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3.1 Rolle der Piraterie: Substitution oder Promotion?

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Bevor wir uns der Rolle der Piraterie widmen, sollte eingangs erwähnt werden, dass im Rahmen der Diskussion um Musikpiraterie immer wieder auf weitere Gründe des Umsatzeinbruchs, die nicht unmittelbar auf die Napster und Co zurückführen, verwiesen wird. Das ist vor allem die Blütezeit in den 1980- und 90er Jahren als „a period of atypically high sales, when consumers replaced older music formats with CDs“ (Oberholzer-Gee 2007, 36), die man daher nicht als Referenz zur Beurteilung der Lage verwenden könne. Tschmuck (2009) betont auch die aus langfristiger Perspektive eher typischen als außergewöhnlichen Zyklen aus Expansion und Wachstum (siehe 4.1). Eine weitere wichtige Ursache wird im Erstarken von Konkurrenzmedien erkannt. So ist ein drastischer Anstieg der DVD-/ Kino- wie auch der Videospiel-Umsätze festzustellen und Mobiltelefone wurden zu einem eigenen Unterhaltungs- und Kostenfaktor. Abseits dieser ökonomischen und technologischen Argumente gilt die allgemeine Kommerzialisierung und daraus resultierende Entwertung als ein weiterer Faktor (vgl. Oberholzer-Gee ebd.; Adermon Liang 2010, 3; Friedrichsen / Gerloff / Grusche 2004, S. 35 vgl. z.B. Kusek 2006 S.81f.; Lessig 2004 S.70; Peitz / Waelbroeck 2006, S. 99; Dejean 2009, 13).

Trotz all dieser Faktoren, die den von der Musikindustrie propagierten monokausalen Zusammenhang von Piraterie und Umsatzverlust relativieren, wird von den meisten Studien zum Thema ein negativer Effekt der Piraterie und vor allem des Filesharing[50] seit der Veröffentlichung von Napster 1999 auf den Verkauf von „Recorded Music“[51] attestiert. (vgl. Piolatto / Schuett 2012, 31; vgl. Adermon / Liang 2010, 4; Liebowitz 2003. 30). Oftmals wird der Umsatzrückgang der Musikindustrie auch auf einen Mangel an guten, legalen Alternativen zurückgeführt. Waldvogel untersuchte aus diesem Grund, ob die erfolgreiche Etablierung des „iTunes Music stores“ die Präsenz und den Effekt des Filesharings auf legale Musikläufe verändert hat. Überraschenderweise kann er jedoch keinerlei Auswirkungen feststellen: “Our estimates of sales displacement indicate that each unpaid song reduces paid consumption by between a sixth and a third of a song. This is about the same rate of displacement obtained using a similar approach – and a similar sample – before the iTunes era. The iTunes Music store has substantially changed music retailing. But based on this sample of songs and consumers, it does not seem to have changed the effect of piracy” (Waldvogel 2010, 313). Den relativ geringen Substitutionseffekt zwischen 1/6 und einem 1/3 eines Songs sieht er auch durch andere Studien belegt und erklärt er vor allem damit, dass der Rest „deadweight loss“ sei, also Musik, die bei Kostenpflicht nicht erworben worden wäre (Waldvogel 2010, 312 f.).

Eine grundsätzliche Ausnahme stellt die Untersuchung von Oberholzer-Gee / Strumpf (2007) dar, die für das Jahr 2002, einem Wachstumsjahr des Filesharings, zu dem erstaunlichen Ergebnis kommt, dass “[u]sing detailed records of transfers of digital music files, we find that file sharing has had no statistically significant effect on purchases of the average album in our sample” (ebd., 35). Die Studie von Oberholzer-Gee / Strumpf erntete wegen ihres aufsehenerregenden Ergebnisses viel Aufmerksamkeit und nicht weniger Kritik. So verfasste Liebowitz eine Arbeit, die ausschließlich zum Ziel hatte, die fragwürdigen Dateninterpretationen und Schlussfolgerungen der Studie darzulegen (Liebowitz 2007).

Das kontraintuitive Ergebnis von Oberholzer-Gee / Strumpf bleibt eine Minderheitenposition[52]: Eine Auswertung der Studien zum Effekt von Piraterie auf den Verkauf von Musik kommt zu dem Schluss „that while it is fair to say that the results in the academic literature are mixed with respect to whether filesharing negatively impacts music sales, we also believe it is fair to say that the vast majority of papers find evidence of harm. Specifically, restricting attention to papers published in peer-reviewed journals, two published papers in the literature find no evidence of harm and ten find evidence of harm” (Smith / Telang 2012). Dejean kommt in seiner Auswertung existierender, empirischer Studien dennoch zu einem ambivalenten Fazit. Zwar erkennt die Mehrheit der Studien einen negativen Effekt des Filesharings, deren theoretische oder methodische Prämissen jedoch allesamt diskutabel seien. Er unterteilt die Studien nach Art der Datenerfassung / Auswertung und kommt zu dem Ergebnis, dass Filesharing sowohl Subsitutions- als auch Promotioneffekte haben kann: “[T]he negative relationship between sales of cultural goods and piracy is not so clear and, in this review of the empirical literature, we support the idea that digital piracy creates new consumption occasions and changes the role of stakeholders in the cultural industry” (Dejean 2009, 345f.).

Wenngleich mehrheitlich ein gewisser Substitutionseffekt angenommen wird, so wird dessen Beurteilung dadurch erschwert, dass die Möglichkeiten digitaler Distribution auch gegenteilige Effekte zeitigen. Vor allem sind hier Sampling[53]- und Netzwerkeffekte zu nennen. “We have shown that the cost advantage of P2P in transmitting information may overcompensate the competition effect that arises from the introduction of pirated products that can be used as substitutes for the original. Furthermore, we have shown that if promotion and advertising costs are significant at the margin, less information may be transmitted in a traditional distribution system than under the use of P2P” (Peitz / Waelbroeck 2004, 19). Zusätzlich könnten die dezentralen Filesharing-Netzwerke die Marketing- und Promotion-Kosten der Musikindustrie substantiell verringern und neue Geschäftsmodelle ermöglichen, so dass „copying and sampling may reduce revenues but at the same time increase profits“ (ebd.). Die unklare ökonomische Bedeutung des Sampling-Effekts macht, abgesehen von der Frage des Zugangs zu Kultur im Sinne des Allgemeinwohls, wie sie im Urheberrechtsdiskurs gestellt wird, die simple Verteufelung und Verfolgung des Filesharings schwieriger (vgl. Dejean 2009; Piolatto 2012; Peitz / Waelbroek 2003, 2004; Adermon Liang 2010).

Rolf Schwartmann kommt im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie zur Wirksamkeit von Warnhinweisen als Piraterie-Abschreckung zu dem Ergebnis, dass ein „direkter Zusammenhang zwischen der Nutzung illegaler Kopien und dem Rückgang der Umsatzzahlen“ nahe liege, „aber nur sehr schwer nachzuweisen“ sei (Schwartmann 2012, 63). Als Beleg der These für den Umsatzrückgang in der Musikbranche durch Internetpiraterie beruft er sich ausschließlich auf eine Studie von Adrian Adermon und Che-Yuan Liang zum schwedischen Film- und Musikmarkt (Adermon / Liang 2010). Während Adermon / Liang nun aber auf die uneinheitliche und widersprüchliche Forschungslage zum Thema Piraterie hinweisen (ebd., 4), behauptet Schwartmann, es mangele an alternativen Studien (was wie oben gesehen nicht richtig ist) zum Thema und konstatiert, Adermon / Liangs Ergebnisse würden „die Behauptung der Tonträgerindustrie die Umsatzrückgänge der vergangenen Jahre seien schwerwiegend auf die illegale Konkurrenz zurückzuführen“ (Schwartmann 2012, 63f.) stützen. Und somit suggeriert er einen schwer zu messenden, aber naheliegenden Zusammenhang, ohne sich selbst mit einer eindeutigen Aussage aus dem Fenster zu lehnen, aber auch ohne auf widersprechende Befunde einzugehen.

Dies erscheint leicht selektiv oder interessengetrieben, ohne gleich zu vermuten, er sei „offensichtlich akademisches Mietmaul von RTL, Musikindustrie et al. […]: sein Beirat ist propevoll mit Großrechteverwertern, Verbraucherschützer sucht man in seinem Institut mit der Lupe“ (Kompass.im 2012), wie auf der Piratenhomepage zu lesen ist. Ebenso interessant ist jedoch, wie selektiv sich Dritte wiederum seiner Studie bedienen, um sie für die eigene Position zu instrumentalisieren. So zitiert Dirk von Gehlen in der Süddeutschen Zeitung aus der Studie Schwartmanns die eingangs erwähnte Passage vom schwer zu messenden, aber nahe liegenden Zusammenhang, um daraus wiederum den exakt gegenteiligen Schluss zu ziehen: „Vielleicht hat der schrumpfende Umsatz also auch andere Ursachen“ (SZ, 19.5.2012). Er nimmt die Einführung Schwartmanns und setzt sie in einen Kontext, der aus den weiteren Ausführungen absolut nicht abzuleiten ist, wobei beide die empirische Ungewissheit nutzen, um die Leerstellen mit eigenen Deutungsmustern zu füllen. Womit wir ein hervorragendes Beispiel für die Relevanz von Diskursanalyse und das Zusammenspiel von Spezial- und Interdiskurs haben.

Ein ähnliches Muster lässt sich im Zusammenhang mit einer Studie von Peukert / Claussen (2012) zum Effekt der Abschaltung des Filehosters Megaupload auf die Filmbranche feststellen. Während sie für kleine bis mittelgroße Filme einen leichten, aber insgesamt nicht signifikanten negativen Effekt ausmachen, weil der Filehoster evtl. einen Werbeeffekt im Sinne des sampling hatte, profitierten Blockbuster von der Aktion: „Box office revenues of movies shown on the average number of screens and below were affected negatively, but the total effect is not statistically significant. For blockbusters (shown on more than 500 screens) the sign is positive (and significant, depending on the specification) The information-spreading effect of illegal downloads seems to be especially import.ant for movies with smaller audiences. ‘Traditional’ theories that predict substitution may be more applicable to blockbusters” (Peukert / Claussen 2012, 2). Die Trennung zwischen von der Abschaltung profitierenden Blockbustern und dem Rest birgt Zündstoff, da sie den Verteidigern eines freien Netzes, die oft auch die stärksten Kritiker der Kulturindustrie darstellen, in die Hände spielt. Viele Medien reduzierten die Studie jedoch auf das griffige und überraschende Fazit „Filmumsätze seit Megaupload-Aus gesunken“ (SZ.de 2012) und stellten damit den Sinn entsprechender Antipiraterie-Maßnahmen in Frage, obwohl wie gesehen, der allgemeine Effekt zwiespältig und nicht statistisch signifikant war. Die Gesellschaft zur Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen reagierte auf das von der Studie erzeugte Medienecho mit der ebenso unmissverständlichen Schlagzeile „Kein negativer Effekt für Kinos durch Schließung von Megaupload in Deutschland“ (GVU 2012).

Das eindrucksvollste Beispiel für diesen Deutungskampf mit Hilfe ausgewählter Studien ist die auch ein Schlaglicht auf die Zerstrittenheit der Branche werfende Fehde zwischen dem Konzertveranstalter Berthold Seliger und dem Vorsitzenden des Verbandes unabhängiger Musikunternehmen e. V. (VUT) Mark Chung. Seliger hatte in einem Artikel im Magazin Konkret (11 / 2011), welcher weiter unten noch ausführlicher behandelt wird, behauptet ein „Ammenmärchen der Kulturindustrie besagt, illegale Downloads seien schuld daran, dass Künstler nicht mehr von ihrer Kunst leben können“. Das belegt er unter anderem mit einer unlauteren Interpretation der Daten der selbst von der Musikindustrie in Auftrag gegebenen GFK-Studie. Chung antwortete mit einem seitenlangen offenen Brief zu allen Aspekten der Situation der Musikindustrie und des Urheberrechts, indem er zu den „negativen Auswirkungen von unvergüteten Musiknutzungen auf Musikverkäufe“ eine lange Liste an Studien aufzählte, um daraus zu schließen: „ Du hältst Dich als Konzertveranstalter für qualifiziert, die vorliegenden Forschungsergebnisse als ‘Ammenmärchen‘ abzutun und ohne eigene methodische Kenntnisse die einzige Dir wohl vorgelegene Studie mit der geborgten Meinung zweier Journalisten zu beurteilen? Dein Mangel an Kompetenz wird nur von Deiner Überheblichkeit übertroffen“ (Chung 2011).

Obgleich die Auswertung der vorhandenen Studien seiner Einschätzung zu den negativen Effekten des Filesharings auf Musikverkäufe eher Recht geben, so ist damit wie gesehen noch keine Aussage über die angemessene Balance zwischen Urheberrecht und Allgemeinwohl / freier Kultur getroffen. Und es entkräftet auch nicht die Kritik, das Urheberrecht sei vornehmlich zum Verwerterrecht degeneriert und mit Nichten für die Mehrzahl der Musiker die alleinige Existenzgrundlage. Das belegt ein weiteres Mal, dass die Rolle der Piraterie nicht losgelöst von einer Beurteilung des Urheberrechts und der Musikindustrie sowie allgemein von Vorstellungen von Kultur und Gesellschaft betrachtet werden kann. Es bleibt eine Frage der Interpretation und Problemdefinition. Während den einen die Piraterie als Wurzel allen Übels erscheint, so ist sie den anderen nur Symbol einer verkrusteten Musikindustrie und eines veralteten Urheberrechts (Zur Kontroverse Seliger / Chung ausführlicher siehe 6.2.7).

Es ist daher eben nicht Zweck dieser Arbeit, Schiedsrichter in dieser empirischen Frage und Richter über das Urheberrecht zu sein, sondern den öffentlichen Deutungskampf zu analysieren. In diesem Sinne dienen die vorgetragenen Ergebnisse als Beleg der Komplexität der Materie und Beispiel der Verwandlung schwieriger wissenschaftlicher Fragen in einfache mediale Antworten. Um zurück zur Frage des Substitutions- oder Promotionseffekts illegaler Angebote zurückzukommen, lässt sich zusammenfassen, dass mehrheitlich ein Piraterie-bedingter Umsatzrückgang von „Recorded Music“ konstatiert wird, der eindeutiger zu sein scheint als in der Filmindustrie. Vor allem das unkontrollierte Filesharing kann jedoch auch positive Auswirkungen haben und die Sachlage wird noch komplexer, wenn man berücksichtigt, dass die Netzwerk- und Promotionseffekte auch umsatzsteigernde Wirkung auf sogenannte Komplementärgüter wie Konzerte oder Merchandising-Artikel haben können.

“In this sample, as in most other studies of the effect of file sharing, stolen music reduces purchased music, by between 0.15 and 0.28 per stolen song. But as in some previous studies, the welfare benefit to consumers far exceeds the cost to producers. It should be mentioned yet again, however, that this welfare benefit is only possible if revenue is sufficient to attract production in the first place” (Waldvogel 2010, 313).

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