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2.4.4 Alltagsdiskurs, Spezialdiskurs, Öffentlicher Diskurs?

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Diskurse konstituieren die Bedeutung eines Phänomens (wie der Digitalisierung) auf eine bestimmte Weise. Diskurse lassen sich abstrakt, jedoch nicht konkret definieren, da sie Konzepte des Forschers darstellen. Der Diskurs ist keine Diskussion, er strukturiert stattfindende Diskussionen / Debatten zu einem Thema / Phänomen und „Diskussionen sind kommunikative Veranstaltungen, in denen verschiedene Diskurse aufeinander treffen (können)“ (Keller 2008, 236). Diskussion oder Debatte hingegen weckt eher die Assoziation an das Habermasschen Öffentlichkeitsideal des rationalen Argumentationsaustausches mit dem Ziel eines „herrschaftsfreien Diskurses“ und das ist eben nicht gemeint. Die Idee einer Freiheit von Herrschaft ist, wie wir gesehen haben, im Anschluss an Foucault absurd, weil unmöglich. Herrschaft ist immer präsent als ein spezifisches, wandelbares Kräfteverhältnis. Und auch das Ideal eines „rationalen“ Argumentationsaustausches widerspricht den strukturellen Kräften des Diskurses. Wenn man also vom Digitalisierungdiskurs spricht, meint man Diskursfragmente, in denen Digitalisierung thematisiert oder besser eigentlich konstruiert wird. Jedoch handelt es sich nicht um einen in sich geschlossenen Diskurs, sondern um eine (je nach Abstraktionsebene) Vielzahl von konkurrierenden oder koalierenden Subdiskursen, die es zu analysieren gilt. „Ausschlaggebend ist hier die vor dem Hintergrund der Fragestellung theoretisch zu bestimmende Abstraktionsebene für die jeweilige Einheit‘ eines Diskurses“ (Keller 2008, 264).

Es ist wohl in weiten Teilen einer allgemeinen Unkenntnis der Diskurstheorie geschuldet, dass im öffentlichen Sprachgebrauch Diskurs und Diskussion synonym verwendet werden. Die auch in der Wissenschaft weitgehend praktizierte thematische Selektion und Abgrenzung zu analysierender Diskurse untermauert dieses Missverständnis. In diesem Sinne differenziert auch Keller nicht immer trennscharf zwischen Diskurs, Diskussion, Phänomen und Diskursfeld. Foucaults Interesse galt eigentlich den Strukturen und Regeln der diskursiven Formationen (z.B. der einzelnen Disziplinen wie Medizin, Jura etc.) der Spezialdiskurse der Wissenschaft und dabei theoretisch nicht den konkreten Auseinandersetzungen, sondern den abstrakten Regeln. Aus dieser Tradition heraus lässt sich die Trennung zwischen Diskurs und Diskussion leichter nachvollziehen. Der Diskurs stellt den Rahmen, das Feld des Möglichen dar, in dem sich eine Diskussion nur bewegen kann.

Der öffentliche Diskurs ist nun, wie Keller richtig bemerkt, durch „eine diffusere Sprecherstruktur und andere Regeln der Formulierung legitimer Inhalte, die den Funktionslogiken der Massenmedien folgen“ definiert, deswegen „gewinnt hier die thematische Referenz eines Diskurses stärkere Bedeutung“ (2008, 264). Die nicht institutionell abgesicherte Trennung diskursiver Formationen und darin vorkommender Diskurse (wie im Spezial-Diskurs) erschwert die immer nur behelfsmäßig mögliche Konstruktion einer diskursiven Einheit im öffentlichen Diskurs zusätzlich. Keller selber verweist an anderer Stelle darauf, dass die diskursive Einheit „nicht unabhängig von den jeweiligen Forschungsinteressen (2009, 46) begründet werden kann, also Konstruktionsleistung des Forschers ist.

Im Anschluss an die eingangs zitierte Diskursdefinition nennt Keller folgende Beispiele für Diskurse: „der Diskurs über Hirntod (Schneider 1999), der Diskurs der Humangenetik (Waldschmidt 1996), der allgemeine Umweltdiskurs (Dryzek 1997) bzw. spezifischer die Ozon-Diskurse (Litfin 1994), die Diskurse über Sauren Regen (Hajer 1995), Hausmüll (Keller 1998), der neoliberale Managementdiskurs (Boltanski/Chiapello 1999)“ (2008, 236). Wo ist hier nun der Unterschied zwischen Phänomen und Diskurs? Wie lässt sich ein Diskurs anhand eines Phänomens / Themas auswählen, wenn der Diskurs an der Konstitution des Phänomens beteiligt ist? „Wenn Gegenstände durch Diskurse erst in ihrer spezifischen, erkennbaren Gestalt geschaffen werden, kann nicht einfach vom Gegenstand ausgehend ein Diskurs erschlossen werden. Ein ähnliches Problem besteht bei der Rede von ‘Themen‘ als Identifikationsmarker und Kriterium für die Einheit eines Diskurses (Knoblauch 2001 a), da Themen diskursspezifisch sehr unterschiedlich behandelt werden können“ (ebd., 265).

Keller ist sich der Problematik thematischer Diskursbegrenzung durchaus bewusst und verweist weiterhin darauf, „dass die Wissenssoziologische Diskursanalyse nicht nur einzelne oder isolierte Diskurse in den Blick nimmt, sondern gesellschaftliche Diskursfelder bzw. Diskursfigurationen, in denen sich mehrere Diskurse begegnen (ebd., 239). Will man die diskursive Konstruktion eines Phänomens analysieren, so wird man bei ausreichender Detailgenauigkeit immer auf mehrere koalierende und opponierende Subdiskurse innerhalb der diskursiven Formation des öffentlichen Diskurses stoßen. „Je tiefer die Analyse in einen spezifischen Diskurs eindringt, desto größer ist wahrscheinlich die Zahl unterscheidbarer Subdiskurse“ (ebd., 264). So gesehen geschieht jede öffentliche Problembehandlung in einem von mehreren Diskursen bevölkerten Diskursfeld.

Der von Keller analysierte „Mülldiskurs“ ist somit ein künstlicher Ausschnitt aller zum Phänomen Müll existierender Diskurse einer bestimmten Abstraktionsebene. Sind „Diskussionen [z.B. über das Müllproblem wie bei Keller] kommunikative Veranstaltungen, in denen verschiedene Diskurse aufeinander treffen (können)“, so handelt es sich bei der Müll-Diskussion um eine thematische Begrenzung auf das Phänomen Müll, deren inhaltliche Ausgestaltung von den darin wirkenden Diskursfragmenten geformt wird. Hier offenbart sich die Schwierigkeit thematischer Diskursselektion, die reale Verwechslungsgefahr mit der „schnöden“ Müll-Diskussion. Zwar können je „nach Forschungsinteresse […] Diskurse bspw. nach ihrer Phänomenkonstitution oder nach institutionellen Feldern voneinander abgegrenzt werden“ (ebd., 236), aber man muss sich der Künstlichkeit dieser Abgrenzung bewusst sein und den Unterschied zur Diskussion deutlich machen.[37]

Der Raum, in dem um die Bedeutung eines bestimmten Phänomens gerungen wird, wird nach Keller als Diskursfeld bezeichnet (Keller 2008, 234). Die Unterscheidung zwischen Phänomen / Diskussion, Diskurs und Feld erweist sich als Behelfskonstruktion. Alle drei Begriffe lassen sich in Subkategorien aufteilen, in Aspekte des Oberphänomens und Subdiskurse, die bei genauerer Betrachtung wahrscheinlich wieder ein Diskursfeld aus verschiedenen Diskursen darstellen und in ihrem konkreten Zuschnitt dem entworfenen Forschungsdesign entsprechen. Sie sind Ergebnis der gewählten Analyse- und Abstraktionsebene. Das Diskursfragment wird definiert alsAussageereignis, in dem Diskurse mehr oder weniger umfassend aktualisiert werden (z.B. ein Text); Haupt-Datengrundlage der Analyse“ (234), wobei hier der Plural von Bedeutung ist, in einem Text können theoretisch unendlich viele Diskurse reproduziert werden.

Ein weiterer im letzten Punkt schon angedeuteter wesentlicher Unterschied zwischen der interpretativ-handlungstheoretischen Tradition Berger / Luckmanns und der Diskurstheorie nach Foucault ist der eigentliche Ort der Analyse. Foucaults primäres Interesse galt der Produktion gültigen Wissens, also der temporären Stabilisierung von Wahrheitskonstruktionen in den Wissenschaften, während Berger / Luckmann eben jenes Spezialwissen explizit ignorierten. Diese Abkehr von Spezial- und Hinwendung zum Alltagswissen[38] erfolgte nicht nur in Abgrenzung zu Foucault, sondern als Versuch der Neuausrichtung der klassischen Wissenssoziologie mit ihrem Fokus auf Sonderwissen und Ideengeschichte (Schnettler 2006, 72).

Im Grunde war beiden als Anlass ihrer Überlegungen die Kritik an der Wissenswelt der Wissenschaften gemein, jedoch mit gänzlich unterschiedlichen Konsequenzen. Während Berger / Luckmann sich vom Expertenwissen ab- und dem „Alltag“ als zentralem Ort der Konstruktion von Wirklichkeit zuwandten, wollte Foucault die Fortschrittslogik der Ideen- und Wissenschaftslehre widerlegen, „nicht so sehr gegen Inhalte, Methoden oder Begriffe einer Wissenschaft als vielmehr gegen die zentralisierenden Machtwirkungen, die mit der Institution und dem Funktionieren eines wissenschaftlichen Diskurses verbunden sind, wie er in einer Gesellschaft wie der unsrigen organisiert ist […] die Genealogie muss gerade gegen die Machtwirkungen eines als wissenschaftlich angesehenen Diskurses den Kampf führen“ (Foucault 1978, 63), „d.h. sie fähig zum Widerstand und zum Kampf gegen den Zwang eines theoretischen, einheitlichen, formalen und wissenschaftlichen Diskurses zu machen“ (ebd., 65), ein „ Aufstand der unterworfenen Wissensarten“ (ebd., 59).

Nun bleibt in der allseits beschworenen Wissensgesellschaft die Frage nach dem Zusammenhang von Experten- und Alltagswissen. Berger / Luckmann neigen in ihrer Analyse des Alltags „einfacher Menschen“ dazu, die Frage nach den vorherrschenden Machtverhältnissen auszublenden und das Alltagswissen „unkritisch“ zu beleuchten, „das bei ihnen eher als quasi anthropologisch konstituiert und frei von Stratifikation und Macht erscheint“ (Link 2005, 85). Foucaults Konzentration auf den Spezialdiskurs wiederum erscheint zu eng und hinterlässt Fragen nach dessen Diffusion und Wirkung in den Alltagsdiskurs. Wie manifestiert sich das autorisierte Expertenwissen in den Köpfen der Bürger einer Gesellschaft?

Link begegnet dieser Frage mit der Einführung des an Foucault / Pêcheux angelegten Begriffs des Interdiskurses. Pêcheuxs Konzept des Interdiskurses „erlaubt die Frage nach den Prozessen, unter denen sich diskursive Referenzen herstellen, in ihrer ganzen Tragweite zu stellen und ebenso die Alltagssprache (Alltagsfiktion)“ in den Blick zunehmen (Pêcheux, zit. nach Waldschmidt et al. 2009, 60). Pêcheux löst sich somit von Foucaults Fokus auf die Wissenskonstruktion und Vermittlung innerhalb der Wissenschaftsdisziplinen. Im Kontrast zur strukturalistischen Annahme geschlossener diskursiver Systeme betont er in Anlehnung an Althusser und in Abgrenzung zur Annahme der Kohärenz von Diskursen deren Widersprüchlichkeit (ebd., 60).

Althussers Ideologietheorie wandte sich vom klassisch-marxistischen Basis-Überbau-Modell, welches sich starr auf die vorherrschenden Besitzverhältnisse als Erklärungsansatz für bestehende Machtverhältnisse konzentrierte, ab und der Bedeutung der Ideologie zur Aufrechterhaltung von Dominanz zu. Ideologie wird nun nicht einfach von der herrschenden Klasse propagiert, sondern manifestiert sich in der Privatsphäre der Bürger als „das imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren wirklichen Lebensbedingungen“ (Althusser zit. nach Diaz-Bone 2010, 101). Ideologie fungiert hier als Orientierungshilfe in und Deutungshilfe der Welt, jedoch sind die von Althusser so benannten ideologischen Staatsapparate (z.B Familie, Medien, Kultur) auch Orte des Widerspruchs, an denen sich soziale Spannungen und Kontroversen entladen (können) (vgl. Althusser 1973). Für Pêcheux korrespondieren nun die ideologischen Formationen nach Althusser mit den diskursiven Formationen nach Foucault, wobei der Diskurs das sprachliche Abbild der ihn umgebenden Ideologie ist. Die Widersprüchlichkeit des Interdiskurses spielt hier insofern eine Rolle als sie das Konzept einer geschlossenen „Diskursmaschine“ aufbricht und somit den Weg für die Integration des diskursiven Ereignisses ebnet (Diaz-Bone 2010, 97ff.).[39]

Neben einer Tendenz der Wissensspezialisierung mit dem Ziel der „Beseitigung aller Uneindeutigkeiten und Konnotationen mit dem Idealtyp der mathematischen Formel“ (Link 2005, 86) macht Link eine „partiell reintegrierende Tendenz der Wissensproduktion“ aus, „deren Spezialität sozusagen die Nicht-Spezialität ist“ (ebd., 87) und die er mit Pêcheux als Interdiskurse bezeichnet. In der zunehmend komplexen, ausdifferenzierten und unübersichtlichen Welt der postmodernen Wissensgesellschaften dienen diese Interdiskurse als Brücken zwischen den Spezialdiskursen und Anker der Orientierung und Komplexitätsreduktion. Im Kontrast zur erstrebten Objektivierung des Wissens in den Spezialdiskursen dient der Interdiskurs in seiner Zugänglichkeit und Verständlichkeit als Ort der Identitätsbildung. Der weniger elaborierte, jedoch nicht minder wichtige Teil des Interdiskurses bildet den Alltagsdiskurs oder die Elementarkultur, die „nicht in erster Linie als Kultur sozialen Defizits, sondern vor allem als Kultur intensivster Subjektivierung des Wissens fungiert“ (ebd., 90). Link unterlässt eine genaue Abgrenzung beider Begriffe, jedoch scheint der Interdiskurs vornehmlich Subjektivierungsangebote zur Verfügung zu stellen, während dann im Alltagsdiskurs entschieden wird, welche Deutungsmuster und Subjektivierungsweisen sich tatsächlich in Überzeugungen und Handlungen übertragen (vgl. Waldschmidt et al. 2009, 62f.).

Zwar hat Foucault sein Interesse für das ereignishafte „Wuchern an den Randzonen des Diskurses“ bekundet, jedoch nicht weiter konkretisiert. Daher verbleiben die diskursiven Effekte auf den Alltag eine Leerstelle Foucaultscher Diskurstheorie. Im vorliegenden Fall gilt das Interesse aber gerade nicht den Stammtischgesprächen des „gemeinen Volkes“, sondern den elaborierten Deutungs- und Kulturkämpfen der gesellschaftlichen Eliten in ausgewählten Spezial- und Massenmedien. In diesem Zusammenhang können die öffentlichen Auseinandersetzungen zu einzelnen Themen als „diskursive Ereignisse mittlerer Reichweite“ innerhalb des Interdiskurses bezeichnet werden und der „zivilgesellschaftliche Interdiskurs“ kann als „Diskurs im Sinne Foucaults“ mit der Kopplung „ritualisierte[r] Redeformen, Handlungsweisen und Machteffekte[n] (Link zit. nach Keller 2004, 32) betrachtet werden.

Keller adaptiert zwar das Konzept des Interdiskurses, nicht jedoch seinen Namen wegen dessen explizit strukturalistischer Tradition im Sinne von Foucault, Pêcheux und Link und plädiert dafür „von öffentlichen Diskursen zu sprechen, im Unterschied zu den Spezialdiskursen, für die sich Foucault in erster Linie interessierte“ (Keller 2005, 66). Da auch diese Arbeit nicht der reinen Lehre des Strukturalismus folgt, auch das Subjekt als Akteur in seiner Widersprüchlichkeit zwischen Handlung und Struktur in den Blick nimmt und im Sinne Kellers an Methoden der qualitativen Sozialforschung anknüpft, des Weiteren der Begriff des öffentlichen Diskurses (in Anbetracht der Fokussierung auf die Massenmedien) den Sachverhalt schlicht besser beschreibt und sich eher erschließt, wird in Folge in diesem Zusammenhang vom öffentlichen Diskurs gesprochen.

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