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2.8 Politische Legitimation

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Im frühen 17. Jahrhundert entbrannte in Europa der Dreißigjährige Krieg und in England ein Bürgerkrieg, an dem alle sozialen Schichten beteiligt waren. In der Folge wurde in England ein Parlament als Volksvertretung eingerichtet, zu dem allerdings nur ein kleiner, privilegierter Teil der Bevölkerung Zugang hatte. Die englische Revolution begrenzte zwar die Macht der Monarchie, war aber eigentlich keine bürgerliche Revolution. Das Parlament bestand aus erblichen Mitgliedern von Adel und Großbürgertum. Bis weit ins 20. Jahrhundert rekrutierten sich Regierung und hohe Beamte aus der Oberklasse. Letztlich handelte es sich um eine Demokratie der Kapitalbesitzer ohne Mitspracherecht für die Masse der Bevölkerung.1 Daran änderte sich erst durch die Sozialreformen unter der Labour Party nach dem Zweiten Weltkrieg etwas. Schon Margaret ThatcherThatcher suchte die Reformen wieder rückgängig zu machen, teilweise mit Erfolg.

In den Lehrbüchern wird verkündet, dass die Demokratie mit der französischen und der amerikanischen Revolution zumindest in der westlichen Welt verwirklicht worden sei. Allerdings fanden in den anderen Staaten Europas derartige Revolutionen erst im 19. oder 20. Jahrhundert oder überhaupt nicht statt. Ferner blieben in allen Staaten, auch in Frankreich und den USA, bis ins 20. Jahrhundert die meisten Menschen von politischer Beteiligung ausgeschlossen. Sklaven und Arbeiter erhielten in den meisten Staaten erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Bürgerrechte, Frauen und Kolonialvölker während des 20. Jahrhunderts. Einigen Gruppen, wie Ausländern und Strafgefangenen, bleiben sie vielerorts bis heute verwehrt. Die Demokratie im Sinne der formalen Gleichheit aller Menschen wurde selbst in Frankreich und den USA nicht mit der Revolution, sondern schrittweise eingeführt. Die später integrierten Gruppen sind bis heute unterprivilegiert und haben kaum Kapital und nur einen geringen Einfluss auf die Politik.

Heute bezeichnen sich Großbritannien mit einer verfassungsmäßig privilegierten Aristokratie und einem Monarchen, Schweden mit einem starken Sozialstaat und einem Monarchen, die Schweiz mit Tendenzen zur direkten Demokratie und China mit einer kommunistischen Ein-Parteien-Herrschaft allesamt als Demokratien. Keiner dieser Nationalstaaten hat die Gleichheit der Menschen verwirklicht. Die Staaten unterscheiden sich fundamental voneinander, haben aber gemeinsam, dass die Gruppe der Kapitalisten den Kern der Oberklasse bildet. Die Unterschiede beruhen auf der jeweiligen Vorgeschichte der Demokratie und dem Anteil, den die sozialen Gruppen ohne Kapitalbesitz an der Gestaltung des Staates erringen konnten.

Die Varianten der Demokratie resultieren aus politischen Kämpfen. In einigen Staaten wurden infolge der Kämpfe viele Privilegien des Adels abgeschafft. Einige Länder haben auch die Vorrechte des Kapitals begrenzt. Und die sozialistischen Revolutionen haben sogar versucht, die Gruppe der Kapitalisten abzuschaffen. Nirgendwo wurden jedoch die Strukturen der Herrschaft beseitigt, überall herrschte eine kleine Gruppe von Menschen über den Rest, sei es offensichtlich und formal legitimiert, sei es indirekt und unsichtbar. Das Buch beschäftigt sich vor allem mit der unsichtbaren Herrschaft.

Nach der Einführung einer Demokratie bestand prinzipiell eine Spannung zwischen dem Anspruch auf Gleichheit und den Strukturen der Ungleichheit. Es besteht auch ein latenter Gegensatz zwischen der Konzentration des Kapitals und der Volksvertretung, der sich oft als Konflikt zwischen Staat und Wirtschaft darstellt. Der demokratische Staat bietet immer die prinzipielle Möglichkeit, dass unterprivilegierte Gruppen die Politik beeinflussen oder gar die Herrschaft ergreifen. Da die unterprivilegierten Gruppen jedoch keinen Zugang zum Kapital haben, ist es für sie ungleich schwieriger, Einfluss auf die Politik zu nehmen.

Die Ungleichheit in kapitalistischen Gesellschaften ist offenkundig. Während manche Familien Schlösser, Wälder, Unternehmen und Finanzinvestitionen im Wert von Milliarden besitzen, haben die meisten Menschen Mühe, mit harter Arbeit über die Runden zu kommen. Es ist auch offenkundig, dass die Nachkommen von früher unterprivilegierten Gruppen – wie Kolonialvölker, Sklaven, Arbeiter oder ethnische Minderheiten – auch heute unterprivilegiert sind. Gerade in demokratischen Staaten müsste diese Ungleichheit eigentlich ein Skandal sein, der zum sofortigen Handeln auffordert. Warum ist das nicht der Fall? Die Antwort lautet, dass Ungleichheit im Kapitalismus offiziell zum Resultat von Konkurrenz erklärt wird. Dass die Ausgangssituation der Konkurrenz von Ungleichheit geprägt ist, wird unsichtbar gemacht. Dadurch wirkt die Ungleichheit legitim. Das ist das vorrangige Geheimnis, warum sich der Kapitalismus trotz der strukturellen und historisch einzigartigen Ungleichheit aufrechtzuerhalten vermag.

Die Sozialwissenschaften der letzten Jahrhunderte haben sich zu einem beträchtlichen Teil mit der Ungleichheit beschäftigt. Die Tradition des Liberalismus versucht seit dem 17. Jahrhundert bis heute, die Menschen zu faktisch gleichen Bürgern des Staates zu erklären. Alle sollen die gleichen politischen und wirtschaftlichen Chancen haben. Obwohl das in direktem Widerspruch zur Wirklichkeit steht, die wir jeden Tag erfahren, glauben fast alle von uns an diese Grundlage des Liberalismus: Wir sind alle gleich, uns stehen alle Möglichkeiten offen, und wer im Elend lebt, hat zumindest teilweise selbst daran schuld.

Der Liberalismus lässt sich zum englischen Philosophen Thomas HobbesHobbes, Thomas zurückverfolgen. Inmitten des englischen Bürgerkriegs hat er sein Hauptwerk, Leviathan, geschrieben und 1651 veröffentlicht.2 Hobbes wandte Galileis Wissenschaft auf die Gesellschaft an und erklärte alle Menschen für gleiche Atome, die miteinander konkurrieren. Der Souverän, vertreten durch den Monarchen, sollte die Konkurrenz regulieren. Diese Idee hat Jean-Jacques RousseauRousseau, Jean-Jacques Mitte des 18. Jahrhunderts weiterentwickelt und den Monarchen durch eine Volksvertretung ersetzt.3 Das Konzept der modernen Demokratie war geboren und wurde 1776 in den USA und 1789 in Frankreich zur Anwendung gebracht. Die Gesellschaft wird zur Demokratie, der Souverän ist das Volk. Allerdings hatte Rousseau eine direkte Demokratie vor Augen, in der alle Bürger in der Volksvertretung mitwirken. In der heutigen Demokratie hingegen wird das Volk vertreten durch Berufspolitiker, die sich aus den Eliten rekrutieren und von der herrschenden Klasse abhängig sind. Weiter unten werde ich zeigen, dass das einer der zentralen Schwachpunkte der heutigen Politik ist.

HobbesHobbes, Thomas’ Theorie einer Konkurrenz gleicher Atome wurde von Adam SmithSmith, Adam auf die Wirtschaft übertragen. In seinem bekanntesten Werk, Der Wohlstand der Nationen, das im Jahr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 veröffentlicht wurde, führt Smith aus, dass der Markt als Konkurrenz zwischen freien und rechtlich gleichen Individuen ein Maximum an Produktivität, Qualität und Preissenkungen gewährleiste.4 Das gelte auch für die internationale Produktion und den Welthandel. Die Nationen sollten frei und gleich konkurrieren und sich dabei auf ihre relativen Vorteile spezialisieren. Genauso sollten sich auch Individuen und Unternehmen verhalten. Auf Grundlage des Marktes, der Arbeitsteilung und der Konkurrenz steige der Wohlstand jeder Nation. Monopole, Zünfte, Kartelle, Raub und staatliche Eingriffe seien hingegen nachteilig.

Der Staat soll SmithSmith, Adam zufolge allerdings formal die Märkte für Arbeit und Kapital so regulieren, dass eine möglichst freie und gleiche Konkurrenz stattfindet. Dabei berücksichtigt Smith erstens nicht, dass Kapital und Fähigkeiten zu jedem Zeitpunkt sehr ungleich verteilt sind, die Menschen also mit sehr ungleichen Voraussetzungen in die Konkurrenz eintreten. Zweitens dient die Regulierung zwar dem allgemeinen Wirtschaftswachstum, dem Wohlstand der Nationen, aber dass die Profite allein den Besitzern ökonomischen Kapitals zufließen, problematisiert Smith nicht. Er schreibt, als sei es selbstverständlich, dass die Arbeiter, besser gesagt: alle Menschen ohne ausreichendes ökonomisches Kapital, nur je auszuhandelnde Festbeträge als Löhne erhalten, die Kapitalisten aber die Profite.5

Die Gedanken von HobbesHobbes, Thomas, RousseauRousseau, Jean-Jacques und SmithSmith, Adam sind bis heute Grundlagen der Politik- und Wirtschaftswissenschaften. Sie sind aber auch in die Verfassungen der meisten Staaten und – über Schulbücher, Fachliteratur, Medien und Expertenmeinungen – in das Allgemeinwissen oder den „gesunden Menschenverstand“ eingegangen. Indem wir uns die kapitalistische Welt als eine Konkurrenz gleicher und freier Individuen vorstellen, sehen wir die grundlegende Ungleichheit nicht, die sich auf vorkapitalistische Hierarchien zurückführen lässt. Vor aller Konkurrenz werden wir als Ungleiche geboren. Nur sehr wenige Menschen werden als Kapitalisten geboren. Wir werden im Folgenden sehen, dass kaum eine Mobilität aus der oder in die Kapitalistenklasse existiert, obwohl genau das die Legitimationsgrundlage des Kapitalismus sein soll.

Die kapitalistische Gesellschaft

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