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Teil 1 Verteidigungsstrategien zur Vermeidung von Anklage und Verurteilung › IV. Akteneinsicht und zweites Gespräch der Verteidigung mit dem/der Mandanten/in

IV. Akteneinsicht und zweites Gespräch der Verteidigung mit dem/der Mandanten/in

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Sobald die Strafakte in Papierform oder als Speichermedium (vgl. zur Einführung der elektronischen Akten in der Justiz die §§ 32-32f StPO) vorliegt, muss diese Akte kopiert bzw. eingescannt werden. Es gilt das Prinzip „eher zu viel, als zu wenig“.[1] Der Autor empfiehlt insoweit, immer eine Komplettkopie bzw. einen Komplettscan der Strafakte und ggf. sämtlicher Beiakten und Beweismittelordner[2] anfertigen zu lassen. Beim Fertigen der Kopien bzw. des Scans sollten auch die jeweiligen Seitenzahlen aus der Originalakte (oben rechts) auf den kopierten Seiten zu lesen sein oder übertragen werden, damit die Verteidigung bei der Verteidigungsschrift hierauf Bezug nehmen kann (vgl. Rn. 81) oder später in der Hauptverhandlung korrekte Vorhalte z.B. einem Zeugen seine polizeiliche Aussage betreffend, machen kann. Besonderes Augenmerk ist handschriftlichen Notizen, Anmerkungen, Unterstreichung etc. der Staatsanwaltschaft bzw. des Gerichts zu schenken, die sich oft auch auf Rückseiten von Aktenblättern oder lose hinten in der Akte befinden. Diesen kann man oft Informationen entnehmen, die für die Verteidigungsstrategie von Bedeutung sein könnten. Manchmal befindet sich in der Strafakte die direkte Anfrage oder ein handschriftlicher Vermerk des/der sachbearbeitenden Staatsanwalts/in mit etwa folgendem Inhalts:

„Es ist – bei Zustimmung des Gerichts – eine Einstellung nach § 153a StPO beabsichtigt. Wird seitens der Verteidigung zugestimmt?“

Ein solcher Vermerk bietet regelmäßig die Möglichkeit – immer nur mit Zustimmung des/der Mandanten/in – das Strafverfahren schnell zu beenden. Ggf. kann schon mit Rücksendung der Original-Strafakte die Zustimmung schriftlich erklärt und ein Vorschlag zur Höhe der Geldauflage und zum Empfänger (Gemeinnützige Organisation oder Staatskasse) gemacht werden oder es empfiehlt sich, mit einem Anruf bei der Staatsanwaltschaft diese Details auszuhandeln. Das hängt von der Praxis der Staatsanwaltschaft und der Person des/der Rechtsanwalts/Rechtsanwältin ab.

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Bei dem Strafverfahren nach § 142 StGB enthalten die Akten häufig von der Polizei gefertigten Fotos des oder der unfallbeteiligten Fahrzeuge. In Papier-Strafakten befinden sich oft nur Ausdrucke der Digitalfotos, deren Qualität (Ausdrucke auf normalem Papier oder Fotopapier, schwarzweiß oder in Farbe) von der Praxis der Polizeidienststellen und Staatsanwaltschaft abhängt, seltener bis nie ist der Datenträger mit den Original-Foto-Dateien selbst enthalten. Soll von Seiten der Verteidigung ein Sachverständiger für Verkehrsunfallrekonstruktionen eingeschaltet werden (vgl. hierzu näher unter Rn. 124 ff.), so braucht dieser in aller Regel die von der Polizei gefertigten Fotos als Dateien oder zumindest Ausdrucke in „bestmöglicher“ Qualität.

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Den Datenträger mit den Original-Foto-Dateien, sofern vorhanden, darf die Verteidigung zwecks Kopiervorgang entnehmen, Fotos kann man kopieren, einscannen etc. Oftmals übernimmt dieses bereits der Sachverständige, der als „Hilfsperson der Verteidigung“[3] dazu berechtigt ist. Wichtig ist nur, dass keine Originale oder der Datenträger abhandenkommen. Die Verteidigung kann und muss bei der Staatsanwaltschaft auch die Übermittlung des Datenträgers mit den Original-Foto-Dateien – ggf. direkt an den von ihm beauftragten Sachverständigen – beantragen,[4] zumindest eine amtlich gefertigte Kopie der Dateien fordern.[5]

Nach Anfertigung von Kopien bzw. des Scans ist die Strafakte an die Staatsanwaltschaft bzw. das Gericht zurückzureichen (vgl. Rn. 87) mit der Bitte, auf eine Stellungnahme (vgl. Rn. 79) der Verteidigung zuzuwarten. Das ist die Aufforderung rechtliches Gehör gewährt zu bekommen und wahrnehmen zu wollen. Mit dem/der Mandanten/in ist der Inhalt der Strafakte zu besprechen; im Regelfall ist das bei der Verteidigung von Verkehrsstraftaten die Rücksprache in den Kanzleiräumen (vgl. zur Überlassung der Strafakte in Kopie an den Mandanten Rn. 78).

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Bei dem nun folgenden zweiten Gespräch mit dem/der Mandanten/in wird diesem/r zunächst der wesentliche Inhalt der bisherigen Ermittlungen, so wie es sich aus der Strafakte darstellt, bekannt gemacht. Dabei kann der Verteidiger seinem/r Mandanten/in den gefertigten Aktenauszug zum Durchlesen und Durcharbeiten – vorab – überlassen, das ist natürlich zulässig.[6] Nach der Erfahrung des Autors ist der Regelfall jedoch, die wesentlichen Aktenteile vorzutragen, Wichtiges vorzulesen, Fotos gemeinsam anzuschauen etc.

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Dabei muss die weitere Verteidigungsstrategie festgelegt werden. Hierbei stellt sich zunächst die Kernfrage, ob eine „Einlassung“ des/der Mandanten/in zur Sache erfolgen soll oder ob man – weiterhin – schweigen soll – zum Aussageverhalten generell vgl. Rn. 23 ff. Diese wichtige taktische Frage kann nur für jeden Einzelfall gesondert entschieden werden.[7] Denkbar ist, dass lediglich eine Verteidigungsschrift der Verteidigung zur Strafakte übermittelt wird, die „nur“ den Akteninhalt würdigt und auf Widersprüche, Ungereimtheiten oder Lücken hinweist und im Übrigen keine Einlassung des/der Mandanten/in zum Tatgeschehen enthält (vgl. dazu Rn. 81). Soll jedoch eine Einlassung erfolgen, ist zu überlegen, ob eine selbst formulierte und niedergeschriebene – gemäß § 249 StPO verlesbare – Einlassung des/der Mandanten/in (vgl. dazu auch Rn. 28) oder eine von der Verteidigung für seine/n Mandanten/in formulierte Einlassung erfolgen soll. Die Verteidigung muss dabei immer die strafprozessualen Probleme einer von ihr für den/die Mandanten/in formulierten Einlassung bedenken. Zunächst gilt, dass Ausführungen der Verteidigung nur dann dem/der Mandanten/in überhaupt als eigene „Einlassung“ zugerechnet werden können, aus denen der Wille des/der beschuldigten Mandanten/in erkennbar ist, sich diese Äußerungen zurechnen zu lassen.[8] Das ist dann der Fall, wenn die Verteidigung zu dieser Erklärung ausdrücklich bevollmächtigt ist oder diese nachträglich genehmigt wird;[9] Rechtsausführungen der Verteidigung sind keine Sacheinlassung[10], ebenso wenig wie „nur“ eine Stellungnahme oder Überlegungen zum Akteninhalt[11].

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Grundsätzlich gilt, dass eine Einlassung der Verteidigung für seine/n Mandanten/in später in einer Hauptverhandlung nicht nach § 249 StPO verlesbar ist;[12] dann müsste das Gericht schon die Verteidigung als Zeugen vernehmen.[13] Die Verteidigung vermeidet strafprozessuale Probleme, wenn man Ausführungen macht, die „nur“ als Ausführungen der Verteidigung erkennbar sind, also: Keine Einlassung in Form eines Zitates oder überhaupt in direkter Rede. Denn zu beachten ist Folgendes: „Gibt der Verteidiger in der Hauptverhandlung in Anwesenheit seines Mandanten, der selbst keine Angaben zur Sache macht, Erklärungen zur Sache ab, so können diese ohne Weiteres als Einlassung des Angeklagten verwertet werden“.[14]

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Denn die Entscheidung zur Abgabe einer Einlassung – egal ob eine eigene Einlassung des/der Mandanten/in oder eine Einlassung der Verteidigung für den/die Mandanten/in – ist später praktisch nicht mehr revidierbar. Eine Einlassung sollte in der Regel also nur abgegeben werden, wenn hiermit ein positives Ergebnis erreicht werden kann, beispielsweise eine Verfahrenseinstellung oder nach einem Geständnis ein mildes Urteil.[15]

Hinweis

Vom Autor als strategisch sinnvoll empfunden wird, entlastende Umstände oder Tatsachen, die eine günstigere Beurteilung rechtfertigen, im Ermittlungsverfahren besser nur durch die Verteidigung vortragen zu lassen, ohne dass eine Einlassung des/der Mandanten/in bereits im Ermittlungsverfahren erforderlich ist. So kann die Verteidigung in einer Verteidigungsschrift Widersprüche, Ungereimtheiten und Lücken im Ermittlungsverfahren aufdecken, bislang nicht bekannte Tatsachen vortragen und unter Beweis stellen, Urkunden überreichen oder auch auf rechtliche Gesichtspunkte hinweisen, die allein schon zur Verfahrenseinstellung oder zu einer milderen Beurteilung führen, ohne dass es schon einer Einlassung bedarf. Der Autor beendet eine solche Verteidigungsschrift generell mit dem Zusatz: „Sollte sich die Staatsanwaltschaft dem Antrag der Verteidigung auf Einstellung des Strafverfahrens oder der Auffassung der Verteidigung zur Sach- und/oder Rechtslage nicht anschließen können, wird gebeten dem/der Beschuldigten vor Abschluss der Ermittlungen über die Verteidigung noch einmal rechtliches Gehör zu gewähren. Es ist beabsichtigt, dann ggf. eine weitere Stellungnahme ggf. mit Beweisantrag abzugeben.“ Oftmals kommt die Staatsanwaltschaft dem nach und es könnte dann immer noch eine Einlassung (vgl. dazu Rn. 83) abgegeben werden.

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Mit dem/der Mandanten/in muss offen die Erfolgsaussichten der Verteidigung, vor allem die Zielrichtung, erörtert werden. Es gibt keine „aussichtslosen Verteidigungen“. Es gibt allerdings Verteidigungsziele, die nach Kenntnis des Akteninhalts und der Beweismittel nicht mehr realisierbar sind. Wenn sich dabei ein Widerspruch zwischen dem nach dem Akteninhalt Realisierbaren und den Wunschvorstellungen des/der Mandanten/in ergibt, muss sich die Verteidigung offensiv damit auseinandersetzen.

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In manchen Fällen bietet sich für den/die Mandaten/in beispielsweise auch oder nur noch ein „Geständnis“ (vgl. auch Rn. 462) an, verbunden mit der Anregung an die Staatsanwaltschaft, einen milden Strafbefehl bei Gericht zu beantragen. Oftmals kann auf diese Weise die Belastung bzw. Peinlichkeit einer Hauptverhandlung (ggf. mit Zuhörern als „Öffentlichkeit“) vor Gericht erspart werden. Vgl. zum Ablauf eines Gerichtstermins auch die Informationsschrift für den/die Mandanten/in Muster 10, Rn. 671.

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Ist der/die Mandant/in noch keine 21 Jahre alt, so besteht gemäß § 1 JGG regelmäßig die Zuständigkeit der Jugendgerichte (§§ 39–42 JGG). Und es kann Jugendstrafrecht gem. § 105 Abs. 1 JGG angewandt werden, wenn „die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, oder es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt“[16]. Auch wenn eine Vielzahl von Staatsanwälten und Jugendrichtern bei Verkehrsstraftaten von Heranwachsenden in der Hauptverhandlung das allgemeine Strafrecht als Regelfall anwenden wollen, ist die Anwendung von Jugendstrafrecht immer sorgfältig zu prüfen. Im Strafverfahren gegen Jugendliche ist gemäß § 79 JGG das Strafbefehlsverfahren ausgeschlossen. Allerdings darf bei einem Heranwachsenden ein Strafbefehl erlassen werden, wenn das allgemeine Strafrecht anzuwenden ist; zuständig bleibt jedoch der Jugendrichter (vgl. § 109 Abs. 2 JGG).

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Auch die wirtschaftlichen[17] Verhältnisse des/der Mandanten/in sollten für den Fall, dass Ziel der Verteidigung die Anregung gegenüber der Staatsanwaltschaft zum Erlass eines milden Strafbefehls ist, Beachtung finden. Auch sind im Strafbefehlsverfahren für den Mandanten die Kosten für die Verteidigung geringer, da es nicht zu einem gerichtlichen Verfahren mit einem zu vergütenden Hauptverhandlungstermin kommt.

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