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2.4.1 Diskurs, Dispositiv und Macht

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„Im hier verfolgten Verständnis handelt es sich bei Diskursen um strukturell verknüpfte Aussagenkomplexe, in denen Behauptungen über Phänomenbereiche auf Dauer gestellt und mit mehr oder weniger starken Geltungsansprüchen versehen sind. Diskurse sind - in einer anderen Wendung der eingangs formulierten Definition - spezifizierbare und konventionalisierte Ensembles von Kategorien und Praktiken, die das diskursive Handeln sozialer Akteure instruieren, durch diese Akteure handlungspraktisch in Gestalt von diskursiven Ereignissen produziert bzw. transformiert werden und die soziale Realität von Phänomenen konstituieren. Diskussionen sind kommunikative Veranstaltungen, in denen verschiedene Diskurse aufeinander treffen (können)“ (Keller 2008, 236).

Während Foucault sich in seinem Frühwerk vor allem auf die Regelmäßigkeiten verstreuter Aussagen konzentrierte, diskursive Formationssysteme zu rekonstruieren suchte und diese als in sich autonom betrachtete („Archäologie des Wissens“), galt sein Augenmerk im Laufe der Zeit zunehmend den Machteffekten diskursiver Kontroll- und Ausschlussmechanismen, die durch die Etablierung von „Sagbarkeitsfeldern“ Wirklichkeit und Wahrheit erst erschufen („Genealogie“ von Macht/Wissen): „Als Genealogie bezeichnen wir also die Verbindung zwischen gelehrten Kenntnissen und lokalen Erinnerungen, die die Konstituierung eines historischen Wissens der Kämpfe ermöglicht sowie die Verwendung diese Wissens in den gegenwärtigen Taktiken“ (Foucault, 1978, 62). Macht kann sich nur über die Etablierung gültigen Wissens realisieren, Wissen stellt ein (Macht-)Produkt dar, auf diese Weise sind beide unauflöslich miteinander verschränkt.

Sein vornehmliches Interesse galt jetzt diesen Codes und Prozessen der „Wahrheitsbildung“, der diskursiven Praxis, die sein ehedem statisches Diskursverständnis aufbrach. Die konkreten Inhalte, das „Wesen“ der jeweiligen (diskurspezifischen) Wahrheit, waren für ihn dabei im wahrsten Sinne des Wortes zweitrangig[28], da Wahrheit gänzlich zur abhängigen Variable eines nach Nitzsche „Willens zur Wahrheit“ degradiert wurde, der „dazu tendiert, auf die anderen Diskurse Druck und Zwang auszuüben“ (Foucault 1974, 16). Er verabschiedete sich somit gänzlich von einer Suche nach „der Wahrheit“ und widmete sich den von Macht geprägten Prozessen der Wahrheitsbildung. Die „Illusion des autonomen Diskurses“ wich den Definitionswettkämpfen und „Spielen der Wahrheit“ (vgl. Ruoff 2007, 91ff.; Keller 2008 122ff.; Bührmann 2008, 27f.). „Wichtig ist, so glaube ich, dass die Wahrheit weder außerhalb der Macht steht noch ohne Macht ist […] Die Wahrheit ist von dieser Welt; in dieser wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert, verfügt sie über geregelte Machtwirkungen. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre ‘allgemeine Politik‘ der Wahrheit“ (Foucault 1978, 51).

Um diesen Machteffekten auf die Schliche zu kommen und gesellschaftlichen Wandel im Zusammenspiel diskursiver und nichtdiskursiver Praktiken erklären zu können, erweiterte er die Diskursanalyse zur Dispositivanalyse. Ein Dispositiv ist nach Foucault eine „entschieden heterogene Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen […], kurz, Gesagtes ebenso wie Ungesagtes, das sind die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das man zwischen diesen Elementen herstellen kann“ (Foucault 2003, 392). Indem er sich von der strukturalistischen Vorstellung selbstregulierender Diskurse befreite, gelang es ihm, die Verbindung von diskursivem und gesellschaftlichem Wandel in den Blick zu nehmen. Somit ließ sich der oft gegen den Strukturalismus erhobene Vorwurf „mit ihm lasse sich weder politische noch gesellschaftsverändernde Praxis theoretisieren (Moebius 2005, 145) entkräften.

Der Erweiterung des Diskurses zum Dispositiv ist eine klare Trennung von diskursiven und nicht diskursiven Praktiken immanent. So bezeichnet er die Institution als „Alles das, was in einer Gesellschaft als Zwangssystem funktioniert, ohne dass es eine Aussage ist, zusammengefasst, das gesamte nicht-diskursive Soziale“ (Foucault 2003, 396). Die Dispositive „>umstellen< das Subjekt und steuern seine Wahrnehmung der Welt. Sie bestimmen auf eine – in ihrem Wirken oft unerkannte, weil nicht bewusste und deshalb als >natürlich< genommene – Art und Weise, wie wir Welt wahrnehmen. Es liegt nahe, eine solche Konstruktion auch auf die Medien als gesellschaftliche Wahrnehmungsinstanzen zu beziehen, auch wenn dies Foucault selbst nicht explizit getan hat“ (Hickethier 2003, 187). Das Dispositiv stellt in diesem Verständnis eine Art Schnittstelle zwischen Diskurs und „der Welt“ dar, über die Macht zum Ausdruck kommt.

Die im Dispositivbegriff artikulierte Annahme einer Sphäre des „nicht diskursiv Sozialen“ widerspricht im Grunde der vorangegangenen Prämisse eines notwendig diskursiven Charakters der sozialen Welt. Foucault bleibt in diesem Sinne laut Jäger „der Trennung zwischen geistiger Tätigkeit und (ungeistiger?) körperlicher Arbeit verhaftet, in dieser Hinsicht eben auch ein Kind seiner Zeit bzw. seiner Herkunft, in der die Bürger die Kopfarbeit verabsolutierten und die Handarbeit für völlig ungeistig hielten“ (Jäger 2001, 93). Es erscheint daher durchaus plausibel, anstatt einer „künstlichen“ Trennung zwischen diskursiven Praktiken und „dem Rest“ im Sinne der Diskurs- und Sozialtheorie von Laclau / Mouffe (2000) von dem notwendig diskursiven Charakter aller sozialen Prozesse auszugehen. Alle gesellschaftlichen wie sozialen Phänomene, Ereignisse, Objekte und Institutionen erfahren ihre Sinnhaftigkeit erst durch Bedeutungszuweisung, sind also in einen diskursiven Kontext eingebettet. Es geht dann nicht um die Frage nach Foucault, inwiefern das „nicht diskursiv Soziale“ den Diskurs prägt oder von den diskursiven Praktiken seinerseits geprägt wird, sondern ALLES SOZIALE IST DISKURSIV. Da die soziale Welt ohne diskursiven Rahmen wahrlich bedeutungslos wäre, ist eine bedeutende gesellschaftliche Funktion abseits des Diskursiven nicht denkbar, der Diskurs ist Existenzbedingung für jede soziale Realität und Relation, die „im Feld der foucaultschen Diskursanalyse gebräuchliche Unterscheidung von diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken entfällt damit“ (Nonnhof 2007, 9).

Agamben verallgemeinert in diesem Sinne den auf Foucault aufbauenden Dispositivbegriff als „alles, was irgendwie dazu imstande ist, die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern. Also nicht nur die Gefängnisse, die Irrenanstalten, das Panoptikum, die Schulen, die Beichte, die Fabriken, die Disziplinen, die juristischen Maßnahmen etc., deren Zusammenhang mit der Macht in gewissem Sinne offensichtlich ist, sondern auch der Federhalter, die Schrift, die Literatur, die Philosophie, die Landwirtschaft, die Zigarette, die Schifffahrt, die Computer, die Mobiltelefone und - warum nicht - die Sprache selbst, die das vielleicht älteste Dispositiv ist“ (Agamben 2008, 26). Er behält zwar das Konstrukt des Dispositivs bei, die Differenz und Abgrenzung zum Diskurs erscheint dabei aber unklar.

Wegen der aus einem allumfassenden Diskursbegriff nach Laclau / Mouffe resultierenden Gefahr „sich im Nebel eines >alles ist Diskurs<“ aufzulösen und „zu einem unbestimmten >One Concept Fits All< zu werden“ (Bührmann 2008, 14) wird das analytische Konzept Dispositiv im Sinne der Wissenssoziologischen Diskursanalyse jedoch beibehalten. Keller adaptiert dementsprechend Foucaults Dispositivbegriff als „institutionalisierte infrastrukturelle Momente und Maßnahmenbündel - wie Zuständigkeitsbereiche, formale Vorgehensweisen, Objekte, Technologien, Sanktionsinstanzen, Ausbildungsgänge usw., […] die einerseits zur (Re-)Produktion eines Diskurses beitragen, und durch die andererseits ein Diskurs in der Welt intervenieren, also Machteffekte realisieren kann“ (Keller 2004, 63). Mit einer Berücksichtigung des Zusammenspiels diskursiver, nicht-diskursiver Praktiken und materieller Vergegenständlichungen würde „ im Vergleich zum Diskursbegriff der Analyseraum umfassender für solches, nicht-diskursives Wissen geöffnet, das nicht (noch nicht oder nicht mehr) Gegenstand diskursiver Praktiken ist“ (Bührmann 2008, 55). Wobei die Erläuterungen zum Dispositiv nur der theoretischen Verortung dienen, da sich die Analyse in der Praxis in Anbetracht der schieren Fülle des schon gesammelten Datenmaterials und der Machbarkeit auf die öffentlichen Diskurse beschränkt und nicht zur Dispositivanalyse erweitert wird.

Die Dispositive sind dennoch insofern für die Analyse von Diskursen von Bedeutung und präsent, als sie „Möglichkeitsräume für gültiges, >wahres< Wissen“ konstituieren und daher „in diesem Sinne immer schon Effekte von Machtbeziehungen“ (ebd., 53) zwischen diskursiven „Wahrheitsspielen“ und nicht-diskursiven Praktiken sind, also den Diskurs nachhaltig prägen. Macht ist im Foucaultschen Verständnis keine faktische Größe, kein zu besitzendes Gut, sondern „die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren“ (Foucault zit. nach Moebius 2009, 94). Die „Mikrophysik der Macht“ nach Foucault durchdringt alle Bereiche der Gesellschaft inklusive der Subjekte, „die im Prozess des Unterworfenwerdens durch die Dispositive zum Subjekt und gleichsam ins Leben gerufen werden“ (Moebius 2009, 95). Macht ist ein Konglomerat an „anonymen Strategien“ (Pundt 2008, 44), die gekoppelt an Institutionen von den Subjekten internalisiert werden und somit bestimmte (Macht-)Effekte erzielen. Macht wird hier umgedeutet von einem repressiven zu einem produktiven Begriff und „das Individuum und seine Erkenntnisse sind Ergebnisse dieser Produktion“ (Foucault zit. nach Thomas 2009, 65). Macht kann man nicht besitzen, sie ist kein handelbares Gut und sie ballt sich auch nicht in sogenannten Schaltzentralen zusammen, sie wirkt im Kleinen, im Alltag, im Subjekt.

Indem er von der Immanenz der Macht ausgeht, stellt er sich gegen ein linkes wie bürgerliches „ökonomisches“ Machtverständnis, welches Macht in Strukturen oder Individuen verortet und vornehmlich als Unterdrückungsinstrument „von oben“ wahrnimmt. Er habe versucht zu zeigen, „dass die Mechanismen, die in diesen Machtformationen wirksam sind, etwas ganz anderes als Unterdrückung, jedenfalls sehr viel mehr als Unterdrückung sind“ (Foucault, 1978, 74). Der Staat spielt in seiner Logik für den Prozess der Machtausübung nur eine sekundäre Rolle und Utopien (etwa einer „machtfreien“ Gesellschaft) sind nicht nur unrealistisch, sondern in ihren Grundannahmen von Staat und Gesellschaft fehlerhaft[29] (vgl. Thomas 2009, 64ff.). Foucault verortet den Machtkampf im Sinne der „Mikrophysik der Macht“ im Lokalen. „Der Grund dafür, dass die Macht herrscht, dass man sie akzeptiert, liegt ganz einfach darin, dass sie nicht nur als neinsagende Gewalt auf uns lastet, sondern in Wirklichkeit die Körper durchdringt, Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse produziert; man muss sie als ein produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper überzieht und nicht so sehr als negative Instanz, deren Funktion in der Unterdrückung besteht“ (Foucault 1978, 34). [30]

Ein derartiges Machtverständnis negiert zwar nicht die Existenz von Unterdrückungsverhältnissen, erschwert jedoch die Kritik an „den Verhältnissen“, was jedoch nicht mit Macht- oder Aussichtslosigkeit verwechselt werden darf, „[v]ielmehr ist der relationale Charakter der Machtverhältnisse hervorzuheben: Jede Macht erzeugt eine Gegenmacht in Gestalt von Widerstand“ (Lavagno 2006, 48). Im Angesicht des „befremdlichen Überlebens des Neoliberalismus“ (Crouch 2011) hat die moderne Kapitalismuskritik diese Mikrophysik und Immanenz der Macht als Erklärungsansatz aufgegriffen (siehe 7).

Die Formation von Diskursen und Dispositiven verweist insofern auf diesen „relationalen Charakter der Machtverhältnisse“, als sie gleichzeitig die Deformation ihrer Vorläufer erfordert. Ein Vorgang, der auf die Dynamik der diskursiven Praxis verweist im Kontrast zur starren Diskursordnung im klassischen Strukturalismus und zum Frühwerk Foucaults (Archäologie). Diese Praxis bedingt dabei Brüche im System, durch die (diskursiver) Wandel sich vollziehen kann. „Dispositive lassen sich nicht restlos und widerspruchsfrei totalisieren; so existieren in der sozialen Praxis immer >Risse< und damit unterschiedliche Aneignungs- wie Umdeutungsmöglichkeiten“ (Bührmann 2008, 53). Diese Risse an den Rändern des Diskurses lösen Unruhe aus „angesichts dessen, was der Diskurs in seiner materiellen Wirklichkeit als gesprochenes oder geschriebenes Ding ist“ (Foucault 1974, 10). Aufgabe der Diskurse und Dispositive ist es, mittels der Prozesse diskursiver Inklusion / Exklusion „die Kräfte und Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbares Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen“ (ebd., 11).

Foucault registrierte dieses Wuchern an den Rändern des Diskurses mit Interesse, ohne es zum eigentlichen Gegenstand seiner Analysen zu machen. Laclau / Mouffe (2000) weisen im Anschluss an Foucault dem darin zum Ausdruck kommenden Widerspruch eine konstitutionelle Funktion zu. Der Antagonismus, die strukturelle Exklusion eines konstitutiven Außen, ist notwendige Bedingung für die schiere Existenz der Diskursstruktur, gleichzeitig ist es ihre immerwährende, jedoch sich nie erfüllende Bestimmung, an der (unmöglichen) Beseitigung dieses Widerspruchs zu arbeiten. Das Außen ist als Existenzgrundlage konstitutiv und gleichzeitig als Bedrohung des Systems Quell seiner auf kurz oder lang unweigerlichen Transformation oder Zerstörung: „Dem Ausgeschlossenen kommt dabei eine paradoxe Doppelfunktion zu: Zum einen wird es ausgeschlossen, weil seine Zugehörigkeit zum System dieses in Frage stellen würde, weil es die Identität des Systems konterkariert und beseitigt werden muss; zum anderen aber wird eben dieses System erst durch das Ausgeschlossene konstituiert (qua Abgrenzung)“ (Nonnhoff 2007, 10).

Diese Widersprüchlichkeit tritt in der Unübersichtlichkeit, Schnelligkeit und Interdependenz der modernen, globalisierten Welt als „Krise der Identität“ [31] besonders deutlich zum Vorschein und provoziert fortlaufend vergebliche Versuche der Homogenisierung nach innen und Abgrenzung nach außen. Klassisches Beispiel ist das Konzept der Nation im Angesicht ansteigender Flüchtlingsströme.[32] Rushkoff erkennt in den Konzepten der Tea Party und Occupy Wall Street Bewegungen zwei fundamental oppositionelle Antworten auf die um sich greifende Unübersichtlichkeit. „Während sich die Tea Party nach Entschiedenheit und Endgültigkeit sehnt, hat sich Occupy Wall Street die Aufrechterhaltung der Unbestimmtheit auf die Fahnen geschrieben […] Während die Tea-Party-Aktivisten das Chaos unserer geschichtenlosen Gegenwart beseitigen wollen, sieht die Occupy-Bewegung es als Chance, neue politische Formen und Möglichkeiten zu erproben“ (Rushkoff 2014, 63).

Um trotz der Mikrophysik der Macht und der vielfältigen Konfrontationslinien die Makroperspektive nicht aus dem Blick zu verlieren und die Diskurstheorie für Ansätze des Postmarxismus und der Cultural Studies (siehe unten) zu öffnen, wurde Foucaults Diskursbegriff häufig um Konzepte von Ideologie [33] oder Hegemonie[34] erweitert, die den Aspekt gesellschaftlicher Ausbeutung und Manipulation stärker in den Blick nehmen sollten. Der Begriff der Ideologie stellt auch einen Kernbegriff und eine Brücke zur Wissenssoziologie dar.

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