht, dass er glaubte, dieser würde ihn als verführerischen Dämon anklagen lassen, sollten sie erwischt werden. Aber war die Gefahr, entdeckt und gepfählt zu werden, es wirklich wert, sich seinen Sehnsüchten hinzugeben?

Er wusste es nicht, er wollte erst einmal nur fort und den Städten samt ihren grausamen Verurteilungen den Rücken kehren. Plötzlich war ihm die Bevölkerung zuwider, spürte die Angst und die Scham, die er im Gesicht des Jungen gesehen hatte, am eigenen Leib.

Am westlichen Stadttor war das Gedränge gegen Abend groß, viele Besucher und Bewohner wollten noch hinter die Mauern, ehe die Tore zur Nacht hin schlossen. Desiderius bahnte sich einen Weg nach draußen, als er zwei Kaufmänner reden hörte.

»Habt Ihr gehört, was im Gebirge geschehen ist?«, fragte der eine.

»Von dort komme ich gerade«, antwortete der andere. »Habe gehört, Zareths Beutel soll offenstehen. Ich wollte ihm Stoffe aus dem Westen bringen, den edelsten Samt. Doch er war nicht anwesend. Seltsam, findet Ihr nicht? Er sollte lieber hinter den Mauern bleiben, bevor sein Neffe ihn erwischt. Der Silberlöwe soll ja entkommen sein.«

Desiderius ging langsamer, tat so, als wollte er gemütlich die Stadt verlassen und blickte dabei auf den See hinaus, als ergötzte er sich an dem Anblick, wie die Sonne auf der glatten Wasseroberfläche spiegelte, während er mit einem Ohr zuhörte.

»Natürlich war er nicht da!«, spielte sich der andere auf. »Zareth will den Anspruch auf die Schwarzfelsburg gelten machen und besucht den König. Deswegen kam ich direkt hier her, ich hörte nämlich, Zareth hätte ein Gespür für edle Silberkelche.«

Er ist hier? Rahffs Onkel war hier in der Stadt? Desiderius rutschte das Herz in die Hose. Er fuhr herum und blickte gen Osten, wo der Palast des Königs lag. Wenn Zareth in Dargard war, lief Rahff ihm direkt in die Arme …

Herz des Südens

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