Читать книгу Rückblende - Catherine Hall - Страница 10

Vier ELIZABETH WILLOUGHBYS TAGEBUCH

Оглавление

5. Dezember 1914

Unsere ersten Patienten sind gut untergebracht.

Es sieht ganz anders aus als bei meiner Pflegevorführung vor einigen Wochen. All die schönen Perserteppiche sind entfernt und durch ziemlich tristes khakifarbenes Linoleum ersetzt worden. Im Bankettsaal und im Musikzimmer wurden Bretter an den Wänden angebracht, um die Tapeten zu schützen, und die Vorhänge wurden abgenommen. Es ist viel praktischer, schätze ich, aber ich vermisse die phantastischen Drachen und die lebensgroßen chinesischen Figuren, die aussehen, als würden sie im Mondschein über die Wände spazieren.

Die Küche wurde in einen Operationssaal verwandelt. Nicht dass ich damit viel zu tun haben werde. Als wir uns zum Dienst meldeten, sagte Colonel MacLeod, unser kommandierender Offizier, dass alle medizinischen Behandlungen von britischen Ärzten und einigen Chirurgen vom Indian Medical Service durchgeführt werden würden, assistiert von indischen Ärzten und Medizinstudenten, die hier studierten, als der Krieg begann.

Uns Krankenschwestern, die Queen’s Nurses, erwähnte er mit keinem Wort. Nach einer Weile konnte ich mich nicht länger zurückhalten und hob die Hand, um nachzufragen. Der Colonel runzelte die Stirn und sagte, man habe beschlossen, dass Engländerinnen nicht in der Pflege tätig sein sollten. Ich wartete auf eine Erklärung, aber er nickte nur, als wäre es damit erledigt. Ich war nicht kühn genug, noch einmal nachzufragen, aber während er fortfuhr, das Krankenhausprotokoll zu erläutern, ging es mir nicht aus dem Kopf, und so folgte ich ihm hinterher in sein Büro.

Ich sagte ihm, dass es mir furchtbar leidtäte, aber dass ich nicht verstünde, was er gemeint habe, denn die Krankenpflege sei schließlich das, wofür wir ausgebildet worden seien. Er schaute mich unter seinen großen weißen Augenbrauen hinweg an und erwiderte, dass es sich nicht schicken würde. Als ich fragte, warum nicht, räusperte er sich umständlich und meinte dann, ich müsse doch verstehen, dass Indien eine unserer Kronkolonien sei und die Bevölkerung daher unter unserer Herrschaft stehe.

Ich sagte, ich wüsste nicht, was das damit zu tun habe, woraufhin er sich erneut räusperte und erklärte, dass die einheimische Bevölkerung in Indien nie von Engländerinnen gepflegt würde, weil sich ein so »vertraulicher Umgang« nicht zieme, und deshalb würden die Queen’s Nurses nur die Aufsicht führen und die Pfleger anhalten, die »höchsten Standards einzuhalten«.

Abschließend sagte er dann sehr bestimmt, wenn ich mit dieser Sachlage nicht glücklich sei, möge ich ihm das lieber gleich sagen, ehe die Patienten kämen.

»Ich … nein, ich bin glücklich«, erwiderte ich.

Das stimmte natürlich nicht. Ich ging schnell fort und war ziemlich verärgert. Es ist wirklich ein gehöriger Schlag. Ich verstehe einfach nicht, was daran unschicklich sein soll. Wie Papa immer sagt: Auf dem Operationstisch sind wir alle gleich. Wenn Robert nicht wäre, wäre ich versucht, in eines der anderen Krankenhäuser zu wechseln, wo ich wirklich von Nutzen sein könnte, aber ich möchte so gern etwas von seiner Welt erfahren, und deshalb beschloss ich, mir auf die Zunge zu beißen und das Beste daraus zu machen.

Heute Morgen bin ich zum Bahnhof gegangen, um unsere Patienten vom Lazarettzug abzuholen. Es war ein trostloser Tag, es regnete seit dem Morgengrauen, und die Straßen waren voller Schlamm, und es tat mir leid, dass dies ihr erster Eindruck von unserer Stadt sein würde, obwohl ich annehme, dass für diese armen Männer jeder Ort besser ist als der, wo sie gerade herkommen.

Zur Begrüßung hatte sich eine Schar wohlgesinnter Menschen eingefunden, die sich unter ihren Regenschirmen vor dem Bahnhofsausgang drängten. Als die ersten Krankenbahrenträger auftauchten, setzte ein Augenblick des Schweigens ein, ungeplant, aber von allen eingehalten – ein Zeichen des Respekts für die Tapferkeit der Soldaten und für das, was sie erlitten hatten. Dann folgten Jubel und Applaus, worüber ich mich gefreut habe, denn die Männer sind so weit weg von zu Hause und es ist schrecklich wichtig, dass sie sich willkommen fühlen.

Die Männer waren in einem furchtbaren Zustand. Mehr als die Hälfte von ihnen musste auf Bahren getragen werden, die anderen humpelten auf Krücken oder taumelten mühsam voran, die Arme um ihre Kameraden geschlungen. Sie sahen erschöpft aus, als wären sie am Ende einer sehr langen Reise angekommen, was natürlich auch der Fall war: eine endlose Reise über den Indischen Ozean, dann zum Kampf hinein in die Schützengräben in Nordfrankreich; dann, wenn verwundet, wieder hinaus in die Feldlazarette und dann in einen Zug und dann auf ein Schiff, um den Kanal zu überqueren, dann in einen weiteren Zug nach Brighton, Endstation der Strecke.

Es war ein seltsamer Anblick; sie sahen so – nun ja – sehr fremd aus. Der einzige Inder, den ich vor dem heutigen Tag je gesehen hatte, war Mowgli in dem Bilderbuch, das ich als Mädchen besaß, aber hier waren nun gut zwei Dutzend von ihnen, die langsam den Weg über den windgepeitschten Bahnsteig zurücklegten. Das Erste, was mir auffiel, waren viele ziemlich große Schnäuzer und Bärte, lang und schwarz, und dunkle Augen unter sorgfältig gewickelten Turbanen. Einige der Männer waren sehr groß und elegant in der Art, wie sie sich trotz ihrer Verletzungen hielten; andere waren klein, ohne Schnäuzer oder Bärte, und sahen furchtbar jung aus.

Wir brachten sie in Sanitätskraftwagen zum PAVILION, WO die Pracht ihrer Umgebung sie noch zerlumpter erscheinen ließ. Ich kann nun in aller Aufrichtigkeit sagen, dass ich den berüchtigten Schlamm der Westfront gesehen habe: blassbraune, klebrige Klumpen, die an ihren zerfetzten Uniformen und Stiefeln hafteten. Die Männer rochen dumpfig und nach altem Schweiß, ihre Finger waren schmutzig, die Nägel lang und verkrustet. Als ich sah, wie sie sich kratzten, vermutete ich Läuse. Die Aufwärter hatten schon in der Morgendämmerung begonnen, Wasser für ihr Bad zu erhitzen, und ich kann mir die Erleichterung vorstellen, die sie empfunden haben müssen, als sie sich hineingleiten ließen. Ihre Uniformen wurden in den hinteren Teil des Gebäudes gebracht und verbrannt.

Danach ging es darum, ihre Verletzungen so gut wie möglich zu versorgen, und dann brachten wir sie zu Bett, woraufhin sich Stille über den PAVILION senkte, so als ob wir alle, Patienten wie Personal, einen Moment der Ruhe brauchten.

Ich stand im Musikzimmer und schaute zu den außergewöhnlichen Kronleuchtern hinauf, die wie riesige umgedrehte Blumen aussehen, mit gemalten chinesischen Figuren auf jeder einzelnen Glasscheibe. Sie glitzern und funkeln wie magisch und hängen an einer Decke aus Tausenden von goldenen Blättern. Ich glaube, es ist wunderbar für die Patienten, im Bett zu liegen und zu ihnen hinaufzublicken.

Einer der indischen Ärzte sah, wie ich nach oben schaute. »Das sind Lotosblumen«, sagte er.

»Tatsächlich?«, erwiderte ich.

»Ja, sie sind sehr bedeutsam für uns.«

»Für uns?«

Er hüstelte ein wenig. »Inder.«

»Ah.«

»Sie stehen für Reinheit und Ehre.«

»Wie schön«, sagte ich. »Haben Sie –«

In diesem Augenblick stieß einer der Männer ein schreckliches Stöhnen aus, und ich eilte zu ihm. Als ich wieder aufblickte, war der Arzt verschwunden.

Ich könnte es nicht ertragen, wenn Robert so enden würde wie diese Männer hier. Auf dem Heimweg ging ich über die Strandpromenade, lehnte mich an das Geländer und schaute über den Kanal nach Frankreich hinüber, zu ihm hinüber, weniger als hundert Meilen entfernt. Ein starker Wind wehte vom Meer landeinwärts, und ich stemmte mich dagegen und atmete die salzige Feuchtigkeit ein. Plötzlich traf es mich, herbeigetragen vom Wind: ein fernes Grollen, gefolgt von einer Explosion, und ich begriff, dass ich die Kanonen des Schlachtfeldes hörte. Ich lauschte erneut auf das schreckliche krachende Geräusch und erschauderte, denn ich wusste, dass jede dieser Explosionen die sein konnte, die Roberts Leben ein Ende setzte.

Rückblende

Подняться наверх