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Eins

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Suzie, ich glaube, ich habe ein Problem.

Ich bin nicht mehr in Kabul. Ich bin auch nicht in London. Ich bin in Brighton.

Problem hin oder her, es liegt ein Trost darin, an der äußersten Spitze von England zu sein, an der Küste, dort, wo Land und Meer aufeinandertreffen. Ich könnte meine genaue Position in einer Sekunde auf der Landkarte finden, und nach all den Zeiten, in denen ich keine Ahnung hatte, wo ich war, wo ich irgendwo feststeckte, wo es dunkel war und hoffnungslos und gefährlich, ist das eine echte Erleichterung.

Ich sitze in einem dieser altmodischen Korbsessel – Loom Chair heißen sie, glaube ich – auf einem Balkon. Nun ja, es ist nicht wirklich ein Balkon, sondern eine dieser innenliegenden Veranden, die man in Seebädern findet, wie Gewächshäuser kleben sie an der Wand, im ersten Stock. Eine gulkhana nennen sie es in Afghanistan, ein Blumenzimmer für die Damen, in dem sie sitzen und die Wintersonne genießen können, obwohl Blumenzimmer ein großes Wort für so einen kleinen Raum ist, eben groß genug für einen Sessel und einen kleinen Glastisch und Pflanzen, jede Menge Pflanzen, überall, sie hängen von der Decke, stehen in Töpfen auf jeder freien Fläche, klettern am Fensterrahmen hoch. Fast könnte ich meinen, im Dschungel zu sein, aber nach allem, was geschehen ist, lasse ich es wohl lieber.

Ich kann das irrwitzige Geglitzer des Palace Pier sehen, das auf das Wasser fällt und vom tiefschwarzen Meer zurückgeworfen wird. Warte, ich öffne eben das Fenster, ich möchte die Seeluft riechen, auch wenn es draußen eisig kalt ist. – So, sie strömt herein, als ob die Flut sie in die Wohnung triebe. Ich höre die Wellen brechen, beständig und besänftigend, ruhig.

Ich brauche ein wenig Besänftigung. Ich fühle mich seltsam heute, wie immer, wenn ich zurückkehre, gefangen zwischen unterschiedlichen Welten. Heute Morgen, hoch in den Bergen, hörte ich den Ruf zum Gebet, während ich meine Sachen packte. Jetzt wummernde Musik und die Rufe junger Leute, die in der Stadt unterwegs sind.

Meine Taschen liegen in der Ecke, wo ich sie fallengelassen habe, als ich hier ankam. Ich habe noch nicht ausgepackt. Das hat dich immer verrückt gemacht – stimmt’s? –, wenn ich nach Hause zurückkam und mein Zeug wochenlang in der Ecke lag und ich immer nur das rausgeholt habe, was ich gerade brauchte. Aber auch Geschenke, immer, für dich – darin zumindest war ich gut.

Ich weiß, es hat nicht viel Sinn, zurückzudenken. Ich weiß, dass wir nicht zu dem, was wir einmal waren, zurückkehren können. Doch ich wünschte, ich könnte ins Bett kriechen und meine Arme um dich schlingen und ich wüsste, ich wäre zu Hause.

Ich bin jedoch nicht zu Hause, wo immer das sein mag. Erinnerst du dich an Edith, meine uralte fabelhafte Großtante? Dies hier ist ihre Wohnung, direkt an der Strandpromenade von Brighton. Oder besser gesagt, das war ihre Wohnung – jetzt ist es meine. Sie hat sie mir hinterlassen, als sie starb, heute vor zwei Wochen. Ich wusste nicht, dass Edith Krebs hatte; ich hatte nicht gemerkt, dass etwas nicht stimmte, als ich sie das letzte Mal sah, damals im März. Dafür könnte ich mich jetzt noch treten. Als der Anruf kam, war ich noch in Afghanistan. Ich schaffte es nicht mal rechtzeitig zur Beerdigung – es passierte einfach zu viel. Üble Sachen diesmal, Suze, wirklich üble Sachen, was bedeutete, dass ich nicht wegkonnte.

Ich habe Edith geliebt. Sie hat mir meinen ersten Fotoapparat geschenkt, da war ich acht, um Aufnahmen von den Tieren im Londoner Zoo zu machen. Sie hat mir Geschichten erzählt von den Elefanten, die sie als junges Mädchen in Indien gesehen hatte, alle in zeremoniellen Farben geschmückt, die Köpfe bunt bemalt und Howdahs auf dem Rücken. Ich leckte mein Eis ganz langsam, fasziniert, und beobachtete, wie ihre Armreifen beim Reden klimperten.

Es ist merkwürdig, ohne sie in der Wohnung zu sein – sie passte so gut zu ihr. Jedes Stück Meißener Porzellan, der Perserteppich auf dem Boden, die Jadevase auf dem Sandelholztisch – all diese Dinge haben eine Geschichte, und dort, inmitten all dieser Dinge, saß Edith immer in ihrem Sessel, bereit, mir diese Geschichten zu erzählen, während wir Kaffee tranken, der in winzigen Espressotassen serviert wurde, die sie 1968 in Rom gekauft hatte, in einem Laden gleich um die Ecke der Via Condotti.

Sie rauchte zwei Zigaretten am Tag, eine nach dem Mittagessen und eine am Abend zu ihrem ersten Whisky, den sie ihren chota peg nannte, im Gedenken an ihre Jahre in Indien. Jetzt tue ich das Gleiche – zum Gedenken an sie. Ich habe mir von dem zollfreien Johnnie Walker eingeschenkt und mir eine Marlboro angesteckt.

Auf Edith: Möge sie in ihrem nächsten Leben ebenso außergewöhnlich sein, wie sie in diesem war.

Der Alk und die Ziggis wirken nicht so wie sonst immer. Mein Geist ist aufgewühlt, dreht alles um und um. Gewöhnlich schalte ich das Radio ein, wenn ich irgendwo neu ankomme, um ein Gefühl dafür zu kriegen, was los ist. Ediths alter Radioapparat steht auf dem Sideboard, versehen mit Haftstreifen für Radio 4 und den World Service, aber ich lasse ihn aus. Ich möchte nicht wissen, was in der Welt los ist, zumindest im Augenblick nicht.

Ich habe immer damit zu tun, mich neu zu sortieren, wenn ich von einem Job zurückkomme, aber diesmal fühlt es sich anders an. Afghanistan ist nicht der schlimmste Ort, an dem ich gewesen bin … nein, vergiss es – Kriege zu vergleichen ist sinnlos. Was ich meine, ist, dass die Gewalt sich nicht direkt vor mir abspielte. Krieg in Sierra Leone oder im Kongo ist manisch; in Afghanistan ist er mehr wie eine chronische Depression. Ich musste mich nicht vor Scharfschützen wegducken und traf auch nicht auf bekiffte Kids mit wilden Augen und Kalaschnikows. Es gab keine Berge von Leichen, die unter der Sonne verrotteten, keine Bomben, die die ganze Nacht hindurch einschlugen. Aber unter der Oberfläche ahnte man, dass die Dinge köchelten, eine dreckige, gefährliche Suppe, die jeden Moment überkochen und einen siedend heißen Schlamassel anrichten konnte.

Sie kochte über. Sie richtete einen Schlamassel an, der noch nicht beseitigt wurde. Ich kann nicht aufhören, daran zu denken. Ich kriege es nicht aus dem Kopf.

Ich habe nach Ablenkung gesucht, habe herumgestöbert und versucht, mich davon abzuhalten, an all das zu denken. Auf einem der Bücherborde steht ein altes Holzkästchen, grob gezimmert und zwischen dem prachtvollen Porzellan und dem erlesenen Silber fehl am Platz. Ich erinnere mich nicht, es je zuvor gesehen zu haben. Vielleicht hat Edith es absichtlich für mich dort hingestellt.

Ich werde es öffnen, Suze. Schauen wir mal, was darin ist.

Gesagt, getan. Es riecht muffig, trocken, nach altem Papier und Tinte.

Ein brauner Umschlag ist herausgefallen, Fotos stecken darin, verblasste Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Ich lege sie auf dem Kaminvorleger aus.

Ein Gruppenbild: förmlich, Männer stehen vor einem indischen Palast, reichlich filigranes Dekor und ziselierte Säulen, Kuppeln, Türme und Minarette. Die Männer tragen Uniform und Turban, die langen Bärte sind sorgsam getrimmt. Sie gucken mit starrer Miene in die Kamera. Sie weisen Verletzungen auf: Beine in Gips, Arme in Schlingen. Manche haben überhaupt keine Beine oder Arme, bloß bandagierte Stumpen.

Eine Krankenstation: lange Reihen von akkurat gemachten Betten, in jedem sitzt aufrecht ein Soldat in weißem Pyjama und mit weißem Turban, passend zum Bettzeug.

Ein Operationssaal: eine Liege im Zentrum unter einer Deckenlampe, ein Waschtisch, Instrumente fein säuberlich ausgelegt, Flaschen mit Desinfektionsmittel auf einem Beistelltisch. Sieben Mitarbeiter in OP-Bekleidung. Allesamt Weiße, bis auf einen, der aussieht, als sei er Inder, wie die Patienten. Allesamt männlich, bis auf eine Frau: eine Krankenschwester.

Am unteren Rand dieses Fotos steht etwas geschrieben:

PAVILION HOSPITAL, BRIGHTON 1915.

In dem Kästchen befindet sich noch etwas – ein kleines Buch, in Leder gebunden, die Seiten gefüllt mit einer engen schwarzen Schrift.

Ich verspüre ein kleines Prickeln der Aufregung – wie immer, wenn mir eine Story begegnet.

Rückblende

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