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2.2 Kolonialismus

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Der englische Kapitalismus ist eng mit dem Kolonialismus verknüpft. Man könnte in Anlehnung an Walter MignoloMignolo, Walter sogar sagen, Kapitalismus und Kolonialismus sind zwei Seiten derselben Medaille.1 Der Kolonialismus wiederum erwuchs aus den Kreuzzügen und der Verlagerung der Handelswege in den Atlantik, nachdem die Osmanen mit der Eroberung Konstantinopels 1453 die älteren Handelswege zwischen Europa und Asien zu kontrollieren begannen. Für Venedig war der direkte Weg nach Asien versperrt. Venedigs große Konkurrentin, Genua, profitierte davon und erkundete gemeinsam mit Portugal die Seewege über den Atlantik. 1492 landete Christoph KolumbusKolumbus, Christoph im Namen der portugiesischen Krone auf der Suche nach einem Seeweg nach Asien in Amerika. Daraufhin übernahmen Portugal und Spanien die Kontrolle über den europäischen Fernhandel. Der Handel wurde finanziert, indem die Europäer Edelmetalle aus Amerika raubten, in Asien gegen Waren eintauschten und diese mit einem hohen Gewinn in Europa verkauften.2 Im 16. Jahrhundert verschifften die Europäer 120 Tonnen Silber jährlich aus Amerika allein nach Südostasien.3

Zunehmend stiegen andere europäische Atlantikanrainer in das Geschäft ein. Bereits im 16. Jahrhundert griffen europäische Schiffe einander an und versuchten, Handelsschiffen die Ladung abzunehmen.4 „Der Handel der Europäer in Asien war von Anfang an (ca. 1505) ein bewaffneter Handel.“5 Matthew RestallRestall, Matthew und Felipe Fernández-ArmestoFernández-Armesto, Felipe bezeichnen die spanischen Konquistadoren, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts einen Großteil des amerikanischen Kontinents eroberten und sich vor allem aus dem niederen Adel rekrutierten, als bewaffnete Unternehmer.6 Sie mobilisierten Fußvolk und Kapital für ihre Eroberungen, die ihnen ökonomischen Gewinn verschaffen sollten. Erst im 17. Jahrhundert ging Spanien – wie England – zum staatlich organisierten Kolonialismus über.7

Piraten waren die Vorhut des englischen Kolonialismus. Sie raubten Schätze an Land, verschifften Sklaven nach Amerika und kaperten fremde Schiffe, alles mit Unterstützung des englischen Königshauses. Das bekannteste Beispiel dafür ist der Freibeuter Francis DrakeDrake, Francis, der zunächst dem spanischen Sklavenhandel Konkurrenz zu machen suchte, dann in der Karibik Piraterie betriebt und 1575 durch den Earl of EssexEarl of Essex für die englische Krone angeworben wurde.8 In dieser Eigenschaft umsegelte er die Welt und brachte sich und dem englischen Königshaus reiche Beute ein. 1581 wurde er in den Adelsstand erhoben.

1588, nach dem Sieg Englands über die spanische Flotte, die Armada, wurden die staatlich unterstützten Raubzüge in Kolonialgesellschaften auch staatlich institutionalisiert. Die englischen, aber auch die niederländischen Kolonialgesellschaften wurden von Adligen, Vertretern des Staates bzw. der Krone und Kaufleuten gemeinsam geführt. Finanzkapitalisten vergaben Kredite für Expeditionen, deren Investitionen die Schiffe mitsamt Besatzung waren. Die Unternehmen erhielten vom Staat das Monopol für eine bestimmte Region.9 Sie trieben Handel, errichteten Festungen, stellten Armeen auf und sprachen Recht. Der Staat verkaufte Anteile an den Kolonialgesellschaften als Aktien an Kapitaleigner und machte so einen Gewinn. Die Aktionäre machten Geld, wenn die Gesellschaft Gewinne einfuhr, die sie mit den Händlern und Seeleuten teilten. Die Gewinne konnten astronomisch sein. Im 17. Jahrhundert warfen Gewürznelken einen Profit von rund 2500 Prozent ab.10

Die Engländer beraubten die Schiffe anderer europäischer Mächte und der Araber, eigneten sich in den Überseegebieten gewaltsam Waren an, handelten mit gewaltsam entführten Menschen und setzten sie als Arbeitssklaven ein, betrogen örtliche Bevölkerungen und legten in der ganzen Welt Häfen an. Kapital wurde nicht durch Produktion und Handel akkumuliert, sondern durch Piraterie, den Raub von Rohstoffen, Sklaverei und Betrug. Allerdings geschah all das auf der Grundlage von Kapitalinvestitionen und mit staatlicher Unterstützung – und nicht, wie bei Seeräubern, zum eigenen Lebensunterhalt und außerhalb staatlicher Regulierung. „Der Kapitalismus triumphierte nur dann, wenn er mit dem Staat identifiziert wurde, wenn er der Staat war.“11

Der nationalstaatliche Kolonialismus unterschied sich ab dem 16. Jahrhundert zunehmend vom venezianischen Kolonialismus. Während in Venedig der Handel das Zentrum der Wirtschaft bildete, verdrängte in den portugiesischen, spanischen, niederländischen, englischen und französischen Kolonien die Ausbeutung den Handel, insbesondere in Form von Sklaverei und Rohstoffabbau. Im Laufe der Zeit dehnten sich die europäischen Niederlassungen über die Welt aus und bedeckten ganze Territorien, die in Kolonien verwandelt wurden. Um 1800 beherrschten die Europäer rund 35 Prozent der Erdoberfläche, 1914 waren etwa 85 Prozent unter westlicher Herrschaft.12

Die territoriale Weltherrschaft wird auch als Imperialismus bezeichnet und vom Kolonialismus unterschieden, weil weltumspannende Reiche errichtet wurden, die aus den europäischen Nationalstaaten und ihren Kolonien bestanden.13 Die Kolonien wurden in dieser Zeit auch nicht mehr von privaten Kapitalgesellschaften, sondern von den europäischen Regierungen beherrscht. Ihr Ziel bestand jedoch weiterhin in einem ökonomischen Profit. Der Profit wurde vom Staat für die zahlreichen Kriege und von der Wirtschaft als Kapital verwendet, das nach und nach in die einheimische Produktion investiert wurde.14

Die Frühphase des weltweiten Kolonialismus der Europäer war geprägt von Raub – insbesondere von Edelmetallen in Amerika, von Sklaven in Afrika und von Waren in Asien. Im 18. Jahrhundert ging der Kolonialismus zur Plantagenwirtschaft über, vor allem durch Zwangs- und Sklavenarbeit.15 Der Raub wich der landwirtschaftlichen Produktion, deren Erträge vor allem in Europa, aber zunehmend auch im Rest der Welt verkauft wurden. Erst dann entwickelte sich in England die Industrialisierung.16 Die aus den Kolonien abgeführten Güter, von Edelmetallen über Waren bis zu landwirtschaftlichen Produkten, bildeten eine Grundlage der industriellen Revolution.17

Wichtig für die Industrialisierung Englands war auch die Funktion der Kolonien als Absatzmärkte.18 Die Industriezweige, die in den Kolonien bereits existierten, wurden zerstört, die Entwicklung neuer Industrien wurde verboten.19 So mussten die Bewohner die Produkte kaufen, die in England hergestellt wurden. Das bekannteste Beispiel ist die indische Textilindustrie, deren Qualität zeitgenössischen europäischen Quellen zufolge den englischen Textilien weit überlegen war.20 Die Engländer, deren Industrialisierung langfristig auf der Produktion von Textilien basierte, zerstörten die indischen Produktionsanlagen, um ihre eigenen Textilien in ihrer indischen Kolonie verkaufen zu können.21

Die wichtigste Folge des Kolonialismus bestand in der Herstellung einer integrierten, ungleichen Weltordnung. Außerdem hat er außereuropäische Bevölkerungen stark dezimiert, einige sogar ausgelöscht. Insgesamt kamen mindestens 50, eher aber 262 Millionen Menschen durch den Kolonialismus ums Leben.22 Dabei ist zu bedenken, dass die Weltbevölkerung 1500 rund 500 Millionen und 1800 etwa eine Milliarde zählte. Darüber hinaus trug der Kolonialismus zur Industrialisierung Europas bei. Ferner hat er einen großen Anteil gehabt, die europäischen Staaten in kapitalistische Nationalstaaten zu verwandeln, indem die Kolonialgesellschaften privates Kapital und staatliche Organisation miteinander verbanden. Dadurch entstand die noch heute zentrale Verzahnung von Staat und Kapital. „Wann immer das Interesse an einer Kolonie von Handel und Räuberei zur planvollen Ausbeutung ihrer Ressourcen überging, musste der koloniale Staat durch Infrastrukturprojekte (Eisenbahnen, Kanäle, Straßen, Telegraphennetze), durch Landerschließungsprogramme, durch Zoll- und Währungspolitik oder durch städtebauliche Initiativen privaten Geschäftsinteressen den Weg bahnen.“23

Der Kolonialismus gehört insofern der Vergangenheit an, als die Welt nicht mehr von Europa beherrscht wird. Allerdings ist er immer noch aktuell, da die Struktur der heutigen Welt ein Erbe des Kolonialismus ist. Die heute armen Länder sind allesamt ehemalige Kolonien, die während der Kolonialzeit ausgeplündert, versklavt und gesellschaftlich verwüstet worden sind. Die ehemaligen Kolonialherrscher hingegen gehören auch heute noch zu den reichen und mächtigen Ländern. Nur wenige der einstigen Kolonien haben einen Aufstieg geschafft, beispielsweise die USA, Australien, Neuseeland und die asiatischen Tiger; China war nur teilweise kolonialisiert. Darüber hinaus sind die ehemaligen Kolonien bis heute sprachlich, kulturell und politisch mit ihren ehemaligen Herrschern verbunden. Schließlich wurden ihnen der Kapitalismus und die politische Organisation des Nationalstaats aufgezwungen.

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