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Sechs ELIZABETH WILLOUGHBYS TAGEBUCH

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15. Dezember 1914

Meine Güte, bin ich erschöpft. Ich schlafe fast ein, während ich dies im Bett schreibe, Kissen im Rücken, das Tagebuch auf den Knien balancierend.

Die nächste Ladung (was für ein schreckliches Wort, um Menschen zu beschreiben, als wären sie eine Postzustellung, aber ich bin zu müde, um mir ein anderes zu überlegen) ist eingetroffen, mehr als dreihundert Patienten, noch übler zugerichtet als die vorherigen. Einige von ihnen trugen tropische Uniformen: und das im Dezember, unglaublich! Andere hatten nicht einmal Stiefel, ihre Füße waren so stark geschwollen, dass sie Sandalen trugen, die bloß aus einer Sohle und Leinenstreifen bestanden. Wir wickelten sie sofort in Decken und brachten sie so schnell wie möglich zum PAVILION.

Wieder hatte sich zu ihrer Begrüßung eine Menschenmenge am Bahnhof eingefunden, wieder war es ein trüber Tag. Die Inder scheinen die Phantasie der Menschen wirklich gefangenzunehmen. Vor allem die Damen von Brighton sind gefesselt von ihnen. Jeden Tag warten sie in Scharen an den Eingängen des PAVILION-Geländes, um einen Blick auf die »Dunkelhäutigen Krieger«, wie die Gazette sie genannt hat, zu erhaschen. Ich sage ›Damen‹, aber ich glaube nicht, dass Colonel MacLeod sie für Damen hält. Heute gab er den Befehl, alle Eingangspforten mit Brettern zu vernageln und Sichtblenden aus Holz entlang des Zaunes anzubringen, damit niemand mehr hineinschauen kann. Einige von ihnen kletterten trotzdem hoch, hockten sich oben auf den Zaun und spähten hinein, als wären die Patienten exotische Tiere im Zoo.

Die Männer scheint das nicht sonderlich zu stören. Sie verlassen den PAVILION nur zum Beten. Die Sikhs gehen in ihren Tempel, der ein Zelt auf dem Gelände ist, und die Mohammedaner in ihren, gleich nebenan. Fünfmal am Tag suchen diejenigen, die in der Lage dazu sind, ihr Zelt auf und vollziehen ihre jeweiligen Rituale. Es muss furchtbar kalt sein, aber sie gehen dennoch hinaus und beschweren sich nie auch nur im Geringsten.

Ich höre mir gerne die mohammedanischen Gesänge an, die ich sehr schön finde. Heute Morgen trat der Arzt von neulich, der mir von den Lotosblumen erzählt hat, auf mich zu, als ich draußen vor dem Eingang zu ihrem Zelt stand.

»Was singen sie?«, fragte ich.

»Allahu-akbar. Das bedeutet: ›Gott ist groß‹.«

»Wollen Sie nicht mitsingen?«

»Ich bin Hindu.«

Es war mir peinlich, und ich entschuldigte mich. Wie es scheint, bringe ich diese Dinge immer durcheinander. Es ist so schwierig zu wissen, wer was ist, und ich bin mir doch gewahr, dass es furchtbar wichtig ist. Alles hier ist geteilt, von den Stationen für Patienten aus verschiedenen Stämmen oder Kasten, über die Küchen – neun insgesamt –, die Toiletten und Bäder bis hin zum Besteck und den Wasserhähnen! Es ist wirklich schrecklich kompliziert und schwer zu merken, egal wie oft sie es einem auch erklären.

Ein Lächeln huschte über seine Lippen, und ich fragte mich, ob er mich für dumm hielt.

»Alle geben sich enorm viel Mühe.« Ich fühlte mich ein wenig in die Enge getrieben. »Alles richtig zu machen, meine ich. Um niemanden zu kränken.«

»In der Tat.«

»Ich bin übrigens Schwester Willoughby«, sagte ich eilig. »Elizabeth Willoughby.«

»Und ich bin Hari Mitra. Fast Arzt, aber noch nicht ganz.«

Die Leiden der Patienten sind vielfältig; manche verursacht durch Schüsse und Granaten, andere einfach dadurch, dass sie so lange in den winterlichen Schützengräben festgesessen haben. Es gibt einen schrecklichen Zustand namens Grabenfuß, der durch das Stehen in geschlossenem Schuhwerk in kaltem Wasser und Schlamm entsteht. Es beginnt mit Frostbeulen, dann runzelt sich die Haut der Füße wie nach einem langen Bad, sie fängt an zu faulen, und die Zehen werden fühllos. Schließlich wird der gesamte Fuß taub, und man kann nicht mehr gehen. Viele unserer Patienten hatten Amputationen, bevor sie zu uns kamen, und haben einen Fuß oder sogar den Unterschenkel bis zum Knie verloren.

Es stehen immer noch viele Operationen aus. Heute Nachmittag war ein Mann namens Mohan Ram an der Reihe, der schreckliche Wunden an Bauch und Brust aufwies. Ein und derselbe Granatsplitter durchschlug beide Stellen und durchbohrte seine Eingeweide. Die französischen Chirurgen hatten es geschafft, ihm das Leben zu retten, aber jetzt war die Wunde infiziert. Ein schrecklicher Geruch drang durch seine Verbände – der Gestank von totem und verfaulendem Fleisch.

Major Williams, unser zuständiger Offizier, stand an seinem Bett und sprach mit ihm auf Hindustani. Beide schienen ziemlich aufgebracht zu sein. Mr. Mitra stand in der Nähe und sagte mir, dass Major Williams versuche, Mohan Ram zu überreden, uns die Wunden unter Narkose untersuchen zu lassen und sie dann zu reinigen und neu zu verbinden, aber Mohan Ram sehe die Dinge anders: Er finde, wir sollten dem Schicksal seinen Lauf lassen, und wenn es an der Zeit für ihn sei zu sterben, dann solle es so sein. Nach einem Moment fügte er hinzu, dass Mohan Ram wahrscheinlich auch Angst habe, aufgeschnitten zu werden, denn er stamme aus einem winzigen Dorf im Himalaya und verstehe die Wirkungsweise der modernen Medizin nicht.

Der Streit ging noch einige Zeit weiter. Schließlich wandte sich Major Williams an Mr. Mitra und fragte ihn, ob dieser irgendetwas tun könne, um Mohan Ram umzustimmen.

Mr. Mitra dachte einen Augenblick nach und trat dann nah an Mohan Rams Bett. Er beugte sich hinunter und sprach mit leiser Stimme zu ihm. Mohan Ram runzelte die Stirn und antwortete dann. Mr. Mitra sagte wieder etwas. Eine kurze Pause folgte, und dann wiegte Mohan Ram den Kopf.

Danach folgte hektische Betriebsamkeit. Die Pfleger kamen, um ihn in den OP zu rollen. Beeindruckt wandte ich mich an Mr. Mitra.

»Wie haben Sie es geschafft, ihn zu überreden?«

»Izzat.«

»Izzat?«

Es sei schwer zu erklären, sagte er. Die beste Übersetzung, die ihm einfalle, sei »Ehre«, aber es bedeute viel mehr als das: Ansehen, Reputation, das Gesicht wahren, Prestige. Es war einer der Hauptgründe, warum die Männer zugestimmt hatten, für Großbritannien zu kämpfen, ebenso wichtig wie das Geld, das sie dafür bekamen, denn es war glorreich, in der Schlacht zu sterben. Wenn man so kämpfte, dass man sein izzat mehrte, erklärte er, würden die Menschen auch nach seinem Tod noch von einem Mann sprechen und sich seiner erinnern.

Die Kehrseite der Medaille war jedoch, dass es einem, wenn man durch sein Verhalten sein izzat beschädigte – durch Fahnenflucht oder Feigheit oder Illoyalität –, schreckliche Schande einbrachte. Er hatte Mohan Ram einfach nur darauf hingewiesen, dass seine Angst vor einer Operation genau das bewirken würde, und so hatte dieser seine Meinung geändert, denn in den Augen eines anderen an izzat zu verlieren, bedeutete bereits, es verloren zu haben, und wenn Mr. Mitra auch nur dachte, dass es so war, reichte das schon.

Ich hätte Mr. Mitra gerne näher dazu befragt, aber wir waren beim Operationssaal angekommen. Ich beschloss, hineinzugehen und zuzuschauen.

Major Williams schüttelte den Kopf, als die Verbände abgenommen wurden.

»Ich dachte, der Burenkrieg war schon schlimm«, sagte er leise. »Diese multiplen Wunden sind furchtbar. Dieser Granatbeschuss ist eine ganz neue Art, Schaden anzurichten, und das gefällt mir nicht – das gefällt mir ganz und gar nicht.«

Ich betrachtete den Patienten, der auf dem Operationstisch lag, und die chirurgischen Instrumente, fein säuberlich auf einem Tuch ausgebreitet, und hatte eine schreckliche Vision des Operationssaals, als er noch die Küche des ROYAL PAVILION war: von ganzen Schweinen, die auf dem Tisch lagen, bereit, am Spieß gebraten zu werden, oder ganze Rinderkeulen, die darauf warteten, zerlegt zu werden. Ich schluckte schwer, um mich zu fassen, und wartete auf den ersten Schnitt.

Major Williams säuberte die Wunden, denen der Lazarettbrand furchtbar zugesetzt hatte. Wir versorgten sie mit dem neuen Verbandsmaterial aus Torfmoos. Es war eine befremdliche Kombination: ein indischer Patient, der in der Küche eines englischen Königs lag, verwundet in Frankreich und mit schottischem Moos versorgt. Plötzlich erschien die Welt sehr klein.

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