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2.6 Technologie und Industrie

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Die wissenschaftliche Ausbeutung der Wirtschaft ist ein weiteres Kennzeichen des Kapitalismus, das sich parallel zu dem Kolonialismus, der Enteignung und der Entwicklung des Nationalstaats herausbildete. Die Grundlagen der neuzeitlichen Wissenschaft wurden zunächst von Handwerkern wie Galileo GalileiGalilei, Galileo und Johannes KeplerKepler, Johannes gelegt.1 Sie deuteten das Universum als einen Mechanismus, der mathematisch berechnet und technologisch verwertet werden kann. Die Anwendung dieser neuen Naturwissenschaft wurde sodann in England und Frankreich vom niederen Adel vorangetrieben, der mit dem Apparat des Nationalstaats verknüpft war.2 Erst die Möglichkeit, die wissenschaftlichen Erkenntnisse in einer Massenproduktion anzuwenden, führte zur industriellen Revolution. Diese Möglichkeit ergab sich aus der Verbindung frei verfügbarer Arbeitskraft mit großen Märkten.

Der Kapitalismus durchdrang die gesamte Gesellschaft nicht vor der Ausbeutung formal freier Lohnarbeit.3 Mit dem Kolonialismus wurde der Kapitalismus zum Prinzip nicht nur der Kaufmannskaste, sondern der herrschenden Klasse. Der größte Teil der Gesellschaft aber lebte weiterhin in feudalen, subsistentiellen und anderen Strukturen. Auch wenn sich der Kapitalismus durch die Kolonialisierung über den ganzen Erdball ausbreitete, blieben alte gesellschaftliche Strukturen sowohl in Europa als auch in den Kolonien größtenteils bestehen. Der Kapitalismus benötigte die Menschen nicht, und daher lebten die Menschen außerhalb kapitalistischer Strukturen. Geld wurde durch Ausbeutung von Rohstoffen und Sklaven, Handel sowie Finanzgeschäfte gemacht. Erst die Entwicklung der Industrie erzeugte einen Bedarf an Arbeit. Da freie Arbeiter letztlich billiger waren als Sklaven, sie selbst alle Risiken und die Last der Versorgung trugen, und ihnen bei Bedarf gekündigt werden konnte, löste Lohnarbeit die Sklaverei weitgehend ab.4

In Schulbüchern wird der westliche Kapitalismus gerne mit der Industrialisierung verbunden oder sogar auf sie zurückgeführt. Die industrielle Revolution begann jedoch erst im 18. Jahrhundert, insbesondere mit der (Wieder-)Erfindung der Dampfmaschine 1784 und ihrem Einsatz für die industrielle Produktion und das Transportwesen. Zentral war außerdem die Entwicklung der Spinnmaschine in den 1760er Jahren, die eine Explosion der Produktivität in der Textilproduktion nach sich zog. Die Auswirkungen der technologischen Entwicklung machten sich erst Mitte des 19. Jahrhunderts bemerkbar. 1820 hatte Asien noch einen Anteil von 59 Prozent an der Weltproduktion, also mehr als Europa und der Rest der Welt zusammen.5

Bis dahin spielte die Produktion für den Kapitalismus eine geringe Rolle. Es gab kaum Fabriken in Europa, die Produktion war Sache des Handwerks, das in Gilden und Zünften organisiert war, sowie der feudalen und subsistenzmäßigen Landwirtschaft. Das Wirtschaftswachstum innerhalb Europas beruhte vor allem auf dem vermehrten Einsatz von Lohnarbeit, nicht auf einer technologisch bedingten Steigerung der Produktivität.6 Die wissenschaftliche Steuerung der Massenproduktion, die erst im 19. Jahrhundert voll entwickelt wurde, ist der Schlüssel zur industriellen Revolution gewesen. In diesem Prozess wurden Fabriken errichtet, die große Zahlen von Arbeitern beschäftigten und im Hinblick auf Preise und Produktivität miteinander konkurrierten, also Arbeit einzusparen suchten. Die wissenschaftliche Steuerung und die Massenproduktion begannen zuerst in England. Sie wurden durch die Erträge des Kolonialismus, des Grundeigentums und der Finanzspekulation (insbesondere mit Staatsanleihen) finanziert.

Die industriellen Erzeugnisse Englands wurden in Europa und den Kolonien verkauft, allerdings bis ins 19. Jahrhundert in begrenztem Maße. Erst die Massenproduktion brachte Erzeugnisse hervor, die in Asien nachgefragt wurden.7 Allerdings half bei diesem Prozess die Unterdrückung der indigenen Industrie durch die Kolonialverwaltung. Unter dem Verbot der einheimischen Textilindustrie, die vor dem Kolonialismus entwickelter war als die europäische, hat Indien bis heute zu leiden, da eine industrielle Basis erst nach der Unabhängigkeit aufgebaut werden konnte, nachdem die einheimischen Traditionen vergessen waren und der Westen längst eine hochtechnisierte Industrie entwickelt hatte.

Heutzutage spielt die Industrie in den meisten westlichen Ländern eine immer geringere Rolle für die Wirtschaft. Die Produktion ist entweder so technisiert, dass kaum Arbeit notwendig ist, oder sie wird in Billiglohnländer verlagert. In den USA trägt die Industrie heute weniger als 15 Prozent zum Bruttosozialprodukt (BSP) bei – weniger als in den landwirtschaftlich geprägten ärmsten Ländern der Welt wie Nepal oder Niger.8 Die industrielle Produktion war nur so lange von entscheidender Bedeutung für den Kapitalismus, wie die Profitraten höher waren als in anderen Bereichen der Wirtschaft. Das wiederum war nur unter kolonialen Bedingungen der Fall. In der kolonialen Welt konnten die Kolonialmächte ihre Rohstoffe zu sehr geringen Kosten aus den Kolonien beziehen, sie im eigenen Land verarbeiten und die Endprodukte zu hohen Preisen verkaufen. Mit dem Ende der Kolonialzeit und der Abwanderung der Industrie in die ehemaligen Kolonien verringerte sich die Rentabilität der Industrie im Westen, und das Kapital kehrte zurück in den Handel und die Finanzwelt.

In der Phase der Industrialisierung schrieben Adam SmithSmith, Adam, David RicardoRicardo, David und Karl MarxMarx, Karl die Klassiker der Volkswirtschaftslehre. Sie alle hielten die Industrie für das Zentrum des Kapitalismus und die Produktivität der Arbeit für seinen Motor. Infolge der großen Bedeutung der Naturwissenschaften zu jener Zeit bemühten sie sich, den Kapitalismus als ein Phänomen zu erklären, das naturwissenschaftlichen Gesetzen unterlag. Im Nachhinein zeigt sich, dass die Industrie kaum zwei Jahrhunderte lang den Kern des Kapitalismus bildete. Auch der Glaube, dass der Profit allein durch die Ausnutzung von Lohnarbeit gebildet wird, erweist sich als kurzsichtig. Und schließlich stellt sich heraus, dass der Kapitalismus keineswegs naturwissenschaftlichen Gesetzen unterliegt, sondern gesellschaftlich produziert wird.

MarxMarx, Karl hat den Kapitalismus als eine Produktionsweise gedeutet, eine historische Stufe der Entwicklung materieller Reproduktion.9 Der Kapitalismus soll ihm zufolge die historische Aufgabe erfüllen, die Produktivkräfte zu verbessern. Damit lässt sich der Kapitalismus als eine Stufe in einer teleologischen Höherentwicklung der materiellen Reproduktion der Menschheit erklären.10 Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise ist laut Marx die kostenlose Mehrarbeit, die industrielle Lohnarbeiter (Proletarier) für den Kapitalisten leisten.11 Ihre Ausbeutung soll historisch durch „ursprüngliche Akkumulation“ ermöglicht werden, insbesondere durch den Kolonialismus und die Enteignung, die zu einer Konzentration von Kapital innerhalb einer sozialen Klasse führen.12

Diese Erklärung des Kapitalismus ist in vieler Hinsicht plausibel, enthält meines Erachtens aber mehrere Fehler. Erstens schafft die Ausbeutung von Sklaven oder der Natur für MarxMarx, Karl keinen ökonomischen Wert. Das ist falsch. Zweitens ist der Aberglaube an historische Gesetze gerechtfertigt, wenn man wie Hegel Gott zugrunde legt, nicht aber aus Marxscher Perspektive. Drittens beruht die gesellschaftliche Hierarchie laut Marx auf dem Grundverhältnis der kapitalistischen Produktionsweise, dem zwischen Kapital und Proletariat. Letztlich ist es genau umgekehrt. Das Verhältnis zwischen Kapital und Proletariat beruht auf der gesellschaftlichen Hierarchie. Schließlich war der Kapitalismus schon vor der Industrialisierung entfaltet, die Kolonialgesellschaften waren kapitalistische Unternehmen und nicht nur ursprüngliche Akkumulation.

Wir werden am Ende des Kapitels sehen, dass der Kapitalismus keinesfalls die historische Aufgabe hat, die Produktivkräfte zu verbessern, auch wenn er das tatsächlich getan hat. MarxMarx, Karl hat wie SmithSmith, Adam die Bedeutung der Produktion für den Kapitalismus stark überschätzt. Der Kapitalismus setzt vielmehr eine materielle Reproduktion der Gesellschaft außerhalb seiner selbst voraus. Ohne die kostenlose Arbeit in der Familie, ehrenamtliche Tätigkeit, staatliche Sozialmaßnahmen und eine nicht-kapitalistische Wirtschaft würde der Kapitalismus sofort zusammenbrechen, weil die meisten lebensnotwendigen Tätigkeiten nicht kapitalistisch organisiert werden können. Sie bringen keinen Profit. Selbst der größte Teil der Wirtschaft ist nicht kapitalistisch organisiert. Die Kapitalisten monopolisieren nicht die Produktionsmittel. Viele der Produktionsmittel absolut notwendiger Güter, von Bauernhöfen über Bäckereien bis zu Handwerksbetrieben und Präzisionsmaschinen befinden sich im Besitz kleiner und mittlerer Unternehmer, die auch Marx nicht zur Klasse der Kapitalisten gezählt hätte.

Mit höchster Wahrscheinlichkeit gibt es keine historische Aufgabe des Kapitalismus. Wenn es sie gäbe, bestünde sie nicht in der Entwicklung der Produktivkräfte. Die Klasse der Kapitalisten beutet alles aus, was einen Profit bringen kann. Dazu gehört auch die industrielle Lohnarbeit – aber ebenso die Finanzspekulation, Sklavenarbeit und der Abtransport von Ressourcen. Sie dienen allesamt nicht der Produktion eines ökonomischen Werts und nicht einmal vorrangig der Bereicherung einer Klasse, sondern einer Herrschaftsstruktur. Wir müssen den Kapitalismus als Komponente einer bestimmten Gesellschaftsform deuten, die hierarchisch organisiert ist, nicht als Wirtschaftssystem oder Produktionsweise.

Die kapitalistische Gesellschaft

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