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36 Sonntag

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Mexiko

Maria Yumi Morales geht sonntags, unmittelbar nach dem Gottesdienst von der Kirche Xantoxatis bis ans Ende des Dorfes. Zusammen mit allen Dorfbewohnern, die ebenfalls beim Gottesdienst waren. Sie verabschieden sich vor ihren Häusern von Maria, gehen dann ihres Weges, sodass die Schar der Begleiter immer weniger wird. Am Ende des Dorfes steht Maria dann allein vor ihrem Ziel.

Diesen Weg geht sie jetzt schon seit einem halben Jahr, an jedem Sonntag nach dem Gottesdienst. Die Dorfbewohner hatten gemeinsam mit dem Pfarrer beraten und die Wahl getroffen. Sie fiel einstimmig auf Maria.

Maria ist beliebt in ihrem Dorf. Jeder kennt sie und jeder mag sie. Mit ihren fünfzehn Jahren verfügt sie über den speziellen Charme, den nur die Mädchen auf der Schwelle zur Frau ihr Eigen nennen. Maria ist dazu noch eine ausgesprochene landestypische Schönheit.

¡Què nina màs bonita!

Das sind aber nicht die Gründe, warum Maria von nahezu jedem verehrt wird. Es gibt noch andere junge Mädchen im Ort und Schönheit ist bei den Dorfbewohnern kein Kriterium, dass maßgeblich zur Beliebtheit beiträgt. Schönheit hat in Xantoxatis Alltag keinen Wert. Geschickte Hände, ein kluger Kopf und der unerschütterliche Glaube an die Familie, das Dorf und zu Gott, das sind die Werte, die in dieser über Jahrhunderte verschworenen Gemeinde den Menschen wertvoll machen.

Diese Eigenschaften besaß Maria Yumi Morales alle, aber das unterschied sie nicht besonders von den anderen. Das Besondere und was sie bei allen bekannt und beliebt machte war, dass sie der angebeteten Marien-Statue der Kirche wie aus dem Gesicht geschnitten war. Ja man könnte sogar denken, dass die Statue nach Antlitz und Figur von Maria Yumi Morales geschnitzt wurde. Das kann aber nicht sein, weil diese schon über hundertfünfzig Jahre alt ist und Maria erst fünfzehn. Diese verblüffende Übereinstimmung wurde von Pfarrer Rodriguez als Wunder verkündet und als Zeichen dafür, dass man im Glauben zu Gott sich auf dem rechten Weg befindet. Maria war damals zehn Jahre alt. Solche Wunder werden aber von den bodenständigen Dorfbewohnern nicht überbewertet. Ihr Glaube ist seit Jahrhunderten unerschütterlich. Niemand zweifelt an Gott und seinen Entscheidungen. Die Entscheidung, die geschnitzte Maria als sinnvolles menschliches Abbild in Xantoxati auf die Welt kommen, aufwachsen, atmen, reden, lachen und manchmal weinen zu lassen, ist für alle eine Bestätigung dafür, dass Gott einer von ihnen ist. Er gehört wie das Brot zum Täglichen. Gott ist einer, der sich ebenso nützlich in die Gemeinschaft einbringt.

Maria ist am Ende der Straße angekommen. Sie klinkt das verwitterte Gartentürchen auf und geht den von der Sonne hartgebrannten Lehmweg zu dem kleinen Haus. Lange Zeit wohnte niemand in diesem Haus. Es gehörte Jorge. Er war über hundert Jahre alt, als er starb. Wie alt genau, das wusste keiner, aber niemand war damals älter als er. Jorge hatte keine Verwandten mehr, diese waren alle vor ihm gestorben. Deshalb stand das Haus seit langem leer. Bis der Fremde kam.

Maria klopft an die Haustür.

Eine krächzende Stimme ruft von innen: „Buenos Dias! Komm herein.“

Schnitt

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