Читать книгу Die kapitalistische Gesellschaft - Boike Rehbein - Страница 6
2.1 Handel und Finanzen
ОглавлениеDie am meisten verbreitete Version der Geschichte lautet, dass sich der Aufstieg des Kapitalismus der überlegenen Produktivität verdankte, die er entfaltete.1 Die Entwicklung der Wissenschaft, technische Erfindungen, die betriebliche Arbeitsteilung und der freie Markt sollen den Erfolg des Kapitalismus begründet haben. Tatsächlich spielten diese Faktoren eine Rolle, aber erst in einer Zeit, als der westliche Kapitalismus einen Großteil der Welt schon erobert hatte. Technik und Industrie waren nicht die Triebkräfte des Kapitalismus. Großindustrie, die Dampfmaschine, das Gusseisen, das Schießpulver und viele andere Entwicklungen, die wir für entscheidende Neuerungen des westlichen Kapitalismus halten, gab es in Asien schon Jahrhunderte früher als in Europa.2 Und die Großindustrie entwickelte sich in Europa erst, als die wichtigsten Elemente des Kapitalismus schon existierten. Die Industrialisierung war ebenso wie der Einsatz von Technologie nur ein Element der Entfaltung des Kapitalismus. Das zeigt sich, wenn man die Entwicklung des (westlichen, institutionalisierten) Kapitalismus Schritt für Schritt nachvollzieht.
Die Anfänge des (westlichen, institutionalisierten) Kapitalismus reichen weit in das mittelalterliche Italien zurück, und die vollständige Transformation westlicher Gesellschaften in kapitalistische Systeme ist erst für das 20. Jahrhundert festzustellen. Die Erfindung des handelbaren Kredits, der Kolonialismus, der Nationalstaat, die Staatsverschuldung, die Industrialisierung und die wissenschaftliche Grundlegung der Volkswirtschaft waren wichtige Etappen auf dem Weg zum heutigen Kapitalismus, aber keine Etappe allein hat den Kapitalismus begründet. Diese Etappen werden die folgenden Abschnitte skizzieren, da sie zentrale Elemente des heutigen Kapitalismus begründeten.
Den heutigen Kapitalismus können wir in die oberitalienischen Städte zurückverfolgen, wo Kapitalgesellschaften entstanden, die von Banken finanziert und von der Aristokratie kontrolliert wurden.3 Eine für den Kapitalismus entscheidende Neuerung war um 1200 die Wiederentdeckung des so genannten Wechsels.4 Der Wechsel ist ein Stück Papier, für das ein Kreditnehmer Geld erhält und im Gegenzug auf dem Papier die Zahlung einer entsprechenden Geldsumme zu einem späteren Zeitpunkt verspricht. Der Kreditgeber erhielt normalerweise einen Zins auf den Wechsel, also einen Gewinn. Im 16. Jahrhundert wurde der Wechsel dahingehend weiterentwickelt, dass er gemeinsam mit dem Anspruch auf Rück- und Zinszahlung weiterverkauft werden konnte – ähnlich wie eine Staatsanleihe heute.5
Beim Kreditgeschäft sitzt der Verleiher – oder der Kapitalist oder die Bank – immer am längeren Hebel. Für das Verständnis des Kapitalismus ist es wichtig, sich zu verdeutlichen, dass beim Kreditgeschäft nicht zwei gleiche Partner einander gegenübertreten. Der Verleiher gewinnt (fast) immer, der Kreditnehmer verliert (fast) immer. Nehmen wir als Beispiel einen Kredit von 1000 Euro mit einer Laufzeit von einem Jahr und einem Zinssatz von fünf Prozent. Ein Geldverleiher hat zu Beginn des Geschäfts 1000 Euro, am Ende 1050. Der Kreditnehmer hat am Anfang 0 und am Ende 0, erhält aber 1000 Euro und muss 1050 zurückzahlen. Der Kreditgeber verliert nur, wenn der Kreditnehmer das Geld nicht zurückzahlt. Die einzige Möglichkeit für den Kreditnehmer, hinterher nicht ärmer als vorher zu sein, besteht darin, die 1000 Euro so zu investieren, dass nach einem Jahr ein Gewinn von mindestens 50 Euro über die investierten 1000 Euro hinaus erzielt wird.
Dieses Ziel verfolgte und verfolgt der Handel. Kaufleute müssen auch heute noch oft einen Kredit aufnehmen, weil sie erst beim Verkauf der Ware Geld erhalten. Oft besitzen sie zum Zeitpunkt des Kaufs das notwendige Kapital nicht. Der Handel ist kapitalistisch, insofern er mit Gewinnerwartung investiert. Das trifft auf den europäischen Handel seit dem 13. Jahrhundert immer mehr zu. Die meisten anderen Kreditnehmer machen mit einem aufgenommenen Kredit keinen Gewinn, sondern finanzieren beispielsweise ihr Eigenheim oder ihren Konsum. Im Handel wird hingegen gekauft, um teurer zu verkaufen. Der Händler erhält am Ende das eingesetzte Kapital plus einen Gewinn, der nicht (vollständig) konsumiert wird.
Der europäische Fernhandel des Mittelalters wurde zunehmend durch Kredite finanziert, und der Wechsel spielte eine wichtige Rolle. Händler bezahlten mit einem Wechsel, kauften also auf Kredit, bevor sie die Ware verkauften. Darüber hinaus handelten die oberitalienischen Kaufleute schon im 13. Jahrhundert mit Währungen oder Edelmetallen, indem sie Gold in goldarmen Gegenden verkauften und Silber dort, wo Silber knapp war.6 Die Kredit- und Währungsgeschäfte wurden immer mehr von Banken übernommen, die in Italien ihre erste Blüte erfuhren. Ein Finanzkapital entstand, das in Banken institutionalisiert und konzentriert war.
Die Herrscher der norditalienischen Stadtstaaten waren oft gleichzeitig Inhaber großer Bankhäuser und Organisatoren des Fernhandels. Das vielleicht bekannteste Beispiel ist die Familie Medici, die Jahrhunderte lang Florenz beherrschte und mehrere Päpste stellte. Gleichzeitig gehörte ihr das wichtigste Bankhaus der Stadt Florenz.7 Die Medicis brauchten etwa ein Jahrhundert für ihren Aufstieg von einer wohlhabenden zur reichsten Familie der Stadt, bis Cosimo de‘ MediciMedici, Cosimo de‘ zu Beginn des 15. Jahrhunderts Bankier des Papstes wurde. Zu dieser Zeit war die Familie mit den anderen mächtigen Familien von Florenz bereits durch Heirat verflochten.8 Zunehmend entstand ein Konflikt zwischen den Medicis und dem Papst um die Vorherrschaft in Italien, den die Medicis im 16. Jahrhundert dadurch für sich entschieden, dass sie sich selbst zu Päpsten wählen ließen, während sie sich gleichzeitig auf ihre Bank und die Herrschaft über Florenz stützten.9
Zur mächtigsten Handelsstadt entwickelte sich ab etwa 1000 u.Z. Venedig. Der Stadtstaat kontrollierte den Fernhandel im östlichen Mittelmeer, in dem Konstantinopel den Austausch mit Asien vermittelte.10 1204 gelang Venedig der Durchbruch, indem es Konstantinopel eroberte und dadurch den Handel zwischen Europa und Asien weitgehend unter seine Kontrolle brachte. Einige Jahrzehnte später reiste der Venezianer Marco PoloPolo, Marco nach China. 1310 wurde die venezianische Verfassung verabschiedet, die der Aristokratie die Macht im Staat verlieh. Die Aristokratie bildete den Großen Rat und wählte den Rat der Zehn, gleichsam die Regierung, und den Dogen, eine Art Regierungschef. Dieser Staat trieb Handel, Piraterie und Kolonialisierung im östlichen Mittelmeer. In den Kolonialgebieten mussten Sklaven für die Venezianer arbeiten. Die venezianische Aristokratie wurde reich.
Heute führen wir die Entstehung des westlichen, institutionalisierten Kapitalismus eher auf die Geschichte Englands11 als auf die Venedigs zurück. Dafür gibt es gute und weniger gute Argumente. Die soziale und politische Struktur des Staates Venedig sowie die Quellen seines Reichtums waren vom England des 17. Jahrhunderts nicht grundsätzlich verschieden. Die Herrschaft einer kleinen Aristokratie, die sich vermittelt über den Staat durch den Fernhandel, Raub und die Ausbeutung von Sklavenarbeit in Kolonialgebieten bereichert, ist in England und Venedig identisch. Wo der Kapitalismus im heutigen Sinne begann, ist nicht leicht zu sagen. Beide Staaten gründeten sich auf kapitalistisch finanzierten Fernhandel und Kolonialisierung.
Handel und Finanzwesen sind bis heute zentrale Bestandteile des Kapitalismus. Im Handel wird ein Gewinn gemacht, indem man billig kauft und teuer verkauft, im Finanzwesen, indem man Geld gegen Zinsen verleiht. Man mag einwenden, dass der Handel ein Nullsummenspiel sei: Was der eine gewinnt, verliert der andere. Oft wird im Handel tatsächlich eine Seite übervorteilt. Er ist jedoch kein Nullsummenspiel. Erstens hat Adam SmithSmith, Adam mit Bezug auf den Gebrauchswert gezeigt, dass im Handel beide Seiten gewinnen können. Als Beispiel führte er den Tausch von polnischem Getreide gegen portugiesischen Wein an – da in Polen kein guter Wein erzeugt werden könne, beziehe man ihn aus Portugal, und das Getreide beziehe Portugal aus Polen.12 Zweitens hat der europäische Handel schon für Venedig Werte geschaffen, indem nicht nur mit Kaufleuten anderer Staaten gehandelt wurde, sondern Rohstoffe und Sklaven verkauft wurden. Diese wurden zu geringen Kosten akquiriert, verschifft und gehandelt. Ohne die Ausbeutung der Natur ist die Geschichte des Kapitalismus gar nicht denkbar, wie ich weiter unten zeigen werde.13
Ähnlich verhält es sich mit dem Finanzwesen. Geld und Wertpapiere sind nicht einfach Symbole für einen „realen“ Wert, der durch die Produktion erzeugt wird. Vielmehr sind sie auch Machtmittel und können selbst Werte bilden. Darüber hinaus muss dem Geld oder Wertpapier kein anderer Wert entsprechen.14 Sie können einfach geschaffen werden, insofern sie als Zahlungs- oder Wertaufbewahrungsmittel akzeptiert werden. Wir tun das jeden Tag, indem wir auf den Staat und die Gesellschaft vertrauen, dass ein bedrucktes Stück Papier uns den Kauf von Waren ermöglicht. Schließlich wird der Wert des Gesamtvermögens einer Gesellschaft nicht allein durch die Produktion gesteigert, sondern, wie erwähnt, auch durch die Ausbeutung der Natur, sowie durch Dienstleistungen aller Art. Es ist wichtig festzuhalten, dass das Finanzsystem keineswegs eine Entartung eines früher einmal gesunden Kapitalismus bildet, sondern von Anfang an ein zentraler Bestandteil des Kapitalismus war – ganz gleich, wo man den Anfang ansetzt. In der Spekulation können Handel und Finanz verbunden werden.
In England wurden jedoch drei weitere Faktoren wirksam, die so in Venedig nicht gegeben waren, nämlich die Enteignung der Landbevölkerung, die Verwandlung des Gemeinwesens in einen Nationalstaat und die Privatisierung der Staatsschulden über eine Staatsbank. Insgesamt sind mindestens diese Faktoren von Bedeutung: Fernhandel, Finanzwesen, Kolonialismus, Nationalstaat, Enteignung, Staatsschulden und Ausbeutung der Natur. Im Folgenden werde ich die zuletzt genannten Faktoren erläutern, die bislang noch nicht eingehend diskutiert wurden.