Читать книгу Digitale Evolution, Revolution, Devolution? - Brendan Erler - Страница 14
2.4.3 Der Mensch produziert sich selbst oder das Ende des Menschen?
ОглавлениеTrotz dieser Bücke existieren über den Prozess sozialer Fixierung objektiven Wissens im „konstruktivistischen“ Lager grundlegende Differenzen. Im Zentrum dieser Differenzen steht nicht nur die mittlerweile überkommene Frage von Basis und Überbau, sondern der Mensch als Produkt oder Akteur der ihm bedeutsamen Welt. Die Frage der Verortung des Menschen zwischen Handlung und Struktur ist die zentrale Scheidelinie strukturalistischer oder interaktionistischer Vorstellungen zur Konstruktion von Wirklichkeit.
Berger / Luckmann verlagern in ihrer „sozialen Konstruktion der Wirklichkeit“ (1969) den primären Prozess der Wirklichkeitskonstruktion in die Alltagswelt, denn ohne das „Allerweltswissen“ gäbe es „keine menschliche Gesellschaft“ (ebd., 16). Experten- und Spezialwissen spielt für sie gerade keine Rolle. Ihre Kernfrage lautete: „Wie ist es möglich, dass subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität wird?“ (ebd., 20). Der fundamentale Widerspruch zwischen dieser phänomenologisch-interpretativen Handlungstheorie und einer (post-)strukturalistischen Diskurstheorie ist der Fokus der Analyse und die Verortung und Definition des Subjekts. Eine von Foucault inspirierte Diskurstheorie setzt nicht bei den handelnden Subjekten an, sondern bei den überindividuellen diskursiven Strukturen, die nicht nur eine beliebige Summe an Aussagen darstellen, sondern eine Regelhaftigkeit aufweisen, die das Subjekt in seinen Handlungs- und Entscheidungsbedingungen (vor-)prägen.
Es handelt sich, wie Jürgen Link treffend formulierte, um eine „typische Henne-Ei-Problematik“ (Link 2005,79). Auch Berger / Luckmann gehen ja von einer externen „Mitbestimmung“ des Subjekts aus, durch, um in ihren Worten zu bleiben, „Internalisierung externalisierter Objektivierungen“. Jedoch scheinen sie, wie der Begriff der Externalisierung schon nahe legt, den Anfang dieses Prozesses in das Subjekt zu verlegen. Dies suggeriert „so etwas wie primäre, prädiskursive ‘personale Kerne‘, aus deren intersubjektiver ‘Externalisierung‘ allererst die Diskurse generiert würden“ (Link 2005,79). Diese „Prädiskursivität“ ist es, die im Widerspruch zur poststrukturalistischen Konzeption der diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit steht und die die grundlegende erkenntnistheoretische Differenz beider „Wissenschaftslager“ darstellt. Während das Subjekt als Konstrukteur aus dem Chaos der Welt in Interaktion eine benötigte Ordnung macht, wird diese Ordnung im anderen Fall strukturell und überindividuell gemacht. Nach Foucault sind Diskurse „als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 1988, 74). Diskurse werden folglich nicht von den sich in ihnen tummelnden „Subjekten“ und „Objekten“ geprägt, sie sind nicht nur Resultat oder Abbild, sondern die Quelle sozial konstruierter Wirklichkeit: „Diskurse produzieren, formen ihre Gegenstände, Objekte, indem sie entlang ‘machtvoller Regeln‘ über sie sprechen, und indem die jeweiligen diskursiven Praktiken bestimmen, was in welchem Diskurs gesprochen, was verschwiegen, was als wahr anerkannt und als falsch verworfen wird“ (Hirseland / Schneider 2001, 374).
Die dabei befürchtete strukturelle Determination und Degradierung des Subjekts zum vermeintlich reinen Spielball anonymer Kräfte wurde vielfach kritisiert. So monierte beispielhaft Jürgen Habermas Foucaults Wahrnehmung der Individuen „als die standardisierten Erzeugnisse einer Diskursformation – als gestanzte Einzelfälle“ (Habermas 1991, 343). Eine Kritik, die bei dem geschlossenen System des Strukturalismus sicher nicht unberechtigt war, jedoch im Poststrukturalismus durch Einbezug der (diskursiven) Praxis berücksichtigt und relativiert wurde. Nicht das „Ende des Menschen“ ist Programm, sondern die „Auflösung selbstverständlicher Identitäten“ (Geuss 2003, 152) und des Subjekts als rationalem, bewusstem Akteur humanistischer Prägung. Statt Diskurse im Sinne normativer Kategorien und ethischer Standards zu bewerten, geht es vielmehr darum, deren Struktur und Ordnung herauszuarbeiten. Das von Habermas ausgerufene Ideal des herrschaftsfreien Diskurses ist aus poststrukturalistischer Perspektive an sich ein Antagonismus. Diskurse üben immer Macht aus, sie wird, ähnlich der Internalisierung von Objektivierungen nach Berger / Luckmann, von den Subjekten verinnerlicht und die vom Diskurs betroffenen Subjekte sind nie gänzlich frei, autonom und rational.
Moebius (2005) wagt den Versuch, mit Hilfe der Diskurstheorie von Laclau / Mouffe und des Dekonstruktivismus von Derrida, handlungstheoretische und (post-)strukturalistische Prämissen zu einer erst mal paradox anmutenden „poststrukturalistischen Handlungstheorie“ zu verbinden. Das vermeintliche zu Grabe Tragen des Subjekts im (Post-)Strukturalismus betrachtet er als Verzerrung bzw. Fehlinterpretation. Im Kontrast zum geschlossenen, determinierenden System des Strukturalismus spielen das Subjekt und die Entscheidung im Poststrukturalismus sehr wohl eine („eigenständige“) Rolle, jedoch variiert diese Vorstellung von den gängigen neuzeitlichen Subjektbegriffen. Das Subjekt ist weder irrelevant noch bedeutungslos, es erfährt eine Neudefinition, die es nicht mehr aus sich heraus erklärt, sondern über den Anderen und das Außen. Derrida spricht in diesem Kontext von „Postdekonstruktiver Subjektivität“. Laclau / Mouffe sprechen von „Subjektpositionen“ und „Momenten des Subjekts“ (Moebius 2005, 129ff.).
Die konstatierte prinzipielle Offenheit der Struktur ermöglicht „Momente des Subjekts“ in Augenblicken der Unentscheidbarkeit. In diesen Momenten „ereignishaften Handelns im Gegensatz zum vorstrukturierten, regelhaften Handeln“ (Moebius 2005, 138) wird die vorgeprägte Subjektposition zum unvorhersehbaren Subjekt. Auch die Handlungstheorie nach Berger / Luckmann kennt dieses „regelhafte Handeln“, die „Habitualisierungen“, die „von der Notwendigkeit, Handlungen immer wieder neu entwerfen zu müssen, […] von angespannter Aufmerksamkeitszuwendung, von Unsicherheit und Improvisation“ (Schnettler 2006, 174) entlasten. Sowohl die strukturalistische als auch die interaktionistische Handlungstheorie gehen von einem Nebeneinander strukturell, routinierter und unvorhergesehen „spontaner“ Ereignisse und Handlungen aus.[35]
Unterschiede ergeben sich, wie zu erwarten, wieder im konkreten Zusammenspiel beider Elemente. Während das phänomenologische Subjekt als der Akteur der Praxis im Kern aus sich heraus erklärt wird und demzufolge agiert, so wird das poststrukturalistische Subjekt aus dem Widerspruch zwischen Struktur und Handlung geboren. Die im Poststrukturalismus eingeführte Unberechenbarkeit der diskursiven Praxis und „Wiedereinführung“ des Subjekts ist in einem geschlossenen diskursiven System nicht denkbar. „Die Bedingung für das Erscheinen des Subjekts (= die Entscheidung) ist, dass es nicht unter irgendeinen strukturalen Determinismus subsumiert werden kann“ (Laclau zit. nach Moebius 2005, 139). Der Moment des Subjekts, der Augenblick der Entscheidung resultiert aus der notwendigen Unabgeschlossenheit der Struktur. Bei Fragen, die der strukturellen Antwort entbehren, die nicht vorgesehen (oder im handlungstheoretischen Sinne habitualisiert) sind, kommt das konstitutive Außen ins Spiel. Erst dieses Außen definiert das Regelsystem in seiner Struktur, gibt ihm seine Form.
Nach Laclau / Mouffe (2000) bedarf es zur Errichtung kultureller Hegemonie des (sozialen) Antagonismus und der Logik der Äquivalenz. Während in der Logik der Differenz die Unterschiede und Verbindungen der Diskurselemente zum Ausdruck kommen[36], werden in der Logik der Äquivalenz durch die Abgrenzung von einem konstitutiven Außen die inneren Differenzen überbrückt und Identifikation gestiftet: Im Kontrast zum Anderen und Außen verschwimmen die inneren Unterschiede im Einklang der gefühlten Gleichheit und Einheit. Sogenannte leere Signifikanten (Nation, Gerechtigkeit, Zivilisation oder in unserem Fall z.B. Kultur, Urheberrecht, Freiheit) dienen Projekten kultureller Hegemonie in ihrer abstrakten Unbestimmtheit dabei als „Knotenpunkt[e] für eine ‘imaginäre Einheit‘ des Diskurses“ (Reckwitz 2006, 344), als sinnstiftende Projektionsflächen der Identifikation (vgl. Moebius 2005, 135; Reckwitz 2006, 344).
In den Augenblicken der Unentscheidbarkeit kommt es zu Rissen im System, durch die das konstitutive Außen dringt. Das sind die Momente des Subjekts. Derartige wirkliche Entscheidungen, im Kontrast zu strukturierten Handlungsanweisungen, bezeichnet Derrida als „passive Entscheidung des Anderen in mir“ (Derrida 2000, 105 zit. nach Moebius 2005). Diese wiederum etwas paradox anmutende Formulierung zielt darauf ab, dem Subjekt eine gewisse „Entscheidungsfreiheit“ zuzugestehen, ohne es damit in einen subjektivistischen Kontext bewusster und intendierter Handlung einzuordnen. Die Freiheit des Subjekts im poststrukturalistischen Sinne ist nicht in seinem Wesen, seinem Inneren begründet, es ist also eigentlich keine Entscheidungsfreiheit, sondern eine Freiheit im Moment der Entscheidung. „In der Entscheidung kommt es zum Ereignis einer In(ter)vention des Außen in den Diskurs, das bestehende Erwartungsstrukturen und diskursive Sinnzusammenhänge überschreitet“ (Moebius 2005, 141). Statt von der Dualität von Struktur zu sprechen, spricht Moebius von der Triade „Handlung - Struktur - Außen - Anderer“.
Ob man nun vom „konstitutiven Außen“ (Laclau / Mouffe), der „Entscheidung des Anderen in mir“ oder dem „polymorphen Wuchern an den Randzonen des Diskurses“ (Foucault) spricht, wichtig ist die Annahme einer gewissen kreativen Unvorhersehbarkeit und Widersprüchlichkeit, in der sich das Subjekt bewegt. Die somit über Umwege vollzogene Rehabilitation und Wiedereinführung des Subjekts und der Handlung, strukturalistisch hergeleitet, ermöglicht den Anschluss an Konzepte der Cultural Studies, der Wissenssoziologischen Diskursanalyse und der qualitativen Sozialforschung. Dennoch erscheint es in meinen Augen ohne eindeutige Evidenz nicht zielführend, das Subjekt als Akteur gänzlich aus dem Spiel zu nehmen und die Strukturen zum einzig maßgeblichen Faktor zu erheben. Die „Rehabilitierung“ des Subjekts über Umwege wiederum mit Hilfe der diskursiven Praxis und einer durch den Widerspruch bedingten zwangsläufigen Offenheit der Struktur, die dem Subjekt „als dem Anderen in mir“ Handlungsoptionen abseits einer so verstandenen Handlungsfreiheit zugesteht, erscheint mir unnötig. Im Konzept der Dualität von Struktur ist die wechselseitige Determinierung überzeugend dargelegt. Das Subjekt mag ohnmächtig, aber nicht gänzlich unwillig sein. Und die Rekonstruktion von Diskursformationen ohne die hermeneutische Suche nach Sinn, die ein sinnsuchendes Subjekt zwingend voraussetzt, erweist sich in der Forschungspraxis als unmöglich.
Die Weigerung poststrukturalistischer Strömungen das Subjekt als solches anzuerkennen, scheint mir eher eine Frage der strukturalistischen Ehre zu sein als Notwendigkeit und der Versuch die Frage des gesellschaftlichen Wandels mit allen Mitteln ohne die Figur des Subjekts zu lösen, nicht vorranging dem Erkenntnisinteresse geschuldet, sondern eher eine Fingerübung im akademischen Elfenbeinturm zu sein. In diesem Sinne folgt diese Untersuchung dem Anliegen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse zur „Vermittlung Foucaultscher Konzepte mit der durch Peter L. Berger und Thomas Luckmann begründeten wissenssoziologischen Tradition“ (Keller, 2008, 13).