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ОглавлениеTeil 1 Verteidigungsstrategien zur Vermeidung von Anklage und Verurteilung › V. Kontaktaufnahme der Verteidigung mit der Staatsanwaltschaft; Anfertigung einer Verteidigungsschrift (auch „Schutzschrift“ oder „Einlassung“)
V. Kontaktaufnahme der Verteidigung mit der Staatsanwaltschaft; Anfertigung einer Verteidigungsschrift (auch „Schutzschrift“ oder „Einlassung“)
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Die Staatsanwaltschaft sollte regelmäßig an die Gewährung von Akteneinsicht erinnert werden. Oftmals ist das staatsanwaltschaftliche Aktenzeichen (noch) nicht bekannt, dann bestellt sich die Verteidigung gegenüber der zuständigen Polizeidienststelle und beantragt dort „Akteneinsicht gegenüber der Staatsanwaltschaft“. Sollte die Verteidigung von den Strafverfolgungsbehörden Nichts hören, sollte man gegenüber der Polizeidienststelle schriftlich mitteilen, dass „die Verteidigung bis heute ohne Nachricht“ sei, an die Gewährung von Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft erinnern und die Polizei auffordern, „das Aktenzeichen der Staatsanwaltschaft – sofern bekannt – mitzuteilen und dieses Erinnerungsschreiben für den Fall, dass das Strafverfahren bereits abgegeben wurde, dem Vorgang nachzusenden“. Die Verteidigung sollte sich auch nicht scheuen, gegenüber der Staatsanwaltschaft auf den Grundsatz nach § 147 Abs. 1 StPO zu verweisen, dass ein Recht zur Akteneinsicht grundsätzlich immer besteht und nach § 147 Abs. 2 Satz 1 StPO vor Abschluss der Ermittlungen nur bei Gefährdung des Untersuchungszwecks eingeschränkt ist.[1] Auch der Verweis auf § 147 Abs. 3 StPO, wonach Gutachten von Sachverständigen und Niederschriften über die Vernehmung des Mandanten als Beschuldigter immer der Verteidigung zur Verfügung zu stellen sind, sollte erfolgen.[2] Oftmals hat der/die Mandant/in mitgeteilt, dass er/sie bereits Angaben bei der Polizei gemacht habe; oder manchmal hat die Staatsanwaltschaft, ohne die Verteidigung bzw. den/die Beschuldigte/n zu informieren, bereits ein Sachverständigengutachten eingeholt. Dann sollte man immer darauf bestehen, zumindest diese Teile der Ermittlungsakte zur Akteneinsicht übermittelt zu bekommen. Ein Einsichtsrecht in die vollständigen Akten steht der Verteidigung zwar erst nach Abschluss der Ermittlungen zu; zuvor kann eine teilweise Akteneinsicht rechtlich unbedenklich sein.[3]
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Nach der Gewährung von Akteneinsicht, der Besprechung des Akteninhalts und der Entwicklung der Verteidigungsstrategie ist der Zeitpunkt gekommen, Staatsanwaltschaft oder Gericht gegenüber die Verteidigungsstrategie offen zu legen, wenn überhaupt. Die Übermittlung einer Verteidigungsschrift (auch „Schutzschrift“ oder „Einlassung“) an die Staatsanwaltschaft sollte baldmöglichst nach Akteneinsicht erfolgen. Die von der Staatsanwaltschaft gesetzten Fristen zur „Einlassung“ oder „Stellungnahme“ sind teilweise knapp bemessen und nicht oder nur unter Schwierigkeiten einzuhalten. Es empfiehlt sich, schon bei Rückgabe der Strafakte an die Staatsanwaltschaft immer mitzuteilen, „unbedingt auf den Eingang einer Verteidigungsschrift zuzuwarten“. Dabei handelt es sich um die Aufforderung, dem/der Beschuldigten rechtliches Gehör zu gewähren, was von der Staatsanwaltschaft regelmäßig beachtet wird und eine überraschende Entscheidung „nach Aktenlage“ verhindern kann.
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Strebt die Verteidigung eine Einstellung des Strafverfahrens an, sollte sorgfältig geprüft werden und realistisch entschieden werden, ob eine Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO mangels Tatverdacht oder nach § 153 StPO (ohne Auflagen) oder § 153a StPO (mit Geldauflage oder Weisungen) zu erreichen ist. Dabei ist an einen möglichen Regress der eigenen Kfz-Haftpflichtversicherung (vgl. dazu Rn. 34, 100) zu denken.
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Bei der Abfassung einer Verteidigungsschrift (auch „Schutzschrift“ oder „Einlassung“) mit dem Ziel einer Einstellung des Strafverfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO kann gerade bei der Verteidigung von Verkehrsstrafsachen die mögliche Bereitschaft, einer Einstellung nach § 153 StPO oder nach § 153a StPO eventuell doch zuzustimmen, durchaus angedeutet werden.[4] Für eine Einstellung nach § 153 StPO oder nach § 153a StPO sollten der Staatsanwaltschaft auch geeignete Entlastungsargumente vortragen werden, z.B. nachträgliches Stellen bzw. Selbstanzeige bei der Polizei, psychische Belastung und Beeindruckung durch das Strafverfahren für den/die bisher unbelastete/n Mandanten/in, geringer Fremdschaden, bereits erfolgte Schadenregulierung, usw.;[5] weitere Argumente vgl. auch Rn. 388 „Strafmilderung“.
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Oft ist es hilfreich, mit der Staatsanwaltschaft telefonisch – schon vor Übermittlung einer Verteidigungsschrift (auch „Schutzschrift“ oder „Einlassung“) – Kontakt aufzunehmen und die Möglichkeiten einer eventuellen Einstellung zu erörtern. Dieses hängt natürlich auch von der örtlichen Übung der zuständigen Staatsanwaltschaft ab. Strebt der Verteidiger eine Einstellung entweder gegen Geldauflage oder Weisungen gem. § 153a StPO an, so sollten zugleich auch die wirtschaftlichen Verhältnisse mitgeteilt werden können, also berufliche Tätigkeit – die sich möglicherweise durch die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis verändert haben kann –, aber auch die persönlichen Verhältnisse (Familienstand, Unterhaltspflichten etc.) und das erzielte durchschnittliche Monats-Netto-Einkommen. Nach diesen Angaben wird sich dann die Höhe der Geldbuße richten. Auch eine Verfahrenseinstellung gem. § 153b StPO i.V.m. einer „tätigen Reue“ (§ 142 Abs. 4 StGB) sollte in Erwägung gezogen werden (vgl. dazu Rn. 317 ff.).
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Das Verteidigungsziel einer „Einstellung“ des Verfahrens bedarf manchmal einer intensiven Überzeugungsarbeit gegenüber dem/der eigenen Mandanten/in. Diese/r hat oftmals die Erwartungshaltung, man werde selbstverständlich einen Freispruch oder zumindest eine Einstellung des Verfahrens mangels Tatverdacht gem. § 170 Abs. 2 StPO erzielen.
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Eine Einstellung des Verfahrens nach § 153 StPO oder § 153a StPO sollte die Verteidigung immer als eine sichere und vorzugswürdige Beendigung des Strafverfahrens ohne das Risiko einer Hauptverhandlung ansehen und dem/der Mandanten/in dieses auch so vermitteln. Vor allem dann, wenn eine solche Anregung schon vorab z.B. im Anschreiben zur Gewährung von Akteneinsicht von Seiten der Staatsanwaltschaft selbst gegeben wird, sollte diese Frage sorgfältig, jedoch in der Regel mit einer eigenen (positiven) Empfehlung, erörtert werden.
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Eine Verfahrenseinstellung nach § 153 StPO birgt für den/die Mandanten/in wenig bis überhaupt kein Risiko in sich, da diese nicht einmal die Feststellung der objektiven Verwirklichung des Tatbestandes des § 142 StGB impliziert, also Nichts zur Frage des strafbaren Verhaltens aussagt. Das Augenmerk des/der Mandanten/in ist insoweit auf den Konjunktiv im Gesetzestext zu lenken: Die Schuld „wäre“ als gering anzusehen, wenn sie denn überhaupt (bei Weiterführung des Verfahrens) nachgewiesen würde. Insbesondere sollte der/die Mandant/in darauf hingewiesen werden, dass ein mit hohem Eigeninteresse am Ausgang des Strafverfahrens beteiligter Unfallgegner bei einer Einstellung des Strafverfahrens nach §§ 153, 153a StPO – im Gegensatz zu einer solchen nach § 170 Abs. 2 StPO – keine Beschwerdemöglichkeit hat und, dass bei einer Einstellung mangels Tatverdacht nach § 170 Abs. 2 StPO jederzeit das Verfahren von der Staatsanwaltschaft wieder aufgenommen werden kann.[6] Allerdings verbleibt es oftmals nach einer Einstellung gemäß § 153 StPO – falls nicht zwischenzeitlich Verjährung eingetreten ist – bei der mit dem Vorwurf der Verkehrsunfallflucht regelmäßig verbundenen Verkehrsordnungswidrigkeit (z.B. Vorfahrtsverletzung, fehlerhafter Fahrsteifenwechsel), denn es gilt § 21 Abs. 2 OWiG (vgl. aber Rn. 94). Darauf ist der/die Mandant/in hinzuweisen.
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Die positive Argumentation der Verteidigung im Hinblick auf eine Einstellung nach § 153a StPO ist demgegenüber weitaus schwieriger, da diese Möglichkeit den/die Mandanten/in finanziell belastet, von ihm/ihr die Zahlung einer Geldauflage als Schuldeingeständnis gewertet wird und natürlich auch die Feststellung beinhaltet, dass der Tatbestand des § 142 StGB verwirklicht wurde, wenn auch „bei geringer Schuld“. Auch hier hilft oftmals der Hinweis auf den Gesetzestext, der vorsieht dass „die Schwere der Schuld nicht entgegensteht“. In der Beratung ist abzuwägen das Risiko einer eventuell ungünstigeren Entscheidung im Hauptverfahren (mit Gerichtstermin) gegen den finanziellen Nachteil einer Geldauflagenzahlung, verbunden mit der Feststellung eines – wenn auch geringen – Verschuldens. Eine kleine Entscheidungshilfe kann hier z.B. der Umstand sein, dass die mit dem Vorwurf der Verkehrsunfallflucht meist verbundene Verkehrsordnungswidrigkeit durch die nach § 153a StPO zu zahlende Geldauflage miterledigt (= eingestellt) ist, das ergibt sich aus § 153a Abs. 1 Satz 5 StPO. Der zum Unfall führende eventuelle Fahrfehler des/der Mandanten/in, eine Ordnungswidrigkeit, wird dann nämlich nicht mit einem gesonderten Bußgeld geahndet. Es werden auch keine hierfür im Bußgeldkatalog aufgeführten Punkte im Fahreignungsregister beim Kraftfahrt-Bundesamt („Verkehrssünderkartei“) in Flensburg eingetragen (siehe aber auch Rn. 100).
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Viel schwieriger ist es oft, die Zustimmung des/der Mandanten/in zu erhalten, wenn einige Staatsanwaltschaften oder einige Gerichte verlangen, dass der/die Mandant/in zur Erreichung einer Verfahrenseinstellung das eigene falsche Handeln doch einräumen muss. Nicht außer Acht gelassen werden darf hier die bei vielen Staatsanwälten und Richtern herrschende Grundeinstellung, dass nur der/die Mandant/in „in den Genuss der Wohltat einer Verfahrenseinstellung“ kommen soll, wenn eine gewisse Einsicht und Reue gezeigt wird. Dabei ist dem/der Mandant/in aufzuzeigen, dass oftmals das Angebot einer Einstellung des Strafverfahrens nur einmal (z.B. im Ermittlungsverfahren) erfolgt und bei unterlassener Zustimmung die Staatsanwaltschaft und/oder das Gericht die Strafsache dann durchentscheiden; denn wenn der/die Mandant/in meint, unschuldig zu sein, habe diese/r auch Anspruch auf ein (allerdings im Ergebnis oftmals nicht freisprechendes) Urteil!
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Bei der Beratung sollte der Verteidiger hier aber auch bedenken, „Verteidigen“ bedeutet nicht, eine/n uneinsichtige/n Mandanten/in notfalls zu seinem/ihrem „Glück“ zu zwingen! Die Überzeugungsarbeit ist also darauf gerichtet, Risiken deutlich zu machen und eine erfolgreiche Strategie zu entwickeln. Es reicht nicht nur, dass die Staatsanwaltschaft und das Gericht die von der Verteidigung aufgebotenen Beweismittel (z.B. Entlastungszeugen, Sachverständigen-Gutachten) berücksichtigen und gute juristische Argumentationen anhören oder lesen sollen; sie müssen hierdurch letztlich entweder überzeugt oder zumindest zu ernsthaften Zweifeln veranlasst werden.