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2.11 Kapitalismus und Markt

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Vom staatlich organisierten und regulierten Markt und vom Kapitalismus ist der Markt im eigentlichen Sinne zu unterscheiden, der lokal organisierte Wochenmarkt.1 Dieser Markt kann als Wettbewerb funktionieren, aber in vielen Weltregionen teilen noch heute die Anbieter am Ende des Tages den Gesamtgewinn unter sich auf. Normalerweise sorgt die Gemeinschaft dafür, dass alle überleben, obwohl das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage sowie der Wettbewerb die Preise bestimmen. Die Gemeinschaft betreibt eine soziale Wirtschaft, die auch in kapitalistischen Gesellschaften Grundlage der Reproduktion ist. Sie umfasst Kindererziehung, Arbeit in der Familie, Hilfe von Freunden, Betreuung von Pflegebedürftigen, Produktion (beispielsweise von Obst) für den Eigenbedarf, direkten Tausch und ähnliche Tätigkeiten. Ohne sie könnte eine kapitalistische Gesellschaft gar nicht existieren.

Wir meinen, die Wirtschaft umfasse alle produktiven und damit lebensnotwendigen Aktivitäten und sei im Dienst der Konsumenten als Markt organisiert. Aber der größte Teil der Wirtschaft findet außerhalb von Marktwirtschaft und Kapitalismus statt. Wer hilft nicht dem Nachbarn beim Dachausbau, dem Freund beim Umzug, der Tochter bei den Hausaufgaben und der Tante bei der Ausrichtung eines Festes? Wer schenkt nicht der Lehrerin einen Korb voller Äpfel vom eigenen Baum und dem Arbeitskollegen einen Plan zum Fliesenlegen? All diese Tätigkeiten sind produktiv und geldwert. Sie können prinzipiell als Komponenten der Wirtschaft auch gegen Bezahlung geleistet werden. Wenn man die reproduktiven Tätigkeiten wie Kindererziehung und Haushalt einbezieht, so zeigt sich, dass der größte Teil der Wirtschaft selbst in westlichen Gegenwartsgesellschaften immer noch außerhalb der staatlich organisierten Marktwirtschaft und außerhalb der Geldwirtschaft stattfindet. Das gilt erst recht für Gesellschaften des globalen Südens, in denen Subsistenzwirtschaft noch eine große Rolle spielt.

Neben der sozialen Wirtschaft müssen wir den Markt im alltäglichen Sinne von der Marktwirtschaft und vom Kapitalismus unterscheiden. Der Bäcker an der Ecke ist kein Kapitalist, sondern in erster Linie Marktteilnehmer. Er mag qualitativ schlechtes Mehl verwenden und überhöhte Preise verlangen. Aber er bestreitet von seinen Einkünften lediglich seinen eigenen Lebensunterhalt. Mit Ihrem Einkauf für den Eigenbedarf bezahlen Sie gleichsam seinen Einkauf für den Eigenbedarf. Ein großer Teil der Wirtschaft ist so aufgebaut – als Markt. Mehrere Anbieter konkurrieren über den Preis – und die Qualität – um Kundschaft. Ist das in einem nationalstaatlichen Rahmen organisiert, können wir von Marktwirtschaft sprechen. Davon zu unterscheiden ist der Kapitalismus, in dem es nicht um Produktion und Lebensunterhalt, sondern um Profit und Kapitalakkumulation geht. Dafür steht ein eigener Bereich der Wirtschaft zur Verfügung, der sich zunächst nur auf den Handel, Finanzen und die Ausbeutung der Kolonialgebiete beschränkte und sich dann zunehmend auf die europäischen und schließlich auf alle Gesellschaften ausdehnte. Der Staatsapparat dient in erster Linie dazu, diesen Bereich zu organisieren und zu schützen. Der Markt im oben genannten Sinne bedarf kaum einer Regulierung, da die Kundschaft dem im Beispiel erwähnten Bäcker den Rücken kehrt, wenn die Relation zwischen Preis und Qualität zu schlecht wird.

Der Markt und die soziale Wirtschaft haben wenig mit Marktwirtschaft und Kapitalismus gemeinsam. Sie werden „von unten“ organisiert, dienen dem Überleben, sind nicht auf Profit ausgerichtet und implizieren keine Klassenherrschaft. Sie zeigen auch deutlich, dass der Kapitalismus keine Produktionsweise ist, die der Reproduktion der gesamten Gesellschaft dienen soll. Vielmehr lebt der Kapitalismus gleichsam als Parasit vom Markt und von der sozialen Wirtschaft. Er beherrscht und verändert diese, ersetzt sie aber nicht.

Die Koexistenz von Markt, sozialer Wirtschaft und Kapitalismus organisiert der Staat unter der Kategorie der Nationalökonomie, Volkswirtschaft oder Marktwirtschaft. Durch die Kategorie wird suggeriert, dass der Kapitalismus eine Wirtschaftsform sei, eine Produktionsweise, die eine hohe Effizienz aufweist und im Dienst der Bevölkerung steht. Tatsächlich muss der Staat die Wirtschaft organisieren, weil ein reiner Kapitalismus zum sofortigen Verhungern der meisten Menschen führen würde. Denn die Arbeiter würden minimale Löhne erhalten, lebensnotwendige Sektoren würden mangels Profitchancen eingestellt, Arbeitslose bekämen kein Geld und die Vermögenskonzentration wäre noch extremer, als sie es heute schon ist.

Wenn heutzutage vom Markt oder von Marktwirtschaft die Rede ist, meint man eigentlich Kapitalismus, rechtfertigt ihn aber durch Elemente von Markt und Marktwirtschaft. Würde man offen von Kapitalismus sprechen und zugeben, dass er dem gemeinschaftlich organisierten Wochenmarkt und der staatlich organisierten Konkurrenz der Marktwirtschaft widerspricht, wäre die Zustimmung zum System sehr gering. Da aber Wochenmarkt und Marktwirtschaft prinzipiell gut funktionierende und allgemein akzeptable Institutionen sind, suggerieren Politik, Großunternehmen und Medien, der Kapitalismus sei mit ihnen identisch, obwohl er ihre Aufhebung zum Ziel hat.

Im Kapitalismus soll der Staat überall einspringen, wo kein Profit zu erzielen ist. Er finanziert die Ausbildung, die Infrastruktur und das Sozialsystem und kümmert sich um öffentliche Güter, die kein Privatunternehmen zu Verfügung stellen will. Gleichzeitig soll er die Bereiche dem „Markt“ überlassen, in denen ein Profit zu machen ist. Allerdings sind diese Bereiche eben kein Markt, sondern Orte kapitalistischer Monopolisierung. Fernand BraudelBraudel, Fernand erklärt: „Kapitalismus stützt sich nach wie vor auf legale oder faktische Monopole“.2 Die Vertreter der Politik machen das Spiel mit und reden genau dort vom „Markt“, wo eigentlich Kapitalismus vorliegt. Sie unterstützen die wenigen Großunternehmen im Inland und nach außen durch Zölle, Handelsverträge, Schaffung von Absatzmärkten usw. Das wird im Fortgang des Buches genauer untersucht.

Der Kapitalismus widerspricht prinzipiell den beiden Formen des Marktes, weil sein Ziel von Anfang an die Konzentration des Gewinns in einer privilegierten Gruppe ist. Das Ziel ist im heutigen Finanzkapitalismus in höchstem Maße erreicht, weil eine kleine Gruppe von Großkapitalisten als unsichtbares Kollektiv gemeinsam alle Großunternehmen besitzt, wie ich weiter unten zeigen werde. Durch die Kollektivierung des Kapitals ist die Sicherung der Herrschaft und der Gesellschaftsordnung in höchstem Maße erreicht. Dennoch bestehen Unsicherheit und Konkurrenz fort. Die kapitalistische Gesellschaft entwickelte sich aus der internen und externen Expansion des Kapitals. Dadurch enthält sie einerseits ständige Innovation und andererseits die Möglichkeit sozialen Aufstiegs über Kapitalakkumulation. Man könnte sagen, sie werde die Geister, die sie rief, nicht mehr los. Der Widerspruch zwischen Stabilität und Konkurrenz ist ein Grundmerkmal der kapitalistischen Gesellschaft.

Neu am westlichen Kapitalismus gegenüber den früheren Formen des Kapitalismus war die staatliche Institutionalisierung. Der König erhebt nicht mehr Anspruch auf den gesamten Grundbesitz, es gibt keinen erblichen Herrschaftsanspruch mehr, der Herrscher finanziert seine Privatausgaben nicht mehr durch einen willkürlich festgelegten Tribut. Der Staat ist keine Privatangelegenheit des Herrschers mehr, sondern wird ein formalisierter Apparat. Der Apparat wurde gleichzeitig mit der Entstehung des westlichen Kapitalismus Gegenstand des Kampfes zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, aus dem meist die Gruppe der Kapitalisten siegreich hervorging. Der König wird ersetzt durch den Staat, der in letzter Instanz Eigentümer des Bodens und des Geldes ist. Der Staat wiederum wird von der Gruppe der Kapitalisten maßgeblich beeinflusst. Seine Schulden sind im Besitz von Privatpersonen. Die meisten seiner zentralen Aktivitäten dienen der Kapitalvermehrung. Im Kapitalismus bilden die Kapitaleigentümer eine herrschende Klasse, die den Staat und seine Institutionen instrumentalisiert, um Gewinn zu machen und dadurch ihre herrschende Position zu bewahren.

Die kapitalistische Gesellschaft

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