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3.4 Arbeit und Tätigkeit

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Wir alle werden in den Kapitalismus integriert durch die Arbeit, die letztlich ein Zwang ist, um den Lebensunterhalt zu sichern. Arbeit hat nur im Kapitalismus eine zentrale Bedeutung. Selbstverständlich wird auch in anderen Gesellschaftsformen gearbeitet. Aber die Arbeit ist in andere Tätigkeiten eingebettet und wird nach Möglichkeit auf ein Minimum reduziert. Bis vor wenigen Jahrtausenden verfügte die arbeitende Person auch stets über den Ertrag der Arbeit. Historisch haben erst Knechtschaft und Sklaverei eine Gruppe von Menschen geschaffen, deren Lebensinhalt vorrangig in Arbeit besteht. Der Kapitalismus scheint diesen Lebensinhalt auf einen Großteil der Bevölkerung ausgedehnt zu haben. Bei genauerer Betrachtung gilt das jedoch nur für die Periode des Industriekapitalismus. In allen Staaten der Welt geht höchstens die Hälfte der Bevölkerung einer bezahlten Arbeit nach. In den ärmeren Gesellschaften gibt es noch nicht genügend Lohnarbeit für alle, in den reichen nicht mehr.

Im Kapitalismus ist Arbeit nur insofern von Bedeutung, als sie profitabel ausgenutzt werden kann. Die Arbeiter stellen eine Ware her oder bieten eine Dienstleistung an, die auf dem Markt verkauft wird. Vom Erlös erhalten sie einen Teil, ein Teil wird reinvestiert, den Rest behält der Kapitalist als Profit. Wenn es einen Warenmarkt mit Konkurrenz zwischen verschiedenen Anbietern gibt, sinkt der Preis jedoch tendenziell. Da sich Investitionen und Löhne nicht unter ein bestimmtes Niveau drücken lassen, sinkt damit auch die Profitrate. Einen Ausweg für die Kapitalisten bieten entweder Preisabsprachen und Monopole oder Investitionen in andere Bereiche der Wirtschaft. Beide Strategien beherrschen heute das Wirtschaftsleben.

Dennoch behält die Arbeit in einem gewissen Sinne ihren zentralen Stellenwert. Das beruht teilweise darauf, dass die kapitallosen Menschen (letztlich also 99,9 Prozent der Bevölkerung) nur überleben können, indem sie etwas vom Eigentum der Kapitalisten abbekommen. Das geschieht prinzipiell über Arbeit. Der Transfer von Vermögen an die nicht arbeitende Bevölkerung über den Sozialstaat kann weder ideologisch noch ökonomisch zum Grundprinzip werden. Ökonomisch würde dann gar nichts mehr produziert. Ideologisch würden die Menschen die Struktur des Kapitalismus erkennen und wären nicht mehr zu kontrollieren.

Hannah ArendtArendt, Hannah hat verdeutlicht, dass Arbeit im Sinne einer Sicherung des Überlebens nicht die gesamte menschliche Tätigkeit umfasst. Sie schrieb, dass sich diese Form menschlicher Tätigkeit mit der Durchsetzung des Kapitalismus allerdings als einzig legitime Form menschlichen Verhaltens etabliert und damit den Reichtum der menschlichen Möglichkeiten auf ökonomische Knechtschaft reduziert habe.1 Im antiken Griechenland habe man neben der Arbeit noch (künstlerisches) Herstellen und (politisches) Handeln unterschieden. Arendts Unterscheidung von Arbeit, Herstellen und Handeln erschöpft zwar nicht alle Möglichkeiten menschlicher Tätigkeit, zeigt aber die Eindimensionalität des Arbeitsbegriffs auf. Gerade in der vielleicht produktivsten Gesellschaftsform werden die Menschen auf die Sicherung ihres Überlebens reduziert.

Gesellschaftlich wird nicht nur Arbeit verteilt, sondern jede Form der Tätigkeit, von Gesellschaftsspielen über Hausarbeit bis hin zu politischer Agitation. Nicht in allen dieser Tätigkeiten geht es um Profit, und nicht alle sind in die kapitalistische Arbeitsteilung integriert. Wir werden aber vorrangig über die Arbeit definiert. Die erste Frage an eine unbekannte Person lautet regelmäßig: „Was machst Du?“ Gemeint ist damit die Berufsarbeit. Welche anderen Tätigkeiten man ausübt, ist zweitrangig. Hat man keinen Beruf, ist man als Mensch zweitrangig. Selbstverständlich mussten die Menschen zu allen Zeiten für ihren Lebensunterhalt sorgen. Bis zur Entstehung des Kapitalismus bestand jedoch fast immer die prinzipielle Möglichkeit, ein Stück Land urbar zu machen und vom Ertrag zu leben. Diese Möglichkeit besteht nicht mehr, seit fast die gesamte Erdoberfläche in Eigentum verwandelt wurde und Lebensmittel nur über die Integration in das Arbeitssystem erhältlich sind. Der Eintritt in den kapitalistischen „Markt“ geschieht gerade nicht freiwillig, sondern über den Arbeitszwang, der den Menschen auf eine einzige Tätigkeitsform reduziert.

Es gibt keine allgemeine und freie Konkurrenz zwischen allen Menschen, sondern die Konkurrenz findet immer nur innerhalb eines engen Rahmens statt. Um einen bestimmten Job konkurrieren nur die Menschen mit den entsprechenden Qualifikationen, auf einem bestimmten Warenmarkt konkurrieren nur Unternehmer mit ausreichend Kapital, um ein bestimmtes Konsumgut konkurrieren nur die Nachfrager mit genügend Geld. Jedoch wird das System einerseits durch den Mythos Konkurrenz gerechtfertigt, andererseits werden die Menschen durch die Angst vor Konkurrenz diszipliniert. Die kapitalistische Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Angst. Mehr noch als die Arbeiterschaft um ihren Job fürchtet, hat das Kapital Angst vor dem Verlust des Eigentums. Auch frühere Herrschaftsordnungen haben sich über Angst reproduziert und legitimiert. Im Kapitalismus spielt die Konkurrenz eine zentrale Rolle bei der Erzeugung von Angst.

Die kapitalistische Gesellschaft

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