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Fünf

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Ich komme mir ein bisschen lächerlich vor, Suze. Mir scheint, als hätte ich zu früh verkündet, dass es mir gut geht. Es war ein herrlicher Morgen, so klar, dass ich vom Fenster aus fast bis nach Frankreich gucken konnte. Die Leute lächelten, während sie die Strandpromenade entlangspazierten; Kinder spielten auf der Minigolfanlage, Hunde jagten am Strand Stöckchen nach, ein Schwarm Kanuten hüpfte auf den Wellen. Sogar die Vögel amüsierten sich, sie kreisten hoch am Himmel und krächzten laut, als ob sie mitreden wollten. Ich wusste, dass ich raus musste – die Lebensmittel, die ich in dem Laden am Flughafen gekauft hatte, waren alle, und ich war hungrig, richtig hungrig zum ersten Mal seit Wochen. Ich musste bloß meinen Mantel anziehen und zur Tür hinausgehen, aber ich konnte nicht.

Und weißt du, warum nicht? Weil ich Angst hatte.

Ich weiß, es ergibt keinen Sinn: Josephine Sinclair, preisgekrönte Kriegsfotografin, unfähig, das Haus zu verlassen? Ich habe die letzten fünfzehn Jahre damit verbracht, die schlimmsten Orte der Welt aufzusuchen, Orte, wo Angst zu haben heißt, am Leben zu bleiben, wo Angst die einzige Reaktion ist, die Sinn ergibt. Wenn ich dort bin, kann ich es ertragen. Ich bin an Scharfschützen vorbeigerannt, tief geduckt, um nicht getroffen zu werden. Ich habe in Schützengräben neben Soldaten geschlafen, ohne zu wissen, ob wir die Nacht überleben würden. Ich bin mit Minen übersäte Straßen entlanggegangen, Schritt für behutsamen Schritt, und habe zu Gott gebetet oder welch höhere Macht auch immer da draußen sein mag, dass ich keine auslöse. Jedes Mal ermesse ich die Angst, bezwinge sie, damit ich funktionieren kann. Aber heute – ein absolut wunderschöner Tag in Brighton – gelang mir das nicht.

Ich versuchte, rational zu sein, die Risiken abzuwägen, Szenarien durchzugehen, mir selbst zu versichern, dass sie nicht eintreten würden, und mich daran zu erinnern, was ich in all den Kursen gelernt hatte, zu denen mich die Bildagentur geschickt hatte: ›Sicherheitstraining‹, ›Berichterstattung aus Kriegs- und Krisengebieten‹, ›In Gefangenschaft geraten‹. Das Problem ist, dass es dabei immer darum ging, auf das echte Leben zu reagieren, in dem es wirklich etwas gab, wovor man sich fürchten musste. Niemand hat mir je gesagt, was ich tun soll, wenn das alles nur in meinem Kopf existiert.

Ich brauchte eine Stunde, um mich zu beruhigen und aus dem Haus zu treten, und als ich die Tür hinter mir schloss, war ich immer noch in Alarmbereitschaft, meine Sinne geschärft. Ich hielt mich dicht an den Häusern, bewegte mich langsam und schaute so weit wie möglich voraus, blieb auf der Hut, schätzte die Risiken ein. Natürlich gab es keine. Brighton ging seinen Geschäften nach, Möwen kreischten, Motoren heulten auf, Menschen gingen die Gehwege entlang. Hunde zerrten an ihren Leinen, schnüffelten an Laternenpfählen, strebten auf gepflegte Grünanlagen inmitten von Plätzen zu. Er ist schön, dieser Teil von Brighton, Kemptown, fern vom Stadtzentrum, nah am Yachthafen. Innerhalb von fünf Minuten kam ich an einer kleinen Buchhandlung, einigen Pubs, einer schicken Bäckerei und einem teuer aussehenden Feinkostgeschäft vorbei.

Die St. James’s Street war schäbiger, gesäumt von Billigläden, Sozialkaufhäusern, einem Buchmacher und einem Laden, in dem man ohne Bankkonto am Zahltag ausgestellte Schecks einlösen konnte. Die schmalen Straßen, die hinunter zur Strandpromenade führten, waren gesäumt von altmodischen B&Bs; Schilder, die »Zimmer frei« verkündeten, standen in den mit Tüllgardinen versehenen Fenstern. Es war elf Uhr vormittags, Zeit des Auscheckens, und die Gäste kamen herausgestolpert und blinzelten in die Sonne.

Der Supermarkt war am Ende der St. James’s Street. Ich hatte mir die Lage gemerkt, als ich mit dem Taxi angekommen war. Macht der Gewohnheit, Suze, das Kartieren von unbekanntem Terrain.

In einem Kriegsgebiet ist Essen Treibstoff, eine funktionale Sache. Wenn man an der Front ist, ist es normalerweise kalt und mitnehmbar, etwas, das man in die Tasche stecken kann, um es hervorzuholen, wenn man es braucht. Müsliriegel, Fertiggerichte, Schmelzkäseecken. Es spielt eine große Rolle und gar keine – bei Lebensmittelknappheit nimmt man, was man kriegen kann, aber eine gute Fundsache wird mehr geschätzt als alles andere: ein winziges Stück Schokolade, das man im letzten Winkel einer Rucksacktasche findet, oder das Tütchen Nüsse, das man in Heathrow gekauft und vergessen hatte.

Weißt du noch, wie ich immer in den Supermarkt gegangen bin, wenn ich zurückkam? Ich wachte früh auf, zu aufgedreht zum Schlafen, also standen wir auf und frühstückten, dann gingst du in dein Atelier und ich zog los, um mir die beruhigenden Auslagen von Obst und Gemüse anzuschauen. Bunte Packungen, alle vor Ablauf ihres Haltbarkeitsdatums, verlockende Snacks. Das Beste war, dass ich sie ohne menschlichen Kontakt einfach so nehmen konnte. Ich schob meinen Wagen durch die Gänge und legte Waren hinein ohne Feilschen, ohne ein Wort zu wechseln, abgesehen von einem Hallo zu dem Menschen an der Kasse. Ich weiß, heutzutage ist es cool, in kleine Läden zu gehen, auf Bauernmärkte, die LadeninhaberInnen mit Namen zu kennen, aber wenn ich von einer Reise zurückkomme, will ich Anonymität, keine Verbindung knüpfen.

Ich betrat den Supermarkt, nahm mir einen Korb und schlenderte umher, wählte Äpfel aus, ein paar Birnen, ein paar Weintrauben, eine Gurke, Brunnenkresse. Ich wollte frische Sachen, Salat, den ich essen konnte, ohne mich zu fragen, ob ich davon krank werden würde. Als ich an der Käsetheke verweilte und versuchte, mich zwischen einem Brie und einem verlockenden Wensleydale zu entscheiden, begann ich mich besser zu fühlen. Ich würde mir ein schönes Abendessen gönnen, etwas Gesundes, und es mit Wasser statt mit Whisky runterspülen.

Pasta, Tomaten, Mozzarella; einen kleinen Topf Basilikum, den ich in die gulkhana stellen würde. Ich summte vor mich hin, während ich alles in den Korb legte und dem Duft von frischgebackenem Brot nachschnupperte. Ich fügte ein Schokoladentörtchen hinzu, nahm eine Flasche Orangensaft aus dem Regal.

Es lief alles gut, bis ich die Fleischtheke erblickte, mit ihren Fleischbatzen, die kalt und blutig dalagen, marmoriertes Rindfleisch, Rippen, die aus einem Stück Lammbrust ragten. Glitschige Leber, bauchige Nieren, ausgeweidete Organe. Ich hörte auf zu summen. Jetzt kam mein Atem in kleinen Japsern heraus.

Plötzlich waren zu viele Menschen in dem Laden, zu viel Farbe in den Regalen, zu viel Licht, zu viel von allem. Eine Lautsprecheransage ertönte, irgendetwas war in Gang 4 verschüttet worden, und ich ließ meinen Korb fallen, hielt mir die Ohren zu, meinte Männer zu hören, die in Lautsprecher schrien, Befehle gaben, Drohungen ausstießen.

Ich ließ meinen Korb, wo er war, und rannte zur Tür hinaus, um mich irgendwo zu verstecken. Die Straße war voller Leute, die zur Mittagspause aus ihren Büros kamen. Ich lehnte mich gegen die Wand neben dem Supermarkt, mein Herz hämmerte, und ich versuchte, mich aufrecht zu halten, weil ich wusste, dass mir jeden Moment schlecht werden würde.

Ich versuchte, mich zu beruhigen, es würde nichts Schlimmes passieren, ich befand mich auf einer ganz gewöhnlichen Straße in einer ganz gewöhnlichen englischen Stadt. Ich versuchte, langsam zu atmen, und zählte beim Ausatmen bis zehn.

Eine Gruppe junger Frauen kam aus einer Seitenstraße; sie trugen Stirnbänder mit Hörnern, hauchdünne Feenflügel, enge T-Shirts mit dem Aufdruck »Cazs letzte Eskapade« auf dem Rücken. Caz war ganz in Pink gekleidet, mit einem großen L-Schild für »Learner« auf der Brust. Sie sahen aus wie ein Schwarm betrunkener Schmetterlinge, deren Flügel im Wind flappten, und ich wandte mich panisch ab, um ja nicht ihre Aufmerksamkeit zu erregen.

Eine von ihnen bemerkte mich trotzdem. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte sie, und ich nickte. Ich wollte nur, dass sie ging.

»Tja, wenn Sie meinen«, erwiderte sie.

Als sie an mir vorbeizogen, begann ich zu würgen. Normalerweise übergebe ich mich nicht in der Öffentlichkeit, nicht mehr. Ich habe mir antrainiert, der Übelkeit nicht nachzugeben, egal, was sich vor meinen Augen abspielt. Ich habe gelernt, meine Kamera zu heben und vor mich zu halten und einfach das Foto zu machen; ich habe gelernt, alles einzuhalten, bis ich allein bin, in meinem Hotelzimmer oder auf einer Toilette, irgendwo, wo ein Schloss an der Tür ist. Gedemütigt machte ich mich auf den Rückweg die St. James’s Street entlang, langsam, mein Bauch leer und schmerzend. Die Panik war einem dumpfen Kopfschmerz gewichen. Ich kehrte zu dem noblen Feinkostladen in der Nähe der Wohnung zurück und kaufte Brot und Suppe, einen Pint Milch und Kaffee. Wieder drinnen, als ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, stand ich einen Moment da und lauschte der Stille, froh, allein zu sein.

Rückblende

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